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Kapitel 1: »Das Leben ist nichts für Feiglinge!«

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Ihr ganzer Körper fühlte sich schwerelos an. Die Kehle war trocken, und sie hatte einen süßlichen Geschmack im Mund. Die bleischweren Augenlider zu öffnen erwies sich als ein wahres Kunststück. Und was war das für ein Geräusch, das aus der Ferne in ihre Ohren drang?

Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Auf und Ab von Wellen. Ein Lufthauch, der nach Salz schmeckte, streichelte ihre Wangen. Sie nahm den harten, festen Sand unter den nackten Füßen wahr, das Reiben der Körnchen zwischen ihren Zehen und ihren Händen. Sie fröstelte. Verwirrt und benommen gelang es ihr endlich, ihre Augen zu öffnen. Am leuchtenden Sternenhimmel begrüßte sie ein riesiger, orangefarbener Vollmond. Der Hütchenmann hatte sie nicht angelogen. In welchem Leben war sie wohl gelandet? Sie atmete tief durch und spürte einen Druck auf ihrem Brustkorb. Langsam klärte sich ihr Sichtfeld. Akribisch begutachtete sie ihren neuen, schmerzfreien und schlanken Körper. Neben ihren pechschwarzen, hüftlangen und wild zerzausten Haaren entdeckte sie noch etwas anderes. Oh mein Gott! Sie trug einen rosafarbenen, zerrissenen HELLO-KITTY-Schlafanzug und lag an einem verlassenen Strand im Nirwana. Quer über ihre Brust drückte ein muskulöser Arm auf ihr Zwerchfell und erschwerte ihre Atmung. Sie schob den Arm des Fremden von sich, schoss senkrecht hoch und krümmte sich zusammen. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Die kühle Meeresluft rauschte in ihre Lunge. Wurde wieder von einem trockenen Husten herausgetrieben, der laut an den ausgedörrten Wänden ihrer Kehle scheuerte. Die surrealen Bilder um sie herum verfestigten sich allmählich in ihrem Geist. Ihr Herz raste immer noch wie das eines Raubtieres auf der Jagd. Erinnerungen an das Krankenhaus flitzten durch ihren Kopf, der sich so anfühlte, als sei er unter einen Presslufthammer geraten.

Fassungslos starrte sie auf den groß gewachsenen, dunkelblonden Mann, der bewusstlos neben ihr lag. Er besaß einen muskulösen Oberkörper und einen gut geformten Bizeps. Sein Brustkorb bewegte sich durch die flache Atmung nur schwach auf und ab. Auroras erster Schock verflog und machte ihrem Instinkt Platz. Sie holte tief Luft, kniete sich neben den Unbekannten und scannte ihn mit ihrem geübten Erste-Hilfe-Blick von oben bis unten. Der Mann hatte sehr viel Blut verloren. Sein Nacken war kahl geschoren und mit diversen tätowierten Runen versehen. Das Stirnhaar war zusammengebunden, und seine hohen Wangenknochen mit Blutkrusten übersät. Angesichts seiner zerrissenen, braunen Hose und der dunklen Kriegsbemalung auf seinem Gesicht musste dieser Fremde ein Barbar oder Krieger aus dem Norden sein. Trotz seines schlechten körperlichen Zustandes strahlte er eine raue Schönheit wie der Ozean selbst aus. Wenn Aurora in der Schule in Geschichte nicht meistens geschlafen hätte, hätte sie die Zeitepoche besser einordnen können. Sie fühlte den Puls am Hals des Mannes. Zu schwach.

Verdammt! Was sollte sie tun? Nervös kaute sie an der Innenseite ihrer Wangen und untersuchte den muskulösen Körper, der reglos vor ihr lag. Aurora zählte vier Stichwunden, einige Brandwunden sowie tiefe Schnitte an Bauch, Rücken, Armen und Beinen. Dass dieser Mann überhaupt noch atmete, grenzte an ein Wunder!

