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Kapitel 2

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Ihre Kindheitsfreundin Miriam ließ Greta nach dem Tod der Mutter nicht zur Ruhe und auf dumme Gedanken kommen. Greta und Miriam gingen in die Düsseldorfer Altstadt, meistens auf die Ratinger Straße, mal abends, mal morgens. Sie aßen riesige Salate oder überbordende Frühstücksteller in der Uel, was rheinisch war für Eule, und tanzten nächtelang im Ratinger Hof, wo einst der Punk erfunden worden war. Doch längst war die ehemalige Künstlerkneipe zahm geworden.

Am Wochenende gingen sie im Rheinstadion schwimmen oder in Kaiserswerth spazieren. Dort kehrten sie anschließend im Biergarten Ritter ein. Lernten Männer kennen, denen sie nicht ihre Telefonnummern gaben.

Manchmal gingen sie sonntags in die Jazzkneipe Miles smiles, um Livemusik zu hören, wenn es einmal nicht die Ratinger Straße sein sollte. Dort lernte Miriam irgendwann ihren späteren Mann kennen, mit dem sie mittlerweile zwei Kinder hatte.

Während all dieser Zeit war Greta eine Beobachterin gewesen. Das Leben schien sich auf einer Leinwand abzuspielen und sie schaute den anderen zu. Bei ihren Lieben und Abenteuern. Greta war auf der sicheren Seite. Gefühle aus zweiter Hand taten nicht weh, blieben ohne Konsequenzen. Gleichzeitig sehnte sie sich in einer der hintersten Ecken ihres Herzens nach eigenem Erleben. Nach einer Liebe, wie ihre Eltern sie ihr vorgelebt hatten, wenn dieses Vorbild sie häufig genug auch hemmte.

Regelmäßig hatte das Leben Greta einen Mann vor die Füße gespült wie Strandgut. Sie hob es auf, besah es von allen Seiten und warf es zurück in die Wellen. Es passte nicht. Der Aufwand lohnte nicht. Franz, David, Andreas – Namen ohne Belang. Für eines dieser störanfälligen Ökosysteme, genannt Paarbeziehung, taugten sie alle nicht.

Dann kam Daniel. Greta war gerade

dreißig geworden und schon ein paar Jahre Kulturredakteurin. Daniel war Reporter bei der gleichen Zeitung, für die Greta immer noch arbeitete.

Sie waren sich auf einer Jubiläumsfeier des Verlags begegnet, bei dem das Blatt erschien. Greta war beim Umdrehen am Buffet versehentlich gegen sein Rotweinglas gestoßen und danach war Daniels Hemd ruiniert.

Er hatte genervt geschaut. Als er aber ihr erschrockenes Gesicht gesehen und ihr entsetzt hingeworfenes „Oh nein! Entschuldigung!“ vernommen hatte, sagte er lachend: „Ein Glück! Das Hemd muss ich jetzt nicht mehr anziehen. Ich hasse Hemden. Ich komme mir da drin verkleidet und eingesperrt vor wie bei meiner eigenen Konfirmation. “

Greta hatte erleichtert in sein Lachen eingestimmt und danach war Daniel ihr für den Rest des Abends nicht mehr von der Seite gewichen.

Daniel war groß, hatte breite Schultern und schwarzes Haar, dessen Strähnen ihm häufig in die hellgrünen Augen fielen. Doch das Erste, was Greta auffiel, war seine Stimme. Sie war tief, voll und doch weich und erreichte sie sofort.

