Читать книгу Greta und das Wunder von Gent - Katja Pelzer - Страница 6

Kapitel 4

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Als Greta die Briefe, die sie bereits gelesen hatte, in die Kiste zurücklegte, fiel ihr Blick auf die Schulhefte, die ebenfalls darin aufbewahrt waren und denen sie bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Sie sah es als einen Bruch der Privatsphäre, das Tagebuch eines anderen Menschen zu lesen. Das galt für nahestehende Menschen in besonderer Weise. Sie hatte auch Daniels Tagebücher gefunden und seinen Eltern gegeben, ohne darin zu lesen. Bei der Großtante wäre es etwas anderes. Sie war am Ende eines langen erfüllten Lebens gegangen und hatte unzählige Fragezeichen hinterlassen. Bei Daniel hatte Greta sich selbst schützen wollen, weil sie nicht wusste, was ihr auf den Seiten begegnen würde. Sie hätte nicht gewusst, wie sie mit negativen Äußerungen über sie oder ihre Beziehung hätte umgehen sollen. Hätte ihn weder zur Rede stellen noch klärende Gespräche mit ihm führen können. Sie wollte alles in Erinnerung behalten, wie es war.

Von ihrer Großtante brauchte Greta dagegen Antworten. Daher siegte in diesem Fall die Neugierde – eine unter Journalisten weit verbreitete Berufskrankheit. Greta nahm das oberste Heft zur Hand. Der erste Eintrag war von 1930. Sie suchte nach einem Heft, das die Tante möglicherweise 1933 geschrieben hatte, und fand es zuunterst. Es war ein blaues Heft, liniert, wie sie es von französischen Schulheften kannte. Auf dem Einband stand „Gent 1933/34“. Gretas Herz klopfte schneller, als sie das Heft aufschlug.

Gent, 8. April 1933

Den Eltern ist es schwer gefallen, mich in solch unruhigen Zeiten ziehen zu lassen. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Sie sehen Bildung jedoch als oberste Priorität im Leben und sind erfreut, dass ich diese Einstellung teile. Und sie haben doch noch Lisabeth! Die Gute. Sie wird sie auf andere Gedanken bringen. Sie gebärdet sich wie ein rechter Wildfang. Alle Hände voll zu tun für die Lieben.

Carl war beinahe in Tränen, dass ich, kaum haben wir uns gefunden, schon in die Ferne gehe. Wie albern. So fern ist es doch gar nicht und sicher werde ich viel lernen. Dann wird auch er an meinem Wissen seine Freude haben. Zumal es uns sicher auch ganz gut tun wird zu sehen, was wir wirklich aneinander haben. Denn kann man das nicht häufig erst aus der Distanz ermessen, wenn man sich wie von außen betrachtet? All die lieben Dinge werden uns aus der Ferne größer erscheinen, wenn sie uns wirklich lieb sind. Alles andere wird sich in Luft auflösen.

Gent, 10. April 1933

Nun bin ich also in Gent, dieser freundlichen kleinen Stadt. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ganz auf mich gestellt. So gerne möchte ich einen guten Eindruck hinterlassen. Wie wichtig war daher auch mein erster Tag an der Universität zu Gent. Den Hörsaal bevölkerte bereits zu früher Stunde eine große Anzahl Menschen – junge wie alte. Es summte und brummte eifrig wie in einem Bienenstock.

Dann schritt der Herr Professor ans Pult – auf seine Bühne sollte ich wohl besser sagen. Sein Auftreten wirkte wie der kühne Auftritt eines Hauptdarstellers. Es war deutlich erkennbar, dass er dafür geschaffen ist, Menschen in seinen Bann zu ziehen und ihnen die Liebe zur Kunst zu vermitteln. Hugo Leuvens ist ganz und gar bemerkenswert. Sein Gestus, seine Diktion – er unterrichtet auf Französisch. Welch’ großes Glück, dass ich solch sublime Materie in meiner Lieblingssprache aufnehmen darf!

