Читать книгу Greta und das Wunder von Gent - Katja Pelzer - Страница 3

Kapitel 1

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Der Mann saß im Rollstuhl an einer sonnigen Ecke der Innenstadt und verkaufte die Obdachlosenzeitung. Greta hielt sich mit der einen Hand eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht und holte mit der anderen ihr Portemonnaie aus der gemusterten Umhängetasche, die in Modekreisen Tote genannt wurde (ja, wie die Tote, aber englisch ausgesprochen), bezahlte die Zeitung und ließ ihm 40 Cent Trinkgeld. Sie hoffte, es würde ihn weder zum Trinken animieren noch zum Rauchen. Denn in seinem zahnlosen Mund steckte verloren ein Zigarettenstummel. Den nahm er jetzt heraus und küsste ihren Handrücken zum Dank für den Obolus. Diese Geste freute Greta, machte sie aber auch leicht verlegen. Sie winkte dem Mann noch einmal zu und setzte dann beschwingt den Weg in die Zeitungsredaktion fort, wo sie seit ein paar Jahren als Kulturredakteurin arbeitete.

Der Anruf erreichte sie am frühen Nachmittag. Der Tag war auch weiterhin freundlich und harmlos verlaufen, daher war sie auch überhaupt nicht auf das vorbereitet, was ihr die Pflegerin mitzuteilen hatte. Großtante Mia war gestorben. Ganz leise, im Schlaf.

Greta war ihr Liebling gewesen, die Großtante hatte selbst keine Kinder gehabt. Stolze 95 Jahre war sie alt geworden. Manchmal hatte sie der ebenfalls kinderlosen Greta erklärt, das hohe Alter habe sie allein der Tatsache zu verdanken, dass ihr all die Sorgen und der Verdruss erspart geblieben waren, die Elternschaft unweigerlich mit sich brachte. Greta lächelte unter Tränen, als sie an die Worte der Großtante dachte, in deren Augen immer kindliche Freude geblitzt hatte.

Das Leben um sie herum hielt nicht an, stellte Greta verwundert fest. Natürlich war es wichtig, welche Galerien sie am Eröffnungswochenende besuchen müsste, aber die meisten Sonntage der vergangenen Jahre hatte Greta am Kaffeetisch ihrer Großtante verbracht. Das war beiden von dem geblieben, was Familie sein konnte.

Sie hatte ihrer Großtante die Fingernägel geschnitten, die diese zuvor in warmem Seifenwasser gebadet hatte, um sie weicher zu machen. Sie wusch ihr die Wäsche und faltete sie, weil die Hände der Tante arthritisch geschwollen waren. Die Batterie im Hörgerät musste alle paar Wochen gewechselt werden. Mit hundert Strichen bürstete Greta durch die langen silberweißen Wellen der Großtante – ein Ritual, zu dem Mia als Mädchen übergegangen war und auf das sie bis zu ihrem Tod nicht verzichten mochte. Eine Gewohnheit, für die Greta ihre Tante immer bewundert hatte.

Sie ging mit ihrem Haar weniger pfleglich um. Als Kind hatte sie es so selten gebürstet, dass der Friseur eines Tages die entstandenen Knoten hatte abschneiden müssen. So musste Greta mit sieben Jahren einen Pottschnitt tragen, der bei ihr ein Friseur-Trauma hinterließ.

Während der Rituale mit Großtante Mia hatte der gefrorene Kirschkuchen zum Auftauen auf der Heizung gestanden. Greta hatte das kochende Wasser in den von Mia vorbereiteten Kaffeefilter fließen lassen. Sie hatte hier ein wenig gesaugt, dort ein wenig geputzt. Aber nur ein wenig, denn eigentlich hatte Tante Mia eine Hilfe – eine hübsche polnische Studentin, die sich auf diese Weise das Geld fürs Studium verdiente. Greta hatte Mia meistens etwas zum Lesen mitgebracht, denn die Großtante verschlang Bücher wie andere Schokolade. Wenn sie schließlich am Kaffeetisch saßen, hatten sie sich immer etwas zu erzählen gehabt und viel gelacht.

Wieder ein Abschied. Zu viele hatte es schon gegeben in Gretas Leben. Dabei hasste sie Abschiede. Sie war jetzt die Letzte – ihre Großmutter Lisabeth, Mias Schwester, und der Großvater lebten schon lange nicht mehr. Die Eltern ihrer Mutter waren ebenfalls tot. Gretas Eltern waren beide Einzelkinder gewesen und selbst schon vor einigen Jahren gestorben. Nur Nick gab es noch – Gretas Bruder. Doch der zählte nicht. Er hatte sich noch nie für irgendjemanden außer sich selbst interessiert. Außerdem lebte er mittlerweile in London und war einer dieser Menschen, die davon profitieren, dass sie Firmen an die Börse bringen. Darin war er scheinbar sehr gut. Für andere Dinge, vor allem andere Menschen, nahm er sich kaum noch Zeit.

Gleich am nächsten Morgen würde Greta zur Beerdigung ins Bergische Land fahren. Dort hatte die Großtante mit dem Großonkel gelebt, bis zu dessen Tod.

Greta delegierte die Aufgaben der nächsten Tage an verschiedene freie Mitarbeiter, strickte mit heißer Nadel drei Artikel für die Wochenendausgabe, die sie außerdem soweit vorplante wie möglich, und verließ erst spät am Abend die Redaktion. Zu Hause kochte sie sich ein schnelles Pasta-Gericht, packte ihren Koffer und las noch ein paar Seiten in Priscilla von Nicolas Shakespeare, um sich etwas abzulenken und um herunterzukommen – ein Buch, das sie Tante Mia hatte ausleihen wollen. Früh fielen ihr die Augen zu.