Der gemeinsame Beruf verband sie kaum, denn Daniel interessierte sich nicht sonderlich für Kultur. Die einzige Ausnahme waren Filme. Doch hier kamen sie selten auf einen gemeinsamen Nenner, weil Daniel lieber Actionstreifen schaute, Greta dagegen alte Filme, romantische Komödien und Arthouse-Streifen bevorzugte. Einziger Kompromiss waren subtile Thriller, Marvel-Comic-Verfilmungen und Science-Fiction. Was nicht passte, bemerkten sie naturgemäß in den ersten Monaten ihrer Beziehung nicht. Sie liebten beide gutes Essen und ein schönes Glas Wein. Ansonsten fielen sie übereinander her, sobald sich die Gelegenheit bot. Der Beginn ihrer Beziehung war rauschhaft. Doch nicht auf eine zehrende Art und Weise. Man verbrannte sich nicht dabei. Von ihrer ersten Begegnung an fühlte Greta, dass Daniel ihr gut tat. Jedes Wort, jede Geste und jede Berührung, die sie mit ihm austauschte, ließen sie das Leben am eigenen Leib spüren. Ihre Körper waren wie Antworten aufeinander.

Der Funke, der dieses Mal übersprang, wärmte nicht nur, er wuchs täglich. Genährt durch Gesten, Blicke und nicht zuletzt Gespräche.

Daniel war belesen, klug und engagiert. Er brannte für das, was er tat, und strahlte dennoch eine ungeheure Ruhe aus.

Seine Reportagen waren nicht selten investigativ. Er deckte mit Vorliebe unbequeme Geschichten auf. Er übernachtete mit Obdachlosen, um ihre Sicht der Dinge aufzuzeigen, recherchierte über die organisierte Kriminalität in Nordrhein-Westfalen oder die Kohleförderung in ihrem Bundesland, kurz nachdem das Kyoto-Protokoll verfasst worden war.

Daniel wirkte wie der reinste Gegenentwurf zu Nick, der vor allem an sich selbst interessiert war. Greta hatte daher auch keinen Sinn darin gesehen, die beiden einander vorzustellen. Sie hatte es für Verschwendung von Daniels Zeit gehalten. Nick war zu jener Zeit ohnehin nicht mehr in Düsseldorf gewesen, sondern lebte in Frankfurt. Und Daniel hatte nicht darauf beharrt, ihn zu treffen. Ihm war die Bekanntschaft mit Tante Mia wichtig gewesen, weil er ihre Bedeutung für Greta erkannte. Mia wiederum hatte ihm sehr gefallen. Ihre trotz des hohen Alters ungebremste Lebensfreude hatte ihm imponiert.

Daniels Leidenschaft neben Greta und seiner Arbeit war sein Motorrad gewesen. Wenn möglich, ging er zu Fuß zu Terminen. Zu allem anderen fuhr er mit dem Bike. Greta hatte anfangs nichts übrig gehabt für das laute knatternde Ding. Sie hasste es, wenn er damit unterwegs war, denn sie hatte Motorradfahrer immer als vorwitzig erlebt, als draufgängerisch, in völliger Diskrepanz zu ihrer totalen Schutzlosigkeit. Der frühe Tod ihrer Eltern hatte einen vorsichtigen Menschen aus ihr gemacht. Sie fühlte sich verletzlich.

Als Daniel Greta einmal zu ihrer Großtante ins Bergische begleiten wollte, bedeutete er ihr, hinter ihm Platz zu nehmen, und reichte ihr einen Helm, den er extra für sie gekauft hatte. Als sie hinter ihm saß, die Arme fest um seinen vertrauten Leib geschlungen und die Welt durch seine Augen betrachtete, fühlte sie sich unerwartet frei und beglückt. Es hatte nicht viel gefehlt und sie hätten abgehoben.

Der nächste Ausflug führte sie nach Arnheim. Daniel nahm sie mit in einen Coffeeshop und sie ließen sich die verschiedenen Haschischarten erklären. Greta bat den Mann hinter der Theke, ihr den richtigen Stoff für das erste Mal zu empfehlen. Er bereitete ihnen Northern Lights in einer Wasserpfeife zu. Sie wechselten sich bei den Zügen ab. Die Wirkung setzte erst allmählich ein, so als würde jemand ihre Seele kitzeln. Alles war auf einmal ganz hell. Greta fing an zu lachen, konnte gar nicht mehr aufhören zu glucksen. Daniel schaute sie amüsiert an. Auf ihn hatte der Stoff eine andere Wirkung. Er wollte schnell zurück ins Hotel. Aber wo war das Hotel? Sie standen auf der Straße und konnten sich nicht erinnern. Greta bekam ihre nächste Lachattacke. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, irrten sie noch eine Weile umher und fragten schließlich einen Passanten nach dem Weg.

