Читать книгу Vikings - Vergangene Zeiten - Katja Montejano - Страница 5
Prolog
ОглавлениеFlorenz – Gegenwart
»Willst du leben oder sterben?«, fragte eine tiefe, raue Stimme. Aurora, die als einzige Patientin im stickigen Krankenhauszimmer lag, schlug die Augen auf und registrierte, wie das Dämmerlicht ihrer Nachttischlampe seltsam flackerte. Die Schmerzen in ihrem Körper waren kaum auszuhalten. Jede kleinste Bewegung war eine Qual.
»Aurora, hörst du mich? Wach auf, wir haben nicht viel Zeit.«
»Wer sind Sie?«, flüsterte Aurora schlaftrunken und hörte ein metallenes Rasseln. Auf einmal trat eine Gestalt mit unklaren Umrissen in ihr vernebeltes Blickfeld. Wer zum Henker war das? Seit Wochen hatte sie niemand mehr besucht, und jetzt musste es mitten in der Nacht sein?
»Ich bin der Hütchenmann, aber das ist im Moment nicht so wichtig. Wir müssen dringend reden. Meine Zeit ist begrenzt«, erklärte der Unbekannte.
Aurora rieb sich die Augen. Fassungslos starrte sie auf den hageren Mann im dunklen Anzug. Die goldenen Manschettenknöpfe hatten die Form von Totenköpfen, und seine silberweißen Haare hatte er zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug ein anthrazitschwarzes Hemd mit einer orangefarbenen, gemusterten Krawatte, auf der ein paar schwarze Teufelchen mit Mistgabeln tanzten. Ein seltsamer Geruch drang in Auroras Nase. Eine Mischung aus süßem Tabak und Thymian. Angeekelt registrierte sie, wie der Fremde in seiner geschwollenen, übergroßen Warzennase bohrte, als hätte sich eine Spinne darin verkrochen, die er herausziehen wollte. Aurora verzog angewidert eine Grimasse. Igitt! Was machte der Kerl da bloß? Ihr fiel auf, dass an seiner Stirn ein blutverschmiertes Pflaster herunterhing, das eine tiefe Schramme offenbarte. Anscheinend störte ihn das weniger als der Dreck in seiner Vogelnase. Die ebenfalls geschwollenen, blau umrandeten Augen des Mannes waren schwarz und schienen keine Iris zu haben. Sein rechter Arm lag in einer Schlinge. Der Hütchenmann stand neben dem Beistelltisch, wippte mit dem Fuß auf und ab und trank Auroras Kamillentee in einem Zuge aus. Dann warf er die Tasse in die Luft. Es war, als würde sich die Zeit in Slowmotion ausdehnen. Die Porzellantasse landete in Zeitlupe auf dem Boden, ohne zu zerbrechen.
»Verflucht noch mal! Wer zum Teufel sind Sie? Ein Patient? Hatten Sie einen Unfall, oder wurden Sie etwa verprügelt?« Aurora suchte nach dem Dosierknopf für das Morphium. Das Einstichloch der Kanüle in ihrem Arm schmerzte genau so wie ihr gesamter Körper.
»Ähm, ich würde es als Arbeitsunfall abhaken. Mein Job ist kompliziert und gefährlich. Da passieren oft unvorhersehbare Dinge, die man ausbügeln muss. Einen richtigen Namen, so wie mein Onkel, der Todesengel Aszrael, habe ich nicht. Nenn mich Magier oder Hütchenmann. Wisse, dass ich über Fähigkeiten verfüge, die du dir nicht mal in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst.« Er räusperte sich und kräuselte die Lippen. »Kurz gesagt, ich bin kein Engel und will nicht so genannt werden. Was ich bin, spielt für dich keine Rolle, denn ich bin nur hier, um dir zu helfen. Hör zu, wir haben nur ein paar Minuten Zeit. Also fangen wir doch gleich an.« Er fischte drei goldene Hütchen aus seinem metallenen Koffer und reihte diese auf dem Beistelltisch auf.
»Du hast Darmkrebs im Endstadium, richtig?« Seine Stimme klang jetzt so monoton, als würde er ihr den Wetterbericht vorlesen.
»Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Bitte verschwinden Sie – oder ich rufe die Krankenschwester … oder am besten gleich die Polizei.« Sie langte nach dem Rufknopf, der neben ihrem Kissen lag.
»Oh, das ist doch nicht nötig, meine Liebe. Du bist ja selber Polizistin, oder? Ach, wie unachtsam von mir, bitte entschuldige die Wortwahl: Du WARST eine.« Der Hütchenmann nahm den Zigarillo aus dem Mund und schnalzte mit der Zunge. Dabei entstand ein unerträgliches Geräusch, wie das Quietschen von Kreide auf einer Tafel.
»Hören Sie mit Ihrem blöden Geschwafel auf und verschwinden Sie von hier. Das ist meine letzte Warnung!«
»Und was, wenn ich dich heilen kann? Möchtest du weiterhin wie ein Morphium-Junkie in diesem Bett liegen, umgeben von Desinfektionsmittel, arroganten Pflegerinnen, Krankheit und Tod? Ich weiß, dass du dich Tag für Tag nach dem metallischen Geschmack deiner Dienstwaffe in deinem Mund sehnst, um all dem endlich ein Ende zu setzen, nicht wahr? Oh, ich weiß alles über dich, meine Liebe. Leider warst du damals in deinem Wohnzimmer zu feige, um abzudrücken. Tja, dein Pech. Aber hey, kein Grund zum Verzweifeln! Ich bin die Lösung für dein Problem – die allerletzte Lösung! – und ich bin hier, bei dir. Du kämpfst einsam gegen dein Schicksal an, und so wie ich das sehe, frisst dich diese Einsamkeit innerlich auf, auch wenn du das nie zugeben würdest, nicht wahr?« Er räusperte sich, steckte sich den roten Zigarillo in den Mund und schenkte ihr ein schiefes Grinsen. Aurora hätte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt, aber sie hatte kaum noch Kraft zum Atmen. Und wenn er ihr wirklich helfen konnte?
Der Hütchenmann kratzte sich am Kinn und fuhr fort: »Dann fassen wir mal zusammen: Dein fieser Ex-Mann Nico hat dich im Krankenhaus nicht ein einziges Mal besucht. Ah sorry, klar doch! Er vögelt ja jetzt mit Vergnügen deine ehemalige beste Freundin Elena und schwängert sie sogar.«
Er pfiff durch die Zähne und lächelte. »Babys sind echt putzig, findest du nicht? Den ganzen Tag sind sie mit Essen, Trinken, Scheißen, Furzen und Schreien beschäftigt. Ein solch kleines Wesen zu sein ist auch ein harter Job, glaube mir. Ich weiß, wie sehr du dir Kinder von ihm gewünscht hast, aber leider hat er sich lieber mit deiner Elena vergnügt und fortgepflanzt, während du dich in deinem Schneckenhaus voller Selbstmitleid verkrochen hast. Tja, und was ist mit deinen Arbeitskollegen? Genau! Sie haben sich längst verdrückt, dich vergessen, so als hättest du nie mit ihnen gearbeitet oder gar existiert. Somit bin nur noch ich für dich da!«
»Hören Sie sofort auf damit, oder ich schwöre, ich …«
»Oder was? Wirst du mir das Genick brechen oder mich erschießen? Wie denn? Hey, wach auf, Signorina! Im Ernst, schau dich doch mal an. Du weißt es noch nicht, aber in genau sechs Stunden, siebenundvierzig Minuten und acht Sekunden wirst du sterben, meine Liebe, also machen wir schnell, okay?«
»Was wollen Sie von mir, Sie verfluchter Schweinehund?« Aurora drückte verzweifelt auf den Dosierknopf für das Morphium. Die Schmerzen waren die Hölle.
»Nein, Bella, die Frage lautet: Was willst du von mir? Denn in deiner jetzigen, verkorksten Situation bin ich dein einziger Ausweg. Also sei etwas freundlicher zu mir, okay?«
Aurora rieb sich nochmals fest die Augen. Hoffte, dass dieser Kerl verschwinden würde, dass das alles nur ein Traum war. Vergeblich. »Es ist das Morphium«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich halluziniere, der Spinner da ist nicht echt, er existiert nur in meinem blöden Kopf. Hütchenmann … so was von bescheuert …«
»Hey, ich bin real! Schau hierher, meine Liebe. Ich habe eine kleine Überraschung für dich!«
Aurora sah, wie die drei goldenen Zylinderhütchen auf einmal in der Luft schwebten. Unter jedem Hütchen strahlte ein gleißendes, hellblaues Licht.