Als sie sich die infizierte Bauchwunde genauer ansah, glühten auf einmal ihre Handflächen. Es war, als würde eine starke Energie durch ihren ganzen Körper hindurchfließen und aus ihren Händen herausstrahlen. Verfluchte Scheiße! Was war das? Erschrocken wich sie zurück und blickte auf die Wunde, die sie gerade berührt hatte. Vor ihren Augen beobachtete sie, wie sich die Wunde automatisch schloss und veheilte. In diesem Augenblick schossen ihr die Worte des Hütchenmannes durch den Kopf:

›Nur in einem dieser Leben lebst du länger als ein Jahr, aber in allen besitzt du eine oder mehrere Gaben.‹

Sie legte die Hände an die Schläfen, konzentrierte sich – und nach ein paar Sekunden waren ihre pochenden Kopfschmerzen verschwunden. Unverzüglich machte sie sich daran, den Fremden mit ihren Handflächen überall dort, wo er verletzt war, zu heilen. Nach einer Weile bewegte sich sein Brustkorb rasend schnell auf und ab. Der Mann japste panisch nach Luft und richtete sich jäh auf. Aurora fiel durch seine wuchtige Bewegung rücklings auf den Sand.

Oh mein Gott! Der Kerl musste bei ihrem Anblick in diesem HELLO-KITTY-Schlafanzug einen Herzinfarkt kriegen und glauben, sie sei eine Außerirdische! Blitzschnell zog er ein Messer aus seinem Lederstiefel, stürzte sich auf sie und hielt ihr die scharfe Klinge an die Kehle. Er war so nah, dass Aurora nicht mehr zu atmen wagte und ihn wie gelähmt anstarrte. Der Krieger, der mit nacktem Oberkörper über ihr lag, war mindestens ein Meter neunzig groß, hatte breite Schultern und einen gemeißelten Sixpack, von dem er nicht mal wusste, dass man diesen in einem späteren Jahrhundert so nennen würde. Seine Augen waren von solch klarem Blau, als wären sie von einem Künstler mit Kobalt handgefertigt worden. Seine zusammengebundenen Stirnhaare hatten sich gelöst. Die Haarsträhnen fielen ihm lose in den kahl geschorenen Nacken, umrahmten sein scharfkantiges, attraktives Gesicht.

»Vem är du?«, brüllte er sie an. Aurora verstand kein Wort. Wahrscheinlich wollte er wissen, wer sie war, woher sie kam und was sie beide hier auf dieser Insel zu suchen hatten. Nun, darauf hatte sie leider keine Antwort, denn auch sie würde gerne wissen, wo sie gelandet war und vor allem, in welcher Zeitepoche. So wie der Kerl hier aussah, musste er ein Wikinger sein. Ja, sie hatte in ihrem ganzen Leben drei Wikingerfilme gesehen, aber nur an Walhalla Rising konnte sie sich gut erinnern, weil ihr Lieblingsschauspieler Mads Mikkelsen da mitgespielt hatte. Aber dieser kräftige Wikingerkrieger über ihr war nicht nur wunderschön, nein, er war auch furchteinflößend. Nicht mal in seiner Rolle als Hannibal Lecter sah Mads Mikkelsen so gefährlich aus wie Mister Kobalt, der schon wieder den gleichen Satz wiederholte, aber dieses Mal war sein Gesicht nur wenige Zentimeter vor ihrem. Sein warmer Atem tanzte über ihre Wangen, ihre Lippen. Ein salziger, herber Duft, vermischt mit Schweiß drang in ihre Nase. Jede einzelne Narbe in seinem wilden Gesicht wirkte wie ein Schmuckstück, so als wären diese wohlüberlegt platziert worden. Auroras Muskeln spannten sich an.