Zurück im Zimmer schliefen sie drei Stunden miteinander. Greta nickte zwischendurch immer wieder ein und entdeckte bei jedem Aufwachen Daniels freundliches Gesicht über sich schwebend. Das löste erneute Lachkrämpfe aus und zum ersten Mal begriff sie den Sinn des Worts „Lachkrampf“. Sie war im Lachen gefangen, aber es fühlte sich gut an.

Von da an fuhren Greta und Daniel mit dem Motorrad in den Urlaub – nach Frankreich, Italien und Spanien. Über alle Berge. Lichte Panoramen und zerklüftete Gipfel waren die Hintergrundkulissen ihrer Reisen ins reine Glück. Sonnenlicht durchwobene Tage, gefüllt mit Gelächter, Strandspaziergängen und landestypischem Essen. In Italien von Mamma in der Küche zubereitet und von Figlio serviert, begleitet von gutem, manchmal auch schlechtem Wein. Das kam ganz auf den Hausgeschmack an, denn meistens war es Vino de la Casa.

Die Morgen begannen mit ineinander verwobenen Körpern. Die Abende endeten mit ineinander verwobenen Körpern. Selbst als sie schon zwei Jahre ein Paar waren. Begleitet wurde dies von Ewigkeitsschwüren, wie Greta sie sich vor Daniel niemals hätte vorstellen, geschweige denn hätte von sich geben können.

Daniel wollte Kinder mit ihr. Er gestand es Greta verlegen lachend bei einem Abendessen auf der liparischen Insel Salina. Sie waren inzwischen vier Jahre zusammen und beiden war feierlich zumute. Sie saßen auf der Terrasse ihres kleinen Hotels, tranken zu Pasta mit Tomaten und Kapern einen Nero d’Avola und sahen dem Stromboli beim Spucken zu. Ein magisches Spektakel. Greta war sich in diesem Moment bewusst, dass sie sich nie zuvor so lebendig gefühlt hatte. Nach Daniels Geständnis hatte sie sich auf seinen Schoß gesetzt, ihm beide Arme um den Hals gelegt und ihn sanft und lange auf den Mund geküsst. Es war ihr egal gewesen, was die anderen Gäste dachten.

„Ich wünsche mir eine kleine Greta“, sagte Daniel leise, als sie kurz aufhörte, ihn zu küssen.

„Aber einen kleinen Daniel bitte auch“, hatte Greta geflüstert.

Kurz darauf war Daniel mit seinem Motorrad verunglückt. Ein Auto hatte ihn übersehen und er war im hohen Bogen gegen eine Schallschutzmauer geschleudert worden.

Als Greta ihn im Krankenhaus besuchte, hatte ein Mann aus Verband in dem Bett vor ihr gelegen. Sie hatte beinahe kein Wort herausgebracht, weil er so fremd aussah. Nichts an dieser weißen Mumie erinnerte an Daniel. Nicht einmal seine Augen, da sie schwarz und blau und völlig verschwollen waren. Sein halbes Gesicht war bei dem Unfall zerquetscht worden. Man hatte ihn mühsam wieder zusammengeflickt. Der Aufprall hatte ihm mehrere Rippen gebrochen und eine Schulter ausgerenkt. Er hatte innere Verletzungen, unter anderem einen Milzriss.