Seine schwarzen Locken rahmen sein wohlgeratenes Gesicht. Er mag um die fünfunddreißig Jahre alt sein. Er spricht von J.M.W. Turner wie kein Zweiter. Erzählt Anekdoten, wie dieser sich bereits als kleiner Junge in den Sommerferien an den Sonnenuntergängen weidete. Seine Familie reiste Jahr für Jahr nach Margate, einen Ort, der gerühmt wird für seine Sonnenuntergänge. Leuvens berichtete uns davon, wie Turner in späteren Jahren dorthin zurückkehrte – nun als Maler. Mit Pinsel und Palette bewaffnet, ergötzte er sich an den changierenden Farben des Himmels und des Meeres. Unser Professor erzählte uns das pikante Detail, dass Turner eine leidenschaftliche Affäre mit seiner „Landlady“, Mrs. Booth, gepflegt haben soll. Leuvens erzählte jedoch auch von den High Teas, die Turner mit John Ruskin genoss, dem Sherry-Erben, dessen Herangehensweise an die Kunst so ganz anders ist als die aller anderen Kritiker.

Nach der Vorlesung musste ich meiner Begeisterung über seine Ausführungen Ausdruck geben. Daher ging ich zu Herrn Professor Leuvens und bedankte mich bei ihm für seinen vortrefflichen Vortrag. Er freute sich sichtlich und wir kamen ins Gespräch. Er fragte freundlich nach, woher ich komme, und war angetan, dass ich trotz vieler guter Universitäten in Deutschland die Genter Fakultät gewählt habe. Er spricht überdies fließend Deutsch und so wechselten wir vom Französischen ins Deutsche.

11. April 1933

Ich habe einen Brief erhalten – von meinem Herrn Professor. Ich dachte, mein Herz bliebe stehen, als ich ihn öffnete. Sein Inhalt hat mich, ehrlich gesagt, erröten lassen vor Freude. Er schreibt, das Gespräch mit mir habe ihm gefallen und er wolle es fortsetzen. Eine höchst aufregende Gelegenheit, die ich mir selbstverständlich nicht entgehen lassen werde.

16. April 1933

Ich war aufgeregt, wie ich es üblicherweise nicht von mir kenne. Aber wen wundert das? Professor Leuvens hat eine hervorragende Reputation und ist ein bis nach Deutschland bekannter und geschätzter Kunsthistoriker. Ich bin mir also der Ehre durchaus bewusst, die er mir

erweist. Doch mein Kopf war plötzlich leer. Ganz so, als wäre mein Gehirn auf Wanderschaft gegangen. Was habe ich diesem gestandenen Mann schon zu sagen? Sicher, ich habe meine Reifeprüfung in Kunst abgelegt und in Bonn das erste Semester absolviert. Aber was bedeutet das schon, misst man es am Wissen eines renommierten Professors?

All diese Gedanken waren müßig, wie sich alsbald herausstellte. Herr Professor Leuvens wirkte beinahe ebenso aufgeregt wie ich. Wenn es um Menschliches geht – so viel weiß auch ich schon –, hilft einem auch die hohe Wissenschaft nicht wirklich weiter. Die Blicke, mit denen er mich betrachtete, erzählten ohnehin eine andere Geschichte als sein Mund.

Wir sprachen weiter über Turner und Ruskin. Ich erzählte ihm auch von meiner großen Schwäche für die Präraffaeliten. Wie schön, wenn bildende Kunst und Literatur einander befruchteten und Neues hervorbrächten! Ich erzählte ihm von meinem Plan, mir für meine Abschlussprüfung eine Figur aus der Literaturgeschichte zu wählen und ihre Rezeption in der bildenden Kunst zu untersuchen. Als Beispiel erwähnte ich John Everett Millais Ophelia, die es mir in besonderem Maße angetan hat. Sie ist und bleibt mein Lieblingsbild und war bereits Gegenstand der Kunstarbeit im Rahmen meiner Reifeprüfung. Auch konnte ich im Gespräch nicht meine Faszination für Millais selbst verhehlen, der zu einem späteren Zeitpunkt die von Ruskin jahrelang schmählich behandelte Gattin, Effie, ehelichte.

Professor Leuvens wiederum erzählte daraufhin, dass Millais bei den Künstlern seiner Zeit nur „the child“ genannt worden war. Er wurde mit elf Jahren als jüngstes Mitglied aller Zeiten in die Royal Academy of Arts aufgenommen. Eine hübsche Geschichte, wie ich bemerkte.