Die Trauerfeier war spärlich besucht. Gretas Herz hatte zunächst schneller geklopft, als sie auf dem Weg dorthin das gelbe Ortsschild erblickte. Doch dann hatte die Trauer über den Tod der geliebten Großtante sie überwältigt. Greta hatte sich nicht einmal richtig von ihr verabschiedet. Wer so alt wurde wie Mia, nahm sich nicht unbedingt die Zeit, um Adieu zu sagen. Es hatte jeden Tag so weit sein können. Und doch kam es plötzlich.

In der kleinen Kirche saßen einige Gemeindemitglieder und ein paar ältere Frauen. Greta vermutete, dass sie Bekannte ihrer Großtante waren. Beide Pflegerinnen waren gekommen, die die Großtante in den letzten zehn Jahren ihres Lebens begleitet hatten und ihr sehr gewogen gewesen waren. Das wurde Greta noch einmal bewusst, als sie ihr nach dem Gottesdienst ihr Beileid aussprachen.

Nach der Urnenbeisetzung kam eine ältere Dame in einem eleganten schwarzen Kostüm und mit einem breitkrempigen Hut auf Greta zu. Der Hut war so groß, dass er einen Schatten auf ihre obere Gesichtshälfte warf. Dennoch kam Greta die Frau irgendwie bekannt vor. Vielleicht waren sie sich auf einem der vielen Geburtstage der Großtante begegnet. Greta fühlte sich von ihrem Schmerz wie gedämpft, ihre Gedanken waren zu langsam, um eine Fährte aufzunehmen. Die Dame sagte kein Wort. Sie drückte Gretas Hand und schaute sie aus dunklen Augen einen Moment länger an, als Greta lieb war. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und sie wandte sich ab. Als sie sich wieder umdrehte, bereit, weitere Hände zu schütteln, war die Frau verschwunden.

Nick war nicht gekommen. Aber damit hatte Greta auch nicht gerechnet.

Es war ihr unheimlich, in der Wohnung der Großtante zu übernachten. Sie fürchtete sich vor ihren Emotionen. Also nahm sie sich ein Zimmer in einer kleinen Frühstückspension, die von einer netten älteren Frau geführt wurde, bei deren Anblick Greta beinahe wieder in Tränen ausgebrochen wäre, weil sie die gleichen silbergrauen Fönwellen hatte wie die Großtante.

Sie fragte sich zum wiederholten Male, wie viel Trauer ein einzelner Mensch ertragen konnte, bevor die Seele zerkratzt war.

Drei Tage hatte sich Greta freigeschaufelt, um Tante Mias Wohnung auszuräumen und zu entscheiden, welche der zurückgelassenen Dinge sie behalten und was sie abgeben würde. Sie hatte alles geerbt, denn zu Nick hatte die Großtante nie eine Beziehung aufbauen können.

Im Kühlschrank fand Greta noch einen angebrochenen Joghurt, eine Schlangengurke und ein paar Tomaten. Doch sie hatte keinen Appetit und konnte sich ohnehin nicht vorstellen, auch nur einen Bissen davon herunterzubekommen. Sie warf alles mit schlechtem Gewissen in den Müll.

Sie hatte Umzugskartons mitgebracht und begann sogleich, die Schränke auszuräumen.

Die Kleider der Großtante knipsten bei Greta eine Bildergalerie von Erinnerungen an. Das weiße Seidenkleid mit den blauen Ankern hatte Tante Mia häufig getragen, wenn sie Greta ein feines Hühnerfrikassee mit Reis und Apfelkompott zum sonntäglichen Mittagessen aufgetischt hatte. Greta mochte diese altmodischen Gerichte. Sie schmeckten nach Kindheit. Auch ihre Großmutter hatte köstlich gekocht, wenn sie einmal Zeit dafür fand.

Das rotweißblau-gestreifte Seidenkleid erinnerte Greta dagegen eher an die Nachmittagskaffees bei der Großtante mit dem köstlichen Kirschkuchen. Die Kirschen waren in dem luftigen Rührteig versunken, wie bei einer klassisch französischen Clafoutis. Obwohl Greta das Rezept schon lange zu Hause hatte, bekam sie den Kuchen niemals so saftig und locker hin wie ihre Großtante.

Sie dachte an das hübsche Gesicht der alten Frau. Es blieb für Greta unfassbar, dass ein Mensch einfach weg war. Unerreichbar. Von jetzt auf gleich. Nur ein Häuflein Asche war übrig geblieben und ungezählte Augenblicke, die sie geteilt hatten.

Es war an der Zeit gewesen, ihre Großtante gehen zu lassen. Wie oft hatte sie fast verzweifelt gesagt: „Ich glaube, der liebe Gott hat mich vergessen!“ Doch für Greta war die Großtante der letzte Rest Familie gewesen. Da war es schwierig, loszulassen.

Das Ausräumen der Wohnung half ein wenig. Mit jedem Schrank, den Greta leerte, mit jedem Karton, den sie füllte, hatte sie das Gefühl, Mias Tod mehr zu akzeptieren.

Greta förderte tütenweise Seidenstrümpfe zutage. Schmuck, das meiste davon Modeschmuck, und jede Menge Hüte und Mützen. Das alles würde sie behalten. Eine Kiste mit alten Fotos ebenso. Viele waren bei der Hochzeit der Großtante mit dem Großonkel entstanden. Oder in den Ferien. Beim Wandern. Beim Skifahren. Beim Segeln. Bei Essenseinladungen.