Daniel hatte langsam ins Leben zurückgefunden. Die Ärzte hatten ihm ein neues Gesicht gebastelt. Nach ein paar Wochen hatte sich Greta an den neuen Daniel gewöhnt. Auch im Inneren hatte der Unfall Schaden angerichtet. Daniel war launisch mit Tendenz zum Zynismus, das war die größte Veränderung. Zu Greta war er weiterhin liebevoll gewesen, sorgte sich aber nun ständig, ob er sie noch glücklich machte. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich wieder unbelasteter begegnen und berühren konnten. Doch die Sorglosigkeit der ersten Zeit war verloren.

Die Ärzte hatten Daniel verboten, Alkohol zu trinken, weil der sich weder mit den Medikamenten vertrug, die er von nun an einnehmen musste, noch mit seinen lädierten Organen.

Motorrad fuhr Daniel weiter – und trank mehr Wein als zuvor. Er konnte nicht anders. Greta hatte sich dadurch bedroht gefühlt. Nicht sie als Greta, sondern sie als seine Freundin und Geliebte hatte das Damoklesschwert über ihm schweben sehen. Die Angst, ihn zu verlieren, hatte sie dünnhäutig werden lassen.

Noch immer träumten sie von einer gemeinsamen Zukunft. Davon, ins Ausland zu gehen, eine kleine Frühstückspension an einem Ort zu eröffnen, wo die Sonne schien, wo man am Meer sein konnte. Das hatte ihnen bis zum Schluss vorgeschwebt. Italien oder Lanzarote. Im ewigen Frühling. In Freiheit. Dort ihre Kinder aufwachsen zu sehen, die nie etwas anderes umgeben würde als pure Natur, das war es, was sich beide wünschten.

Mit nicht einmal vierzig Jahren war Daniel tot. Sie waren zusammen segeln auf einem See in Bayern. Daniel hatte an der Pinne gesessen, während Greta die Schoten festhielt. Sie war von ihnen beiden diejenige, die jetzt mehr Kraft besaß. Daniel hatte ihr „Klar zur Wende“ zugerufen und Greta sich bereitgemacht für das Manöver. Sie hatte gewartet, dass der Baum zur anderen Seite hinüberschwenkte. Doch plötzlich stand das Segel im Wind und flatterte vor sich hin. Sie wollte sich gerade scherzhaft bei Daniel über sein misslungenes Manöver auslassen, als sie ihn vornüber über der Pinne hängen sah. Sie ließ die Schoten los und stürzte zu ihm. Daniels Herz schlug noch. Fahrig bettete Greta ihn auf den Bootsboden, stellte seine Beine auf, weil sie das mal so gelernt zu haben glaubte, und rief schluchzend den Notarzt an. Dann versuchte sie mit zitternden Händen, das Boot wieder auf Kurs zu bringen. Dabei stolperte sie in ihrer Panik über Daniels Beine und stieß sich den Kopf am Baum. Benommen sackte sie neben Daniel auf den Boden und schluchzte, den Kopf auf seiner Brust, „Bleib bei mir. Bitte!“ Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass jede Minute zählte. Sie ging die einzelnen Schritte durch, indem sie laut mit sich selbst sprach. Plötzlich war alles von einer übernatürlichen Klarheit. Sie befestigte die Schoten der Fock so, dass sie sich nur noch auf das Großsegel konzentrieren musste. Pinne und Schoten hielt sie mit rechts. Mit der linken Hand streichelte sie immer wieder über Daniels Kopf zu ihren Füßen, der bald ganz nass war von ihren Tränen.

Im Nachhinein wusste Greta nicht, wie sie es geschafft hatte, das Boot in den Hafen zu bringen. Die Welt hatte hinter einem Schleier gelegen. Als sie anlandeten, hatte die Ambulanz bereits mit Blaulicht auf sie gewartet. Daniels Herz schlug noch. Doch auf dem Weg ins Krankenhaus blieb es stehen.