Dann kamen wir auf den Genter Altar zu sprechen und ich sagte Herrn Professor Leuvens, dass er von Rechts wegen den Deutschen gehören würde. Er sah mich belustigt und verwundert zugleich an. Ich erinnerte ihn daran, dass der Wandelaltar lange Zeit im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin zu bewundern gewesen war. Es heißt, König Friedrich Wilhelm III. habe ihn 1821 dem englischen Sammler Edward Solly abgekauft – für vierhunderttausend Francs. Der hatte das wertvolle Stück zuvor von einem Brüsseler Kunsthändler erworben, der es angeblich für dreitausend Gulden vom Generalvikar der Diözese Gent bekam. Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland es den Belgiern zurückgeben. So wollte es der Versailler Vertrag völlig zu Unrecht. Denn Kunst darf überhaupt nicht für Reparationszahlungen aufgewendet werden. Während ich es jetzt hier niederschreibe, überkommt mich erneut der heiße Zorn. Auch in unserem Gespräch erregte ich mich über diese Ungerechtigkeit und bezeichnete den Genter Altar als deutsches Eigentum, rechtmäßig erworben, ungerechtfertigt entwendet. Oh, ich glaube, meine Augen funkelten. Den Herrn Professor zumindest überkam ein Lachanfall, als er mich so sah. Er sagte belustigt und ein wenig von oben herab: „Was haben sie doch für Planetenaugen, Mia. Ich kann jede Wolke in ihrer Himmelsfarbe erkennen, so vielschichtig ist das Blau.“ Da war ich ein Weilchen still, so berührten mich seine Worte. Wer kann es mir verdenken? Dann dachte ich rasch an meinen Carl und es wurde ganz friedvoll in mir.

Es ist ja auch einerlei, wo der Altar nun ist. Ich kann ihn mir jeden Tag ansehen, denn ich bin in Gent. Ich muss nur in die Kirche gehen. St. Bavo heißt sie. Wie wunderbar ist dieses aufwändige Werk! Am meisten hat es mir der Kristallstab von Gottvater angetan. So greifbar ist das durchscheinende Material, so realistisch dargestellt, dass man es berühren möchte, über den gläsernen Schaft streifen. Ich glaube zu wissen, wie es sich anfühlt. Mein Professor jedenfalls ermutigt mich, statt über die Präraffaeliten eine Abschlussarbeit über den Genter Altar anzustreben, genährt von meiner Leidenschaft für dieses Werk. So begründet er seine Empfehlung.

An dieser Stelle machte Greta eine Pause. Sie wusste, dass ihre Großtante als eine der ersten Frauen nach dem Krieg eine Dissertation in Kunstgeschichte geschrieben hatte. Aber je mehr sie in dem Tagebüchlein las, desto drängender wurden ihre Fragen. Wie begeistert Mia über die Genter Zeit schrieb und wie wenig sie ihr davon erzählt hatte. Nicht einmal über die kunsthistorische Seite dieser Erfahrung hatte sie mit Greta gesprochen, die sich als Kulturredakteurin doch ebenfalls viel mit bildender Kunst beschäftigte. Gerade die Präraffaeliten berührten sie doch auch. Hatte sie ihre eigene Bedeutung für die Großtante falsch eingeschätzt? Aber nein. Sie wusste, dass sie ihr viel bedeutet hatte. Doch irgendwie fühlte sie sich in diesem Moment von ihr übergangen. Von dem letzten Menschen, der ihr wirklich Familie war. Greta spürte Trotz in sich aufsteigen. Sie würde die alte Geschichte für den Rest des Tages ruhen lassen. Schließlich hatte sie auch noch ein eigenes Leben.

Als Greta sich der Wohnungstür näherte, hob Herr Schrödinger den Kopf. Er lag aufgerollt im Flur in unmittelbarer Heizungsnähe. Kurz musterte er sie in seiner unnachahmlich hochnäsigen Art aus stachelbeergrünen Augen. Als sie ihren geblümten Regenmantel anzog und in ihre Gummistiefel schlüpfte, sprang er auf und lief mit geschmeidigen Bewegungen in entgegengesetzter Richtung davon. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand er im Wohnzimmer. Seine Schönheit verblüffte Greta stets aufs Neue. Seine Gleichgültigkeit versetzte ihr dagegen einen leichten Stich. Wie sehr er in dieser Hinsicht Nick ähnelte! Sie schubste die aufkommende Verstimmung in eine Ecke, und öffnete die Wohnungstür.

Greta und das Wunder von Gent

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