Plötzlich hielt Greta ein Foto von sich selbst in der Hand. Es zeigte sie als vielleicht Siebenjährige, noch mit langem Haar und endlosen Beinen vor der Sandburg, die der Vater und Nick rund um ihren Strandkorb gebaut hatten. Zum Schutz vor Gott weiß was. Sie hatten sie aufwändig verziert mit Muscheln und anderem Strandgut. Greta hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Ein örtlicher Fotograf hatte das Bild aufgenommen und der Vater hatte es im Fotogeschäft des Ferienorts gekauft und der Großtante als Souvenir mitgebracht. Greta erinnerte sich, dass der Fotograf gesagt hatte: „Die wird mal Mannequin. Mit solchen Beinen!“ Der Vater hatte ihr das erzählt und Greta hatte gefragt, was das denn sei – ein Mannequin – und sich gefreut, als der Vater es ihr erklärt hatte.

Greta dachte an ihre Eltern, die nie viel Zeit für sie gehabt hatten. Sie hatte manchmal den Verdacht gehabt, dass sie ihnen vielleicht einfach passiert waren. Dass Nick und sie diese große Liebesgeschichte mit ihrem Auftauchen möglicherweise sogar gestört hatten.

Wenn Greta sich auch nicht erinnern konnte, dass die Mutter ihnen jemals große Aufmerksamkeit geschenkt hätte, Nick hatte sie auf ihre Art stets vergöttert.

Das hatte es für Greta nicht einfacher gemacht.

Noch dazu war Nick im Gegensatz zu ihr gut in der Schule gewesen, obwohl er jeden Nachmittag mit seinen Freunden im Wilden Westen unterwegs gewesen war – dem Dickicht auf dem Grundstück gegenüber. Greta hatte währenddessen lesend oder Kassette hörend in ihrem Zimmer gehockt.

Abends verarztete die Mutter Nicks Schrammen und Schürfwunden und strich ihm dabei auch schon mal, wie zufällig, über das wirbelige Blondhaar.

Greta hatte solcherart Wunden nie vorzuweisen gehabt. Lesend oder lauschend auf dem Bett verletzte man sich nicht. Sie hatte Nick bewundert, während sie für ihn eigentlich nicht existierte. Das war wohl auch den fünf Jahren Altersunterschied geschuldet. Greta hatte sich jemanden gewünscht, der ihr ähnlich war, mit dem sie sich auf Augenhöhe hätte austauschen können. Das gelang ihr erst auf dem Gymnasium. Bis dahin hatte sie sich in eine Parallelwelt geflüchtet aus Büchern und Filmen. Das Leben, das sie darin fand, war spannender gewesen als alles, was ihr widerfuhr. Es hatte aber auch eine gewisse Distanz geschaffen zwischen ihr und der Wirklichkeit.

Als Greta weiter in der Fotokiste grub, fand sie auch Bilder, die ihren Vater als kleinen Jungen zeigten. Er sah genauso aus wie Nick als Kind. Wirbeliges helles Haar, große braune Augen.

Auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie hielt die Großtante ihn als Baby im Arm. Auf der Tapete hinter ihnen rankten sich Rosen, die sich mit Mias langen Haaren verbanden. Sie hatte ihre Wange gegen seine geschmiegt, mit geschlossenen Augen, versonnen lächelnd. Der Vater machte eine Schnute.

Die Großtante hatte sich oft um ihn gekümmert. Gretas Großvater war ein erfolgreicher Fotograf gewesen, er hatte überall auf der Welt gearbeitet. Die Großmutter hatte ihn die meiste Zeit begleitet und ihm assistiert. Ohne sie sei nichts gelaufen, hatte Tante Mia Greta oft erzählt. Sie war mehr als seine rechte Hand gewesen. „Lisabeth war sein rechtes Auge“, hatte ihre Großtante gesagt. Viele Motive hatte die Großmutter entdeckt. Der Großvater beharrte daher auch ein Leben lang auf ihre Begleitung. „Du bringst mir Glück“, hatte er gesagt und sie dabei angesehen, als liebte er sie noch immer so warm und innig wie in ihrer Jugend.

Von einer Reise nach Chile waren sie nicht zurückgekommen. Sie waren viel mit Bussen unterwegs gewesen, und einer dieser Busse war verunglückt und in Flammen aufgegangen. Bis auf den Fahrer, der sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, waren alle Passagiere umgekommen. Gretas Großeltern waren beide nur fünfundsechzig Jahre alt geworden. Greta erinnerte sich an die Trauer des Vaters. Auch ihre Eltern waren nicht alt geworden. Der Vater war bereits mit sechsundfünfzig Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Die Mutter zwei Jahre darauf an gebrochenem Herzen. Das war jetzt zehn Jahre her.

Nicht einmal Greta hatte sie trösten können. Nick hatte es gar nicht erst versucht, sondern wie meistens mit Abwesenheit geglänzt seit er angefangen hatte zu arbeiten.

Auch Bilder von der Hochzeit ihrer Eltern fand Greta. Ihre Mutter hatte einen knöchellangen champagnerfarbenen Rock getragen, mit einem zarten Nichts von einer Seidenbluse. Im fast schwarzen Haar Schmuck aus blaugrünen Federn und einen Hauch von einem nachtblauen Schleier, der ihr knapp über die Augen fiel und ihr die Aura eines Filmstars verlieh. Wie schön sie gewesen war! Gretas Vater trug einen dunkelblauen Samtanzug, wie Kommunionkinder sie früher anhatten. Die Hose mit breitem Schlag. Er hatte seinen blonden Kopf schräg auf die Schulter seiner Braut gelegt und ein Bein weit in die Luft gestreckt. Dabei grinste er frech in die Kamera. Die Braut, die ihre Mutter einst gewesen war, lachte den Betrachter an. Freunde und Verwandte mischten sich auf anderen Bildern mit dem strahlenden Paar. Sie hatten Luftballons mit Wunschkarten in den Himmel geschickt.

Wie glücklich sie aussahen, und wie kurz die Zeit gewesen war, die Greta mit ihnen verbringen durfte. Viel zu kurz.