Greta hatte vor der Klinik gestanden. Sie hatte am ganzen Leib gezittert. Das Salz ihrer Tränen hatte alle Kraft aus ihr herausgewaschen. Die Beruhigungstabletten, die der Arzt ihr geben wollte, hatte sie abgelehnt. Sie hatte zu viel Schlimmes darüber gelesen. Sie konnte sich jedoch auch nicht vorstellen, alleine ins Auto zu steigen und nach Hause zu fahren. Sie rief Miriam an und bat sie, zu ihr nach Bayern zu kommen. Erst dann hatte sie Daniels Eltern benachrichtigt. Die Mutter war ans Telefon gegangen und hatte mit tränenerstickter Stimme nach ihrem Mann gerufen, bevor sie Greta wegdrückte.

Der Weg vom Krankenhaus zu Fuß zurück ins Hotel schien Greta voller unsichtbarer Hindernisse, um die sie herumstolperte. Endlich in ihrem Zimmer fiel sie schluchzend auf das Bett und in die Bodenlosigkeit. Hätte sie etwas tun können, um Daniel zu retten? War die Bootsfahrt zu anstrengend für ihn gewesen? Würde er noch leben, wenn sie an Land gewesen wären? Sie schneller an Land gekommen wären? Der Wind stärker geweht hätte? Sie nicht so umständlich, so ungeschickt wäre? Irgendwann war sie von den eigenen Gedanken so erschöpft gewesen, dass der Schlaf leichtes Spiel mit ihr hatte und sie in seine barmherzige Tiefe zog.

Als sie aufwachte, war es dunkel. Miriam saß neben ihr auf dem Bett, das Greta noch bis zum Morgen mit Daniel geteilt hatte. Sie strich ihr die von Tränensalz verklebten Haare aus dem feuchten geröteten Gesicht. „Es tut mir so leid“, sagte sie. Greta hatte gerade noch die Kraft gehabt, still zu nicken. Sie fühlte sich wie gelähmt.

Am nächsten Tag war Greta aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen, war mit Miriam hinuntergegangen in den Frühstücksraum und hatte nichts heruntergebracht außer einer Kanne grünen Tees.

„Du musst etwas essen“, hatte Miriam gesagt. Sie hatte für Greta ein Brötchen mit Butter und Honig geschmiert. Dann hatte sie es in mundgerechte Stücke zerteilt und ihr hingeschoben. Es war als blockierten die Tatsachen ihr die Speiseröhre. Als hätte sie schon einen großen Teller Wiener Schnitzel mit Pommes frites gegessen wie noch vor zwei Tagen gemeinsam mit Daniel. Ihre Wirbelsäule war zu schwach gewesen, ihren gedankenschweren Kopf zu halten. Er war nach vorne gekippt neben den Teller mit dem Honigbrötchen und riss die ganze Greta mit sich. Weinend ergab sie sich. Wieder strich Miriams Hand ihr über den Kopf. Doch die tröstliche Geste enthielt keinen Trost. Nie wieder würde sie Trost empfinden. Nie wieder würde sie sich glücklich schätzen, am Leben zu sein. Sie wollte nicht ohne Daniel auf der Welt sein. Sie wollte mit ihm gehen. Es war ihr egal, wohin.

Miriam half Greta, die Überführung des Leichnams nach Düsseldorf zu organisieren. Dann setzte sie sich an das Steuer von Gretas kleinem Wagen und fuhr sie zurück nach Hause. Sie schleppte ihr den Koffer die Treppe hinauf und schloss die Türe für sie auf.

Als Greta ihre Wohnung betrat, war sie des letzten Restes Hoffnung beraubt worden. Auch hier war kein Daniel mehr. Es war vorbei. Das Leben war zu Ende.

Drei Tage später stand Greta, gestützt von Miriam und Tante Mia, am Abgrund eines Erdlochs, über dem Daniels schwerer Sarg zu schweben schien. Sie war umgeben von Daniels Freunden und Familie und deren Trauer. Dennoch fühlte sie sich vollkommen allein.