»Ich bin ein Bulle, Terminator, und wenn du mir nur einen winzigen Kratzer am Hals zufügst, dann trete ich dir in die Eier, capisci?« Ihr Ton schien ihm nicht zu gefallen. Er drückte die Klinge fester an ihren Kehlkopf und erwiderte etwas, das sie wiederum nicht verstand, nichtsdestotrotz kreiste in ihrem Kopf ein weitaus anderer Gedanke. In seinem Blick lag Neugier und Respekt, was in ihr eine Vermutung aufkeimen ließ. Okay, in Geschichte war sie eine Niete, aber wie der Titel des Wikingerfilms, den sie gesehen hatte, schon besagte, glaubten diese Krieger an Götter und Walhalla, den Ruheort aller gefallenen Kämpfer. Bevor er einen weiteren Satz aussprach, sagte sie: »Odin. Thor. Walhalla.« Sie nickte schwach, rollte mit den Augen und zeigte zum Sternenhimmel.

»Odin«, wiederholte sie, und mehr brauchte sie auch nicht zu sagen. Der Mann zog sich zurück, stand auf, reichte ihr die Hand und half ihr hoch. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Steckte das Messer wieder in die Stiefel. Die Anspannung in seinem Gesicht war gewichen. Er tastete seinen Körper ab und schaute in den Himmel. Schrie irgendetwas, wobei Aurora wiederum nur Odin verstand. Sie nickte, obwohl sie nichts kapierte, was auch nicht wichtig war. Hauptsache, Mister Kobalt hatte sich beruhigt. Als er ihr ein schelmisches Lächeln schenkte, blinzelte sie irritiert und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Er ging auf sie zu, schmunzelte und zeigte mit dem Finger zuerst auf sie, dann auf den Himmel und sagte etwas, wobei Aurora nur Odin verstand.

Da Aurora wiederum nur »Odin« verstand, nickte sie. Er deutete ihr mit dem Kopf ins Landesinnere zu einem Hügel mit einer runden Öffnung, die einem Höhleneingang ähnelte, was aber aus dieser Distanz nicht klar ersichtlich war. Aurora bejahte und schlang die Arme um ihren Körper. Sie war durstig, und ihr Magen knurrte wie Hund. Sie scannte die karge Umgebung. Eine Wasserquelle war nirgends zu sehen, was ihr ein paar Sorgenfalten auf die Stirn zauberte. Im Schein des Vollmonds erkannte sie eine Schar von funkelnden Sternen. Es herrschte eine trügerische, idyllische Stille, eine, die Aurora unruhig stimmte. Durch die dunklen Felsen und Landfelder ähnelte die Insel einer Mondlandschaft. Dazwischen sprießten ein paar Gräser, Büsche oder Palmen. Gab es hier Tiere und Menschen? Wenn ja, wo zum Teufel waren sie? Eine kühle Meeresbrise wirbelte ihr langes schwarzes Haar durcheinander. Sie registrierte, wie der Wikinger ihr ein Zeichen gab, sie solle hier warten. Dann marschierte er los und sammelte am Strand ein paar Sachen ein, die ihm zu gehören schienen. Er packte zwei zerrissene Stücke eines Segeltuchs, schnitt es mit dem Messer zurecht und steckte zum Schluss den Kopf durch das Loch in der Mitte. Um seine Hüfte schlang er die Ecken mit einem Stoffstreifen. Das andere Teil brachte er Aurora, die dieses dankend entgegennahm und wie einen Poncho überstreifte, während er die Stiefel auszog und den Sand aus ihnen herausklopfte. Aus den zerrissenen Leinenhosen lugten Beine hervor, die jeden Hundert-Meter-Sprinter neidisch gestimmt hätten. Und diese Muckis waren mit Sicherheit ohne Hanteltraining, Eiweißshakes oder Anabolika entstanden! Der Kerl strahlte Selbstsicherheit, Stärke und Coolness aus. Er erinnerte sie an jemand, der zwar ganz anders aussah, aber dieselbe magische Ausstrahlung und Anziehungskraft auf sie besessen hatte wie Blauauge, mit dem Unterschied, dass jener Rambo anhimmelte und dieser hier Odin. Eines war klar, Aurora kannte sich weder mit Jagen von Tieren noch mit der rauen Natur aus und würde hier alleine nicht mal eine Woche überleben, er hingegen schon. Deshalb würde sie freundlich zu ihm sein und sich ihm von ihrer Schokoladenseite zeigen. Mit verschränkten Armen stand er einen Meter vor ihr und betrachtete sie von oben bis unten. Tja, Terminator – I will be back – aber auch das würdest du nicht verstehen, dachte sie. Ja, sie war zurück, ohne Krebs und mit all ihrer Haarpracht und einem sexy Outfit, das ihr Odin höchstpersönlich geschneidert hatte: HELLO KITTY FROM WALHALLA, eine neue Göttin war geboren.