Greta hielt inne. Sie beschlich das Gefühl, als wäre mit dem Tod der Großtante eine Epoche zu Ende gegangen. Wie eine Nebelwand stieg Müdigkeit in ihr hoch. Sie seufzte.

Nur noch ein Schrank stand ihr bevor.

Seine Türen ließen sich kaum öffnen, so verzogen war ihr Holz. Ihre Großtante hatte ihn als Mitgift von ihren Eltern bekommen. Es war ein schönes dunkelglänzendes Kirschholzmöbel mit einer asiatisch anmutenden Metallschließe im oberen Drittel.

Kleider fand Greta darin keine. Vielmehr stapelten sich in den meisten Fächern sorgfältig gefaltete Bettlaken und -bezüge. Greta strich voller Sehnsucht darüber. Sie waren gestärkt und durch die Heißmangel gedreht worden. Steif wie Bretter. Wäsche wie aus einer anderen Zeit. Sie vermittelte Geborgenheit und erinnerte Greta an das gleiche besondere Flair, das von den aufwändig gedeckten Esstischen ihrer Kindheit ausgegangen war. Sie selbst besaß nicht einmal einen Wäschetrockner. Bei ihr blieb das meiste ungebügelt und in jedem Fall ungestärkt.

In den unteren Fächern des Schranks standen mehrere alte Plätzchendosen aus bemaltem Metall. Sie sahen aus wie jene, in denen ihre Großtante den Süßigkeitenvorrat aufbewahrt hatte, den sie ihren Gästen auf feinem Porzellan angeboten hatte. Greta sah die kleinen chinesischen Schalen vor sich, mit den orangefarbenen Mustern und den köstlichen Trüffeln darin. Meist waren es Belgische gewesen. Die hatte Tante Mia besonders geschätzt.

Süßigkeiten lagerten heute nicht mehr in den Dosen, stattdessen weitere Fotos. Viele von Menschen, die Greta nicht kannte. Die meisten Aufnahmen waren in Schwarz-Weiß. Als Kind hatte Greta gedacht, dass die Zeit und somit alles, was auf den Fotos abgebildet war, tatsächlich schwarz-weiß gewesen war. Die Menschen ebenso wie die Bäume, Häuser, Straßen, Geschäfte. Die ganze Welt. Sie lächelte bei dem Gedanken.

In einer Dose fand Greta ein paar Schreibhefte und Briefe. Feine hellblaue Umschläge, auf die in einer eleganten, zarten, schwarzen Tintenschrift eine Adresse in Gent geschrieben stand. Sie waren an Mia Lessing gerichtet, so der Mädchennamen ihrer Großtante.

Kurz fragte sich Greta, ob sie den Inhalt lesen dürfte. Doch wie hätte sie sonst entscheiden können, ob sie die Briefe aufbewahren oder entsorgen sollte? Es fiel ihr ohnehin schwer, die Spuren dieses langen, erfüllten Lebens zu löschen. Mit welchem Recht gab sie die Kleider ihrer Tante weg? Wie anmaßend, dass sie, die Großnichte, darüber befand, was es zu bewahren galt und was nicht. Wie klein jedes Leben wirkte, reduziert auf irdische oder besser gesagt materielle Errungenschaften. All die Liebe, die ihre Großtante gegeben hatte und deren Widerschein Greta noch immer wärmte, die Funken ihres Charmes, ihr Witz und ihre Herzlichkeit hatten sich in Gretas Gedächtnis eingebrannt. Die Erinnerung daran war nicht mit ins Grab gegangen und war ohnehin nicht in irgendwelchen Kisten zu verstauen. Greta seufzte, als könnte sie sich damit auch von der Last befreien, die sich vor ein paar Tagen auf ihre Brust gelegt hatte.

So lange noch jemand lebte, der Mia gekannt hatte, so lange würde ihr Wesen wirken. Dieser Gedanke gab Greta Kraft.

Hatten sie sich nicht ohnehin immer alles erzählt? Wenn sie vor lauter Kummer nicht mehr weiterwusste, hatte ihre Großtante sie oft in den Arm genommen und so lange gehalten, bis Greta sich wieder beruhigt hatte. Mit diesen Gedanken zog Greta den zuoberst liegenden Brief beherzt aus seinem Kuvert.

Gent, 23. Mai 1933

Herzallerliebste Mia,

wie schön Du warst, im halbschattigen Licht der Kathedrale. Ich hätte stundenlang so mit Dir sitzen mögen. Selbst wenn Du kein Wort mit mir gesprochen hättest. Gebadet hätte ich in Deinem Widerschein. Kaum hattest Du mir Adieu gesagt, begann in meinem Innern eine solche Sehnsucht sich zu entfalten, dass ich am liebsten zu Deiner Wohnung gelaufen wäre, mich auf die Schwelle der Türe gesetzt hätte, um nur ja nicht den Augenblick zu verpassen, an dem Du wieder in die Welt hinaustrittst. Mia, ohne Deinen Anblick fühle ich mich verloren. Was soll ich tun, wenn ich nicht in Deine Augen schauen kann, bis zu Deiner Seele? Wie soll ich die Tage füllen bis zum Abend, wenn ich Dich wiedersehen darf? Gib mir rasch Nachricht, ob ich Dich am kommenden Wochenende wieder zum Essen und zum Tanz ausführen darf. Oder wenn es Dir ein weiteres Mal behagt, auch zum Genter Altar, der es Dir genauso angetan hat wie mir.

Ich erwarte also Deine Antwort, in treuer Demut,

Benommen ließ Greta das Blatt sinken. Sie war noch keinem Mann begegnet, der seine Gefühle so poetisch und doch ehrlich aussprechen konnte wie der Absender dieser Zeilen. Auch nicht in einem Brief. Briefe bekam Greta ohnehin nur noch selten in Zeiten von E-Mail und Kurznachrichten. Als Teenager hatte sie einige erhalten. Ihr erster Freund hatte ihr mit vierzehn Jahren in die Sommerferien hinterhergeschrieben. Er hatte Fotos beigelegt. Eines zeigte ihn mit schiefgelegtem Kopf am Briefkasten des Familienferienhauses, wo er vergeblich auf Antwort gewartet hatte. Sein trauriger Blick erinnerte Greta ein wenig an seinen Hund – einen Basset.