Als sein bester Freund aus Kindertagen in der kahlen Friedhofskapelle ans Mikrofon trat und eine kurze Rede hielt, die er mit der Frage beendete: „Mit wem soll ich jetzt das Unmögliche träumen?“, löste sich Gretas Existenz in Tränen auf, obwohl sie gedacht hatte, keine mehr übrig zu haben.

In diesem Moment, an dieser Stelle kündigte Greta ihrem Leben die Verbundenheit auf, die sie an Daniels Seite empfunden hatte. Sie legte ihre Träume zu ihm ins Grab.

Alles war Greta mit Daniel möglich erschienen. Sie hatte geglaubt, am Anfang einer Beziehung zu stehen, die der Symbiose ihrer Eltern eines Tages nahe kommen würde. Durch Daniel war Greta nicht länger die Beobachterin gewesen. Doch erst jetzt wusste sie, was es hieß, wenn einem der wichtigste Mensch genommen wurde. Dieser einer Amputation gleichkommende Verlust. Die Stille danach. Die Leere. Schon morgens war sie so erschöpft, als hätte sie in der Nacht einen Acker umgepflügt. Trotz ihrer Erschöpfung stand sie morgens auf, sie duschte und zog sich an. Sie erzählte sich, dass das Leben weitergehen würde. Aber sie glaubte sich nicht. Sie ging einkaufen und kochte sich etwas zu essen. Sie redete sich gut zu, aß ein Drittel und war dann satt. Sie brach in Tränen aus, weil sie keinen Appetit mehr hatte. Auf nichts. Am allerwenigsten auf das Leben. Plötzlich verstand sie, was ihre Mutter durchgemacht haben musste. Sie verlor ein Kilo nach dem anderen. Schon vorher dünn, magerte sie nun zusehends ab.

Miriam schaute Greta zwei Wochen dabei zu. Dann machte sie ihr einen Termin bei ihrer Hausärztin. Diese schrieb Greta für einen Monat krank und überwies sie an eine Psychotherapeutin. Dort ging sie in den ersten beiden Wochen alle zwei Tage hin. Später dann noch einmal in der Woche. Dabei blieb es für das nächste Dreivierteljahr.

Das Erste, was die Therapeutin Greta fragte, war: „Sagt Ihnen das Wort Magersucht etwas?“ Natürlich sagte Greta das Wort etwas, doch sie wies es müde, und weit von sich. Sie hatte einfach keinen Hunger. Die Therapeutin sah sie daraufhin freundlich, aber fest an und sagte: „Sie sind nur für sich selbst verantwortlich.“

Später gab die Psychotherapeutin Greta Hausaufgaben auf. Eine Aufgabe lautete: „Überlegen Sie sich, was Ihnen gut tut, nur Ihnen, ganz unabhängig von Ihrer Beziehung.“

„Die Sonne, der Himmel, die Sterne, der Rhein“, schrieb Greta als Antwort in das dafür vorgesehene Heft.

Sie hatte einmal irgendwo gelesen, dass es hilfreich war, in schweren Zeiten an einem Fluss entlangzugehen – mit dem Strom. Symbolisch trug dieser alle Lasten mit sich fort.

Greta begann damit, an einem Tag, an dem die Sonne sie weckte. Und irgendwann wurde Gehen für sie zur Notwendigkeit. Sie ging und ging. Kilometerweit. An freien Tagen ließ sie sich vom Rhein an die Hand nehmen, folgte seinem Lauf, seinen Schlaufen, seinen Geraden. Sah graue Steinbrocken wie Nilpferde ab- und wieder auftauchen, je nach Hoch- oder Niedrigwasser. Den Groll über ihr Schicksal, ihre Angst vor dem, was kam, und die Schatten, die das Universum auf ihr Gemüt warf, lud sie auf den Rheinschnellen ab, indem sie den einen oder anderen Stein hineinwarf.

Als Kind hatte Greta sich nichts Langweiligeres vorstellen können, als um des Gehens willen herumzulaufen. Der Sonntagsspaziergang dehnte die typische Leere dieses Tages zusätzlich in die Länge.