»Was zum Teufel machen Sie da – und was ist das?«
»Später. Beantworte mir zuerst eine Frage: Wie war dein bisheriges Leben?«
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ehrlich? Naja, es war einfach grandios! Toll, echt toll, aber ich dachte, Sie wüssten ja schon alles über mich, oder etwa nicht? Sagen Sie mir endlich, was dieses Theater hier soll.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Nun gut, ich verstehe deine Verwirrung. Deshalb helfe ich dir etwas auf die Sprünge.« Er kratzte sich kurz am Hintern, presste die Lippen zusammen, als würde er sich soeben einen Furz verkneifen. »Dein jetziges Leben war die Hölle. Du hast dich schon als Kind oft einsam und nicht geliebt gefühlt. Kein Wunder. Vater abgehauen. Rabenmutter eine psychotische Nutte. Und beide sind dann früh über den Jordan gegangen. Sie sind so richtig tief abgesoffen, dafür habe ich gesorgt. War ja nicht weiter schlimm, denn die beiden haben sich ohnehin einen Dreck um dich geschert. Du warst für beide eine Belastung, und deine Mama hat dich schwer misshandelt. Also kein großer Verlust, oder? Und danach? Weder die Arbeit, der Alkohol noch die Schlaftabletten, die Eiscrèmes oder sonst was konnten deine innere Leere nach deiner gescheiterten Ehe füllen. Sobald dir eine Person zu nahekommt, vertreibst du sie, egal ob Frau oder Mann. Ich, meine Liebe, bin der Einzige, der dich mag, ja sogar auf meine perverse Art liebt.« Er lächelte sie schief an und entblößte dabei seine spitzen, gelben Zähne. »Dein Temperament, dein Mut, dein Beschützerinstinkt, dein Gerechtigkeitssinn, deine verborgene Zerbrechlichkeit und nicht zu vergessen deine Art zu fluchen, sind einfach klasse! Du hast es verdient zu leben, Aurora. Wie dein Name schon sagt – ich wünsche mir, dass du noch viele Morgenröten erlebst. Deshalb erhältst du eine zweite Chance, irgendwo ganz neu anzufangen. Na, wie klingt das in deinen Ohren?« Er zwinkerte ihr zu. Dann linste er auf seine goldene Rolex, hob die Augenbrauen und tippte mit dem Finger auf das Glas. »So ein Mist! Ich habe zu viel gequatscht. Wir haben keine Zeit mehr!«
»Was haben Sie mit diesem Licht und den Dingern da vor?« Aurora streckte die Hand aus. Sie wollte einen dieser schimmernden Lichtstrahlen berühren, aber der Hütchenmann packte blitzschnell ihr Handgelenk.
»Nein!«, brüllte er sie an. »Wage es nicht, eines von den Lichtern oder Hütchen anzufassen. Wenn du das tust, wirst du bei lebendigem Leib verbrennen. Also hör mir zu: Deine Uhr tickt, und in ein paar Minuten werden dich Wellen von Schmerzschüben erfassen, die unerträglich sind. Dein Ende naht.«
»Meine Uhr tickt schon lange, Blödmann – oder meinen Sie etwa, dass ich zum Spaß an dieses Bett gefesselt bin, hä? Wenn Sie mir irgendwie helfen wollen, dann hören Sie mit Ihrem verfluchten Gelaber auf und unternehmen Sie endlich etwas! Und …« Ein Hustenanfall unterbrach ihren Satz. Aurora hatte das Gefühl, dass ihre Lungen jeden Augenblick platzen würden. Als sie sich wieder erholt hatte, drückte der Mann ihre Hand, schüttelte den Kopf und grinste schief.
»Das gefällt mir so an dir, Aurora. Du hast dieses wunderbare Feuer in dir. Sogar am Ende deiner Tage sprüht es aus dir heraus. Wow! Ich freue mich, dir folgenden Deal anbieten zu können.« Er nahm den Zigarillo aus dem Mund, schnalzte wieder grässlich mit der Zunge und zerquetschte den Tabak in der Hand.