Zwei Sommerferien später hatte Greta gemeinsam mit ihrer besten Freundin Miriam in Bayern einen Segelkurs belegt. Ihr damaliger Freund hatte ihr Briefe geschrieben, in denen er eine Ecke umgeknickt und Miriams Namen darauf geschrieben hatte. Öffnete diese die Ecke, stand dort „Sei nicht so neugierig“ oder „Der Brief ist für Greta“. Natürlich teilte Greta ihre Briefe jedes Mal mit Miriam. Sie war ihr bis heute als beste Freundin erhalten geblieben.

Der Name unter dem Brief, den Greta jetzt in der Hand hielt, war derart hingeschnörkelt, dass sie ihn nur schwer entziffern konnte. Es schien Hugo zu heißen. Greta stutzte. Der Name ihres Großonkels war Carl gewesen. So viel Greta wusste, waren Mia und Carl 1933 bereits verlobt gewesen. Wer also war Hugo? Gretas Herz klopfte, als wäre sie bei einer Heimlichkeit ertappt worden. Sie beschloss, die Blechdose mit den Briefen und Heften mit nach Hause zu nehmen. Ebenso wie sämtliche Fotos. Um alles zu sortieren, würde sie eine Weile brauchen. Aber auf diese Weise konnte sie auch weiterhin Zeit mit ihrer Großtante verbringen.

Auf der Rückfahrt dachte Greta an den poetischen Brief und an Tante Mia. Irgendwann hatte die Großtante ihr mal erzählt, dass sie ein paar Semester Kunstgeschichte in Gent studiert hatte, dem aber kaum Bedeutung beigemessen. Es war so lange her. „Wie in einem anderen Leben“, hatte die Großtante gesagt und verträumt gelächelt. Im Nachhinein hätte man einiges hineinlesen können in dieses Lächeln, dachte Greta.

Sie war selbst nie in Gent gewesen, hatte aber vom Genter Altar gehört – einem der wichtigsten Werke des späten Mittelalters. Sie hatte sich aber nie damit beschäftigt, weil das Mittelalter nicht zu ihren Lieblingsepochen gehörte. Es waren Zeiten, als Künstler noch in Werkstätten gearbeitet hatten und von hoher Stelle finanziert worden waren. Diese Art der Unterstützung hätte auch den meisten Künstlern in Gretas Umgebung gut getan. Kaum einer der Düsseldorfer Maler und Fotografen, die sie kannte, konnte von der Kunst leben.

Zurück zu Hause, konnte Greta es kaum erwarten, die Briefe mit der eleganten, schwarzen Schrift nach dem Datum zu ordnen. Dabei stellte sie fest, dass der Brief, den sie gelesen hatte, nicht der Erste gewesen war. Es gab noch eine ganze Reihe von Briefen, die besagter Hugo an ihre Großtante verfasst hatte. Greta suchte sich den Brief mit dem frühesten Datum heraus und begann ihn zu lesen.

Gent, 10. April 1933

Hochverehrtes Fräulein Mia,

es war mir ein großes Vergnügen, heute nach der Vorlesung mit Ihnen zu plaudern. Ihr Kunstverstand ist ganz bemerkenswert. Ich habe mich selten mit einem Menschen so austauschen können über das Leben Turners, die Werke der Präraffaeliten. Über John Ruskin und die gesamte Entourage.

Ihr Esprit, ihr Charme haben mich ehrlich gesagt überwältigt. Verzeihen Sie daher die Kühnheit meiner Frage: Würden Sie wohl bald einen Kaffee mit mir trinken gehen und dabei unser Gespräch fortsetzen? Das würde mich sehr freuen. Lassen Sie mich wissen, ob und wann es Ihnen passt. In freundlicher Verehrung, Ihr Hugo Leuvens.

Greta hatte sich mit ihrer Großtante selten über Kunst unterhalten, eher über Politik. Sie hatten sich gemeinsam Sorgen um die Welt gemacht. Oder sich gegenseitig an die Menschen erinnert, die sie verloren hatten. Greta hatte sich dabei wie eine von zwei einsamen Inseln gefühlt, die durch eine Brücke miteinander verbunden waren. Jetzt stellte sie überrascht fest, dass die andere Insel voller Geheimnisse steckte. Gespannt nahm sie sich den nächsten Brief vor.

Gent, 12. April 1933

Liebstes Fräulein Mia,

so sei es denn der Sonntag, 16. April um 15 Uhr. Mir gefällt, dass sie zunächst den Genter Altar besichtigen wollen. Er zählt tatsächlich und natürlich auch zu meinen Lieblingswerken auf der Welt. Ich bin schon bis aufs Äußerste gespannt, welche klugen Gedanken zu diesem Wunderwerke Sie mir mitteilen werden.

In freudiger Erwartung, Ihr ergebener Hugo Leuvens.

Gent, 16. April 1933

Mein liebes Mia-Kind,

was haben Sie doch für eine blühende Fantasie! Sie haben in jede Ranke dieses Meisterwerkes mehr hineingelesen als ein gestandener Kunsthistoriker im gesamten „Lamm Gottes“ an Emblematik entdeckt hätte. Ich möchte sie jedoch bitten, ihre bezaubernd wirren Gedanken nicht jedem Dahergelaufenen mitzuteilen. Er könnte das missverstehen. Ich dagegen bin umso verwirrter und taumele wie trunken durch die Gegend, seit wir uns getrennt haben. Sie haben mich beschwipst und beglückt zu etwa gleichen Teilen. Ein Zustand, in dem ich mich möglichst lange befinden möchte. Ich fürchte jedoch, dass sie ihn bald werden auffrischen müssen. Bitte, lassen Sie mich nicht zu lange auf eine Fortsetzung unserer Begegnung warten!