Spaziergänge mit der Familie waren nur erträglich gewesen, wenn die Großtante dabei gewesen war. Sie hatte Greta an die Hand genommen. Zusammen waren sie gehüpft, bis eine von ihnen außer Atem kam. Die Großtante hatte es ihr vorgemacht: „Und eins, und zwei, und drei und vier. Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm. Und vorwärts rückwärts seitwärts rein.“ Und wieder von vorne. Oder sie spielten „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Manchmal versteckten sie sich auch voreinander. So wurden die Spaziergänge niemals langweilig.

Manchmal setzte Greta sich während ihrer Spaziergänge nach Daniels Tod auf eine Bank und schaute aus ihrer Trauerblase auf die Menschen in der Welt. Sie betrachtete die breiten Baumstämme der Parks und wünschte sich deren Stabilität und Stärke. Sie lauschte dem Gesang der Vögel. Wie schafften sie es nur, so sorglos zu klingen? Greta beobachtete spielende Kinder. Waren sich die Mütter ihres Glücks bewusst? Wussten sie, wie reich sie waren? In Gretas Trauerblase herrschte Leere.

Sie wollte nicht schon beim Aufwachen mit Daniels Abwesenheit konfrontiert werden. Hin und wieder übernachtete Greta daher auf Miriams Ausziehcouch.

Greta hatte dann wieder gearbeitet, weiterhin kaum gegessen und viel geschlafen. Gespräche mit Menschen, die nichts mit ihrem Job zu tun hatten, vermied sie, so gut es ging. Sie hatte Angst vor Fragen. Schon „Wie geht es dir?“ hätte einen Heulkrampf ausgelöst. Miriam und Mia waren die einzigen Ausnahmen. Sie konnten mit Gretas Tränen umgehen.

Es hatte fast zwei Jahre gedauert, bis Gretas Trauerblase geplatzt war. Bis sie das Leben wieder riechen und schmecken konnte und sich die Leere um sie in einen Raum voller neuer Möglichkeiten verwandelte. Dabei halfen die menschenfreundliche Therapeutin, Miriam, Tante Mia mit ihrer ungetrübt optimistischen Art, die sie immer wieder daran erinnerte, dass sie Atmen musste: „Atme tief durch, Greta, tief durchatmen!“ Und Leo, eigentlich Leopold – ein Künstler, den Greta bei einem Interview kennengelernt hatte. Er war nicht mehr ganz jung, aber attraktiv. Noch bevor sie Gefallen an ihm gefunden hatte, verliebte sie sich in seine Arbeiten. Die Farben waren stark, er verwendete sie sparsam mit maximalem Ausdruck. Sie erzählten von Kraft und Sensibilität. Im Laufe des zweistündigen Gesprächs begann es zwischen ihnen heftig zu knistern. Und nach einem Abstecher in die Melody-Bar, Gretas Lieblingsbar aus Studienzeiten, lockte Leo sie zurück in sein Atelier. Er hatte mit ihr zu Marvin Gaye und Tammi Terrells If this world were mine getanzt. Greta hatte sich gegen seinen Körper gelehnt wie gegen einen dieser Baumstämme im Park. Ihr war ganz leicht zumute gewesen. Kraft kroch zurück in ihre Knochen. Ihr Herz begann zu schlagen. Leo küsste sie. Küsste sie zurück ins Leben.

Mit der Zeit entpuppte Leo sich jedoch als eifersüchtig auf sämtliche Männer dieser Erde. Tote wie lebendige. Das mit einer Vehemenz, die Greta die frisch gewonnene Energie kostete und sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als sich von Leo zu verabschieden. Danach hatte sie sich geschworen, kein Drama mehr in ihr Leben einzuladen, zumindest nicht in Form eines Mannes. Sie wollte allein zurück auf die Füße finden und darauf stehen bleiben, komme was oder wer da wolle.

Greta und das Wunder von Gent

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