Mit der Faust schlug der Wikingerkrieger auf seine Brust und sagte: »Rodmar.«

Aurora klopfte mit der Handfläche ebenfalls auf ihre Brust und antwortete: »Aurora«. Als er ihren Vornamen mit seinem seltsamen Akzent wiederholte, musste sie unwillkürlich lächeln. Es war schon sehr lange her, dass ihre Mundwinkel sich zu einem Lachen geformt hatten. Rodmar antwortete mit einem breiten Grinsen und blickte in den Himmel. Er murmelte irgendetwas, wobei Aurora wiederum nur die Wörter Odin und Thor verstand. Sie freute sich, dass er ihr wohlgesinnt zu sein schien. Wahrscheinlich dachte er, sie sei die Tochter von Odin oder stamme vom gleichen Stern wie dieser Gott. Warum auch nicht? Sein Glaube war für sie von Vorteil, denn diesen Terminator wünschte sich gewiss niemand zum Feind zu machen, auch sie nicht. Hinsichtlich der Kommunikation gab es noch einige Hürden zu überwinden, aber da sie ja jetzt ein Sternenkind von einem anderen Planeten war, würde ihr schon irgendetwas einfallen. Neben ein paar nicht jugendfreien Gedanken schossen ihr auch andere, wichtigere durch den Kopf: Wasser und Nahrung. Ihr Mund war ausgetrocknet und ihr Magen gab knurrende Töne von sich.

Nach ein paar Schritten in Richtung Höhle blieb Rodmar auf einmal stehen, bückte sich und hob ein schweres Schwert auf. Er schaute durch seine dichten Wimpern zu Aurora, den Kopf leicht schräg gelegt, und grinste. Mit der Hand streichelte er sanft jeden Zentimeter Metall, um diesen vom Sand zu befreien. Die Bewegung hatte etwas Anmutiges und Respektvolles an sich, so als hätte er einen zerbrechlichen Schatz gefunden, etwas, das ihm sehr viel bedeutete. Wenn er sie so von dem Dreck ihres lächerlichen Pyjamas befreien würde, würde ihr Gehirn einen Kurzschluss erleiden. Aurora starrte auf seine hohen Wangenknochen, auf seine Lippen … oh Gott, diese Lippen waren perfekt, auch wenn sie spröde und trocken waren. In dem Moment trafen sich ihre Blicke, so als hätte er sich soeben in einen Gedankenleser verwandelt. Dabei spürte sie ein seltsam ziehendes Gefühl im Bauch. Jetzt, genau in diesem Augenblick, brannte ihr Gesicht wie Feuer, und sie leuchtete sicher rot wie eine Peperoni. Sie senkte ihren Blick, verscheuchte ihre aussichtslosen Lippen-Träume und tat so, als wäre sie höchst interessiert an der Beschaffenheit des Schwertes. Zeit, Pluspunkte zu sammeln! Sie lächelte verlegen, nickte und begutachtete den Griff. Dieser war mit Mustern aus Silber und Messing verziert, die Klinge aus Stahl. Rodmar näherte sich ihr, sprach ein paar unverständliche Sätze und zeigte ihr seinen wertvollen Fund. Sie hob die Augenbrauen, setzte ihr bestes WOW-Gesicht auf und tat so begeistert, als würde sie ihn verstehen.