In Verehrung, Ihr Hugo Leuvens.

Gent, 17. April 1933

Mia, oh Mia,

Sie haben mir etwas angetan mit diesem Blick. Von unten herauf, schelmisch, dieser Bengel-Anteil und dann wieder dieser Unschuldsengel, der ihn durch Ihre langen Wimpern wegklimpert und die große Sanftheit, die Ihrem Herzen innewohnt, durchdringen lässt. All diese stummen Versprechen ihrer Weiblichkeit, sie bringen mich um.

Ich habe Gerüchte läuten hören, wonach Sie bereits einem anderen versprochen sind. Ist das wahr? Bitte sagen Sie mir, dass es nicht stimmt und dass ich noch hoffen darf!

In banger Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich, Ihr Hugo Leuvens. (Um den Verstand gebracht, aber nicht ohne Verständnis.)

Greta war so vertieft, dass sie fast vergessen hätte zu atmen.

An dieser Stelle brauchte sie eine Pause. Zu sehr wühlten sie die Briefe auf. Schon lange war sie nicht mehr so berührt worden. Hinzu kam die Verwunderung über diese Liebelei ihrer Großtante oder als was auch immer sich die Beziehung ihrer Großtante zu diesem Hugo Leuvens während der weiteren Lektüre herausstellen würde. Greta wunderte sich, dass ihr die geliebte Großtante niemals von dem Mann erzählt hatte, der ihr so unverblümt und auf so gekonnt charmante Weise den Hof gemacht hatte.

Sie war ziemlich sicher, dass ihre Großtante den Großonkel bereits Ende 1932 kennengelernt hatte. Von ihrer ersten Begegnung an der Universität in Bonn hatten beide häufig erzählt. Carl hatte dort Ingenieurswesen studiert. Doch er hielt sich oft in der geisteswissenschaftlichen Fakultät auf. Wegen der hübschen Frauen, wie er augenzwinkernd betonte. Carl hatte Mia in der Mensa angesprochen. Sie war ihm aufgefallen, weil sie während des Essens still in ein Buch vertieft gewesen war. „Wie eine Madonnenerscheinung“ hatte sie auf Carl gewirkt.

Dass eine Frau studierte, war in ihrer Generation durchaus etwas Besonderes gewesen, hatte die Großtante nicht ohne Stolz erzählt. In jener Zeit wurde der Zollstock bei einer Frau vor allem bezüglich ihrer Fähigkeiten als Hausfrau und Mutter angelegt. Man maß sie darüber hinaus vielleicht noch an ihrer Schönheit. Mia hatte das Glück gehabt, dass ihr Vater die Auffassung vertrat, dass Bildung die einzige Währung sei, die keiner Inflation ausgesetzt war. Sie dankte es ihm, indem sie ziemlich ehrgeizig zur Sache ging. Sicher hatte dieser Ehrgeiz sie damals auch nach Gent gebracht.

Hugo Leuvens. Greta gab den Namen bei Google ein und fand auf Wikipedia einen belgisch-deutschen Kunsthistoriker dieses Namens, der an der Genter Universität unterrichtet hatte und laut Wikipedia ein renommierter Experte für Turner gewesen sein musste, der viel publiziert hatte. Offensichtlich war das Schreibtalent von Mias Professor allerdings nicht auf wissenschaftliche Abhandlungen begrenzt gewesen. Seine Briefe lasen sich so spannend, dass Greta die Zeit aus den Augen verlor. Da war es einerlei, dass die Zeilen nicht an sie gerichtet waren, sie konnte nicht genug davon bekommen. Sie würde noch einen Brief lesen, bevor sie schlafen ging, danach musste es gut sein.

Gent, 18. April 1933

Fräulein Mia, liebes Fräulein,

das gestrige Gespräch mit Ihnen hat mich gleichzeitig betrübt und beglückt. Dass sie bereits verlobt sind, kann mich nicht wundern. Sind Sie doch das reizendste Geschöpf, dessen ich jemals ansichtig wurde. Doch wie hat es mich gefreut, dass Sie mir nicht gleichgültig gegenüber stehen. Darf ich also hoffen, dass noch nicht alles verloren ist? Dass es die Chance gibt, dass Sie mich doch eines Tages erhören werden? Darf ich hoffen? Darf ich? Werde ich Sie sehen? Nicht nur in meiner Vorlesung? Auf einen Kaffee vielleicht? Bitte!

In den Nächten tue ich kaum ein Auge zu. Der Gedanke an Sie hält mich wach. Tag und Nacht. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das sagt man allgemein und ich werde daran festhalten. Ich erwarte Ihre Notiz oder auch ein Wort im Vorübergehen.

Ihr aufrichtig hoffender Hugo Leuvens.

Greta konnte kaum noch die Augen offenhalten und befahl sich ins Bett zu gehen, wollte sie ihr Arbeitspensum am nächsten Tag auch nur halbwegs angemessen bewältigen. Sie schlief unruhig. Träumte seltsam. Ein Hochhaus in ihrer Heimatstadt Düsseldorf sollte einem Neubau weichen. Statt es zu sprengen, wurde es komplett auf ein Schiff gehoben und schipperte nun den Fluss entlang zum anderen Ufer, wo es anschließend stehen sollte. Der Anblick dieses schönen Gebäudes auf dem Schiff war kunstvoll. Viele Zuschauer verfolgten das Ereignis vom Ufer aus. Das Ganze wirkte jedoch kein bisschen wunderlich, sondern wie die perfekte Lösung.