»Wie bitte? Sie bieten mir einen Deal an?«
»Jetzt sei mal still und hör mir einfach zu. Oder hast du etwas Besseres zu tun, außer schlafen, in die Aluschale pissen, scheissen, dich selbst bemitleiden, weinen, jammern und Morphium konsumieren?«
»Hören Sie sofort auf damit und tun Sie, was Sie nicht lassen können! Es ist mir scheißegal, Sie verdammter Engel – oder Sie Monster! Je eher wir den Quatsch hier hinter uns bringen, desto besser.« Nach der Fluchtirade knirschte sie vor Wut mit den Zähnen und schloss die Augen. Ihr fehlte die Kraft, noch länger mit diesem fremden Mann zu diskutieren.
»Du hast recht. Dann los!« Er deutete auf den Beistelltisch. »Unter jedem dieser Hütchen befindet sich die Seele eines deiner früheren Leben in einer anderen Zeitepoche.«
Aurora hob die Augenbrauen. Der Zweifel stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Ja, du hast mich richtig verstanden. Zeitepoche. Nur in einem dieser Leben lebst du länger als ein Jahr, aber bei allen besitzt du eine oder mehrere Gaben. Ich gebe dir die Chance, ein Hütchen auszuwählen und dein Leben zu verlängern. Vielleicht wirst du ja einen wundervollen Mann an deiner Seite haben – und Kinder und Freunde, die dich über alles lieben. Möchtest du dieses Leben nicht mal ausprobieren? Emotionen fühlen. Abenteuer erleben. Alles, was ein erfülltes Leben ausmacht – und das für ein ganzes Jahr oder, wenn du die richtige Wahl triffst, sogar für eine sehr, sehr lange Zeit? Was hast du zu verlieren? Denk kurz darüber nach und entscheide dich.«
Aurora schluckte leer und runzelte die Stirn.
»Sie verarschen mich. Das alles ist nicht wahr, Sie sind nicht real, oder?«
»Du täuschst dich. Realer als ich ist niemand«, antwortete der Hütchenmann und streichelte mit der unverletzten Hand über ihren kahlen Schädel und ihre eingefallene Wange. »Wähle, Aurora. Du hast noch genau eine Minute Zeit, dann verschwinde ich, und du wirst in den nächsten sechs Stunden einen qualvollen Tod erleiden, wirst bereuen, dich nicht entschieden zu haben, glaube mir. Als Gesetzeshüterin bist du dir bewusst, dass im gottesfürchtigen Land niemand deine Maschinen abstellen darf, sonst kommt er ins Gefängnis, und die Ärzte können dir nicht mehr Morphium verabreichen, als du schon kriegst.« Er stockte und starrte auf seine Rolex. »Noch fünfzig Sekunden …« Mit einer theatralischen Handbewegung richtete er den Blick an die Decke.
Ein kalter Schauer durchfuhr Aurora, und gleichzeitig hatte die Berührung des Hütchenmannes etwas Beruhigendes, Tröstendes, die einzige liebevolle Geste, die sie seit Monaten von einem Menschen erhalten hatte – und er hatte recht. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Wieso sollte sie den Deal ablehnen? Schon aus Neugier würde sie wissen wollen, wie eines ihrer früheren Leben ausgesehen hatte. War sie da glücklich gewesen? Und wenn alles doch nur ein Traum sein sollte … dann wollte sie diesen Traum möglichst schnell hinter sich bringen.
»Bevor ich wähle … verrätst du mir, für wen du arbeitest? Gott, den Teufel oder gibt es da noch mehr Wesen ohne Namen?«
»Das ist kompliziert und für dich nicht wichtig, meine Liebe. Ein anderes Mal werde ich es dir erklären, aber jetzt ist deine Zeit abgelaufen. Für welches Hütchen entscheidest du dich?«, fragte er mit einem breiten Grinsen, als würde er die Antwort schon kennen.
»Für das mittlere.« Kaum hatte sie die letzte Silbe ausgesprochen, verlor sie das Bewusstsein. Die Schmerzen verschwanden. Stille und Dunkelheit umhüllten sie, und ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. War das alles nur ein Traum gewesen, oder existierte dieser Hütchenmann wirklich, so wie dieser unglaubliche Deal?