»Gehört es dir?«, fragte sie und deutete mit dem Zeigefinger zuerst auf das Schwert, dann auf Rodmar. Er nickte. Klopfte sich auf die Brust und trat noch näher, was er besser nicht getan hätte. Seine hypnotischen Augen mit den dichten, dunklen Wimpern trafen die ihren. Sein Blick drang tief in ihre Seele – und auch noch woanders hin … weckte etwas, das seit viel zu langer Zeit im Schneewittchen-Koma gelegen hatte. Ihr gesamter Körper vibrierte auf eine Art, die sie an ihre Teenagerzeit erinnerte, als der unvermeidliche Tanz der Teufelshormone seinen Lauf genommen hatte. Ihre Wangen glühten, dann breitete sich Hitze über ihren restlichen Körper aus, weiter und weiter – sehr weit hinunter. Diese Nähe war ihr eindeutig zu viel. Sie machte einen seitlichen Schritt. Legte ihm die Hand auf die Schulter. Nickte. Setzte ihr Pokerface-Lächeln auf und bedeutete ihm mit dem Kopf, weiterzumarschieren, ansonsten würde sie gleich umkehren und den Kopf ins kalte Meerwasser tauchen, bis ihr Körper abgekühlt war. Beim nächsten Schritt trat sie auf etwas Hartes, Kantiges.

»Autsch! Verfluchte Scheiße. Was war das denn?« Sie beugte sich vor. Hob eine Halskette mit einem silbernen Hammer-Amulett auf sowie einen Ledergürtel mit drei Scheiden.

»Rodmar?«, rief sie und drehte sich um. Als er die Gegenstände in ihre Hände sah, funkelten seine Augen. Dieser harte Krieger strahlte bis über beide Ohren, wie ein Kind, das gerade ein Weihnachtsgeschenk auspackt.

»Hålltider kort«, sagte er und übergab ihr das Schwert.

»Danke. Mamma Mia! Das wiegt ja eine Tonne.« Verwundert nahm sie die Waffe entgegen. Was sollte sie nun damit? Von Schwertkunst hatte sie keine Ahnung. »Hier nimm es, das gehört sicherlich auch dir.« Er legte die Kette um seinen Hals, schnürte den Ledergurt mit den Scheiden um die Hüfte, nahm Aurora das Schwert wieder ab und schob es langsam in den Rückenhalfter. Dann tastete er nach dem Messer in der linken Lederscheide, zog es kurz heraus, begutachtete die Klinge und steckte es wieder ein. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn, wo ein Dreitagebart spross. Dann umfasste er das Amulett mit Thors Hammer an seinem Hals. Bevor Aurora antworten konnte, flog ein Schwarm von Dutzenden von Raben über ihre Köpfe. Das war ungewöhnlich. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