Am nächsten Abend las Greta weiter. Sie hatte es vor gespannter Vorfreude in der Redaktion kaum erwarten können, nach Hause zu kommen. Hatte Hugo umsonst gehofft oder ihre Großtante ein Einsehen mit ihm gehabt, fragte sich Greta, auch wenn sie das Ende dieser Liebesgeschichte zu kennen glaubte. Schließlich hatte Mia ja Carl geheiratet. Greta hätte beinahe über sich selbst gelacht. Es war so völlig ohne Belang, was sie über die ganze Geschichte dachte und fühlte. Es lag doch alles schon so lange zurück. Sie lebten alle nicht mehr. Und doch hatte Greta das Gefühl, als würden sie wieder lebendig, indem sie die Briefe in sich aufsog.

Gent, 19. April 1933

Zauberhafte Mia,

danke für den wunderbaren Nachmittag, den Du mir geschenkt hast. Ich spüre noch Deine Lippen, wie sie sich den meinen öffnen. Nie hat mich eine Frau so beglückt wie Du. Mit nichts weiter als einem Kuss. Doch dieser Kuss hat mir so viel gesagt. Er hat mir verraten, wie es wirklich um Dein Herz bestellt ist. Danke.

Mit klopfendem Herzen zu Papier gebracht von Hugo.

Gent, 28. April 1933

Liebstes Mia-Kind,

ich bin kein junger Mann mehr. Natürlich kann Dein Carl Dir in den Dingen der Liebe viel mehr Gutes tun. Auch wird er Dir zweifellos ein Leben in wirtschaftlichem Wohlstand bieten. Doch unterschätze nicht den Wert meiner Zuneigung. Mein Herz ist erprobt und ich weiß, wie das Klopfen zu deuten ist, das es in diesen Tagen unaufhörlich beschleunigt. Du bist gewiss nicht die erste Frau in meinem Leben, aber ich wünsche mir so sehr, Du könntest die Letzte und einzig Wahre sein. Ich bin alt genug, um nicht mehr zu fürchten, ich könnte etwas verpassen, wenn ich mich der einen verspreche. Ich kann warten. Das möchte ich Dir gerne beweisen. Solltest Du Dich am Ende für mich entscheiden, wird das Warten auch nicht umsonst gewesen sein.

Bitte, nimm Dir die Zeit, die Du brauchst, um klar zu sehen, wem Dein Herz gehört. Ich werde Dich nicht drängen. Aber bitte deute es nicht als Gleichgültigkeit, wenn ich Dich lasse. Jeder Tag, der verstreicht, ohne mir die Gewissheit Deiner Liebe zu schenken, ist vergeudet.

Geduldig in der Ungeduld, auf immer Dein Hugo.

Gent, 14. Mai 1933

Mia, Du süße Zarte,

wie kann ich das Glück in Worte fassen, das Du mir bereitet hast? Ich spüre noch die Sanftheit Deiner Haut an meiner. Deine Hände an meinem Leib. Dein Drängen und dann wieder Deine Zurückhaltung. Du hast all mein Sehnen in dieser Nacht erfüllt. Egal wie Du Dich entscheiden wirst, diese Momente wird uns keiner nehmen.

Ewig, Dein Hugo.

Ihre Großtante als Objekt der Begierde – diese Vorstellung war Greta fremd. Sie hatte Mia, seit sie denken konnte, als ältere Frau und als dritte Großmutter wahrgenommen. Mütterlich ja, aber nie als Geliebte. Nicht einmal an der Seite von Carl war es Greta in den Sinn gekommen, sie als Frau zu betrachten. Ihre ätherische Schönheit kannte Greta nur von verblichenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen und aus Erzählungen. Dass noch dazu ein anderer Mann als Onkel Carl ihr so nahe gekommen war, brachte das Bild, das Greta von der Großtante hatte, arg ins Wanken. Es überraschte sie, dass es ein derartiges Abenteuer gegeben hatte in dem nach außen hin so geordneten Leben, das die Großtante geführt hatte. Warum hatte Tante Mia niemals von Hugo erzählt? Trotz der innigen Nähe, die sie verbunden hatte?

Leider konnte sie ihre Großtante nicht mehr fragen.

Niemand war mehr da, um die Dinge zurechtzurücken.

Hätte sie doch bloß mit ihrem Vater darüber sprechen können. Wohl niemand, außer ihr, hatte Tante Mia so nahe gestanden wie er. Doch er hatte nie etwas in der Richtung angedeutet. Er musste es doch gewusst haben. So viele Geheimnisse hatten sie mit ins Grab genommen.

Schon zwölf Jahre war ihr Vater jetzt tot. Greta erinnerte sich genau an den Tag, an dem er ihr von seiner Krankheit erzählt hatte. Sie war längst erwachsen gewesen. Dennoch war es ihr vorgekommen, als wäre erst in diesem Moment ihre Kindheit schlagartig zu Ende gewesen. Ihr sonst so lebensfroher Vater war bleich gewesen und ruhig.

„Tut mir leid, dass ich euch solche Scherereien mache“, hatte er gesagt und sich an einem Lächeln versucht. Er hatte Greta gebeten, für ihre Mutter da zu sein. Dass Nick, wie meist, nicht da war, hatten die Eltern bis zu diesem Zeitpunkt stets klaglos akzeptiert. Schließlich war er erfolgreich in seinem Beruf als Venture Capitalist. Das bedurfte vieler Opfer im Privatleben. Seine Abwesenheit war Mutter und Vater ein Indiz dafür, wie unentbehrlich er seinem Arbeitgeber war und dass er es einmal weit bringen würde. Sie hatten nie gesagt im „Gegensatz zu dir“. Doch genau das hörte Greta jedes Mal heraus.

Die Eltern hatten die nächste Zeit viel auf Reisen verbracht, um Abschied voneinander zu nehmen.

Ein halbes Jahr später war ihr Vater gestorben.

Auch Nick war zur Beerdigung gekommen. Greta hatte nicht aufhören können zu weinen. Nicks Gesicht hatte keinerlei Gefühlsregung gezeigt. Die wenigen Worte, die er an diesem Tag gesprochen hatte, genauso wenig.

Er hatte seine Kiefer aufeinandergepresst. Seine Hände waren die meiste Zeit zu Fäusten geballt gewesen.

Tante Mia war danach Gretas Hafen geworden. Der Tod ihres Neffen hatte die alte Frau tief betrübt. Doch sie ließ sich das kaum je anmerken. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Greta aufzufangen. Als Erstes hatte sie ihre Großnichte herzlich in den Arm genommen und die viel größere Greta gewiegt wie ein Baby. In Greta hatte sich für den kurzen Moment, den diese Umarmung gedauert hatte, der Trauerflor leicht gelüftet. Ebenso wie an manchem Wochenende, an dem die Großtante sie nun bekocht hatte. Sie hatte Greta ihre schaumige Orangencreme zum Nachtisch bereitet, die auf der Zunge prickelte durch den Zitronensaft, der hineinkam. Oder ihren feinen Kirschkuchen gebacken. Das Essen hatte Greta – abgesehen davon, dass es köstlich gewesen war – ganz nebenbei mit Geborgenheit versorgt.

Greta und Tante Mia hatten sich über Literatur unterhalten und darüber, was der Sinn des Lebens sei.

„Das Leben selbst“, hatte die Großtante gesagt. „Und die Liebe, in jeglicher Form.“

Dann hatte sie von Onkel Carls Großmut geschwärmt und dass er niemals Schlechtes über andere Menschen gesagt hatte.

„Es steht uns nicht zu, über andere zu urteilen“, war einer seiner Leitsprüche gewesen. Oder: „Wenn man nicht selbst drinsteckt, kann man es nicht beurteilen.“

Greta hatte in einem dieser innigen Momente gefragt, ob sich Carl und Mia niemals Kinder gewünscht hätten. Sie hätten ihnen doch so viel mit auf den Weg geben können. Großtante Mia hatte gesagt, dass ein Kind keinen Platz gehabt hätte in ihrem Leben. Außerdem hätte sie durch die ständigen Reisen der Großeltern viel Zeit mit Gretas Vater verbracht. Damit war das Thema beendet gewesen.

Greta hatte zu ihrem Vater ein emotionaleres Verhältnis gehabt als zu ihrer Mutter. Greta hatte in ihr eher die Frau bewundert, statt sie als Mutter wahrzunehmen. Sie hatte etwas Unnahbares gehabt. Greta erinnerte sich genau an das Gefühl, wenn die Mutter ihr mit der Hand über den Arm fuhr. Es sollte wohl Streicheln sein. Doch ihre überlangen, perfekt manikürten Fingernägel jagten dem Mädchen Schauer über den Rücken.

Greta hatte den Eindruck gehabt, als konkurrierte die Mutter mit ihr um die Liebe des Vaters. Dabei hatte Greta in dieser Hinsicht ohnehin auf verlorenem Posten gestanden. Eine unzertrennliche Einheit hatten sie gebildet, ihre Eltern. Schon Nick war nicht dazwischen gekommen.

Einmal in der Woche hatte Greta sich nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter bei einem netten kleinen Nachbarschaftsitaliener zu mediterraner Hausmannskost getroffen. Dabei hatte sie zusehen können, wie sich die Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, allmählich in Luft auflöste. Ihr Teller war nach dem Essen jedes Mal beinahe unberührt gewesen.

Nick war nicht wie Greta mit der Mutter essen gegangen. Dabei hätte sie auf ihn vielleicht sogar gehört. Dass er sich nicht kümmerte, verletzte sie jetzt mit einem Mal zutiefst. Doch das sagte sie nicht Nick, sondern hielt es Greta vor.

„Was soll ich noch hier?“, hatte die Mutter gefragt, als Greta ihr nahelegte, sich psychologischen Beistand zu holen. „Es ist doch niemand mehr da, der mich braucht.“

Greta fand das verletzend und sagte es auch. „Außerdem geht es im Leben nicht nur darum, gebraucht zu werden. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst“, hörte Greta sich trotzig einen der Leitsätze von Tante Mia nachsagen.

„Was weißt du denn schon? Du bist noch so jung.“

„Aber ich habe Papa genauso verloren wie du“, sagte Greta. Im selben Augenblick hatte sie gewusst, dass dieser Satz ein Fehler gewesen war.

„Maße dir bitte nicht an, unsere Beziehung nachvollziehen zu können. So etwas hast du noch nie erlebt. Und wenn du so weitermachst mit deinen Berührungsängsten, dann wirst du es auch niemals erleben.“

Greta war beinahe froh gewesen über die Aggressivität in der Stimme ihrer Mutter. Sie hatte sie als einen Rest von Überlebenswillen gedeutet. Wie sehr sie sich getäuscht hatte. Die Mutter hatte Raubbau an ihrem Körper betrieben. Irgendwann versagte ihr das Herz den Dienst.

Erst als auch die Mutter gestorben war, verstand Greta, was es hieß, ganz auf sich gestellt zu sein, konnte sie ermessen, wie viel die Eltern ihr gegeben hatten, trotz ihrer symbiotischen Beziehung.

Greta gestand sich ein, dass sie genau danach suchte. Nach einem Band vergleichbar dem, das ihre Eltern verbunden hatte. Nur in einem wollte sie den beiden nicht nacheifern. Sollte sie je Kinder bekommen, sollten sich diese nicht davon ausgeschlossen fühlen, sondern genährt.

Greta und das Wunder von Gent

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