»Hugin och Munin!«, sagte Rodmar. An diese Namen erinnerte sich Aurora. So nannten die Wikinger Odins Raben, besser gesagt, seine zwei Spione. Die flogen tagsüber umher und berichteten dem Gott alle Neuigkeiten. Zumindest laut der Filme, die Aurora gesehen hatte. Bevor sie ihm antworten konnte, stupste Rodmar sie unsanft am Arm und rannte los in Richtung Höhle. Er hatte den Rabenschwarm offenbar als Alarmzeichen von oben gedeutet, denn Raben waren Boten von Unheil oder so was in der Art. Aurora blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterherzurennen. Im nächsten Moment pfiff ein starker, eigenartiger Wind über den Strand. Sofort breitete sich ein ungutes Gefühl in Auroras leerem Magen aus. Verdammt! Etwas stimmte mit dieser Insel nicht. Als hätten sie die Götter erzürnt, zuckten Blitze am bedeckten Himmel und ein Donner nach dem anderen grollte. Regen und Hagel peitschten herunter. »Det är Thor!«, schrie Rodmar. In diesem Moment schlug nur ein paar Meter neben Aurora ein heftiger Blitz ein. Er packte sie am Arm, und beide rannten mit aller Kraft zum Hügel, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Wind fegte wie ein Tornado über die Landschaft, und das Meer wehte Sand, Geröll, Treibholz und Steine vom Untergrund auf. Es war, als wäre von einer Sekunde auf die andere die Apokalypse über die Insel hereingebrochen. Die Elemente tobten sich wie Raubtiere an ihrer Beute aus. Auroras Schreie wurden vom Tosen des Windes verschluckt. Der Gegenwind war für sie zu stark. Obwohl Rodmar fest ihre Hand hielt, fehlte ihr die Kraft, einen weiteren Schritt zu tun. Als würde sie von hinten von einem Magnet angezogen, ließ sie ihn los und fiel rückwärts um. Bevor sie vom Wind weggerissen wurde, rettete er sie in letzter Minute, indem er sie am Arm packte und hochhob. Doch es dauerte nicht lange, bis beide wie zwei Zahnstocher umfielen und auf dem nassen Schlammboden in Richtung Meer geschleift wurden. Ein kurzer Blick zum Wasser ließ Aurora noch mehr schaudern. Eine riesige Welle, hoch wie ein Tsunami, rollte schnurstracks aufs Festland zu. Ein gewaltiges Monster, das keine Gnade kannte und beide innerhalb von Sekunden wie ein Hai verspeisen würde. Regen peitschte auf ihre Körper und Gesichter. Aurora hatte keine Ahnung, woher Rodmar die Kraft nahm, aber es gelang ihm, seinen Arm um ihre Hüften zu legen. Er umklammerte sie fest, sodass sich seine Fingernägel in ihre Haut bohrten. Die andere Hand versuchte er wie einen Anker tief in den Boden zu vergraben. Ohne ihn wäre sie jetzt direkt vom Meer verschluckt worden. Der Wind spielte verrückt. Er drehte sich ständig. Es schien, als würde jemand mit ihnen spielen, mal von dieser Seite, mal von der anderen. Als Krönung begann die Erde zu beben. Sie hatten keine Chance. Rodmar umarmte Aurora mit aller Kraft, während sie ihr Gesicht in seiner Brust vergrub und zuhörte, wie er eine Art Gebet an Odin sprach. In dieser engen, kraftvollen Umarmung fühlte sich Aurora sicher. In ihrem vorherigen Leben existierte nur einer, dem es gelungen war, ihr dieses Gefühl zu vermitteln. Egal, was geschehen würde, so mit Rodmar zu sterben war allemal besser als im Krankenhaus.

Aurora glaubte an keinen Gott, aber an den Hütchenmann schon. Ihm hatte sie die Katastrophe auf dieser verfluchten Insel schließlich zu verdanken. Hatte sie in einem früheren Leben wirklich auf dieser kargen Insel gelebt, oder hatte der Hütchenmann sie angelogen? Wenn ja, dann ergab das alles gar keinen Sinn. Aurora kniff die Augen zusammen wie Rodmar, dachte an den knollnasigen Zauberer, und als sie ihn vor ihrem geistigen Auge sah, rupfte sie in Gedanken ein Hühnchen mit ihm: ›Liebes Arschloch da oben namens Hütchenmann, du hast mir versprochen, dass ich mindestens ein Jahr lang leben würde, und zwar in einem meiner früheren Leben. Also beweg gefälligst deinen verfluchten Arsch hierher und tu endlich etwas!‹ Und tatsächlich hörte sie seine Stimme in ihrem Ohr. Sie klang nasal, so als wäre er erkältet:

„Oh Bella! Bitte entschuldige. Bei der Teleportation ist etwas mächtig schiefgelaufen. Nichts, was ich nicht in Ordnung bringen könnte, aber es dauert ein wenig. Euer beider Aufenthalt auf der Insel gehörte nicht zu meinem Plan. Den Landfleck gibt es in fünfzig Jahren nicht mehr. Die Insel wird vom Meer verschluckt werden und deshalb auch nie auf einer Landkarte erscheinen. Hab etwas Geduld, meine Liebe! Zuerst muss ich das Problem mit der Insel lösen und dann kümmere ich mich umgehend um deine Teleportation in dein neues, altes Leben. Ciao!“

Auf einmal wurde es mucksmäuschenstill um sie herum. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Aurora hob ihren Kopf und erkannte, wie Rodmar wie eine eingefrorene Wachsfigur in der Umarmungsposition vor ihr stand. Er atmete nicht. Er lebte nicht. Das Chaos um sie herum bewegte sich in Slowmotion und blieb immer wieder stehen, so als würde jemand in einer Zeitmaschine wiederholt die Pausentaste drücken. Das hatte sie schon mal im Krankenhaus mit der herunterfallenden Tasse erlebt. Nein, nein, was zum Teufel machte der Idiot da oben? Panik überfiel Aurora, denn das Letzte, was sie wollte, war, in irgendeiner Zeitschlaufe für immer stecken zu bleiben.

»Hey Arschloch, spinnst du? Was soll das? Egal, was du da treibst, Rodmar kommt mit mir. Du kannst mir nicht einen Mann vor die Nase stellen, der mein Blut in Wallungen bringt, nur um ihn mir einfach wieder wegzunehmen! Von mir aus kannst du uns zwei in die Flower-Power-Zeit beamen, damit hätte ich absolut kein Problem, okay? Tust du mir bitte diesen Gefallen, damit ich mir zur Beruhigung einen richtig fetten Joint reinziehen kann?«

Tatsächlich ertönte wieder die Stimme in ihrem Ohr: »Nein! Und halt bitte die Klappe, ich bin beschäftigt und muss mich konzentrieren. Die Schicksalsfäden zu spinnen ist kein Kinderspiel. Du wirst mich ab jetzt weder hören noch sehen können, aber ich hinterlasse dir meine Botschaften in anderer Form, keine Bange! Das wird ein Spaß werden. Ciao Bella.«

»Nein, nein, nein, hey, bleib da! Bitte, ich verspreche dir, folgsam zu sein, dich Gottvater zu nennen und jeden Abend zu dir zu beten, okay?« Auroras Atmung wurde flacher. Es war, als würde die Luft zu wenig Sauerstoff enthalten. Ihr wurde schwindelig, alles um sich herum begann sich zu drehen. Das Letzte, was sie sah, war ein Grabstein mit ihrem eingravierten Namen, Aurora Santini, inklusive Todestag. Vor dem Grab stand ein Mann in Tränen und mit einem großen Rosenstrauß, ihren Lieblingsblumen. Er ging in die Hocke, legte den Strauß auf das Grab, berührte den Marmorstein und weinte unaufhörlich.

»Es tut mir so leid, Aurora. Ich liebe dich. Bitte verzeih mir. Du fehlst mir so, und ich kann nicht ohne dich sein. Ich kann nicht mehr …«

»Oh mein Gott, ich bin tot. Nico, steh auf! Du musst weitermachen, du darfst nicht aufgeben, niemals! Hörst du mich?« Dann schloss sie die Augenlider, und bevor sie im Nirgendwo versank, strömten Bilder in ihren Geist, Bilder und Gefühle, Erinnerungen aus ihrem vorherigen Leben …

Vikings - Vergangene Zeiten

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