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Kapitel 5

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Greta mochte ihre Stadt. Das Leben in Düsseldorf war von jeher bunt gewesen. Selbst Napoleon hatte vorbeigeschaut – ihm wurde daraufhin eine Straße gewidmet. Die Kaiserstraße war keine Schönheit, sollte aber eines Tages in einem Tunnel verschwinden und über ihr würde es Grün werden. So wollte es die Stadtplanung der Zukunft, was ganz in Gretas Sinne war. Sie hatte schon immer einen Bogen um die großen Straßen ihrer Stadt gemacht.

Viele internationale Unternehmen brachten heute internationales Publikum in die Büros, in die Geschäfte und bestimmten das Treiben in den Straßen.

Kaum irgendwo in Deutschland war das Beschaffen internationaler Lebensmittel so problemlos wie in Düsseldorf. Nirgendwo in Deutschland schmeckten Udon-Suppe und Sushi so fein wie hier, denn es gab in der ganzen Republik nur diese eine Japantown. Das erste japanische Restaurant hatte schon 1963 eröffnet, lange vor Gretas Geburt, ein Jahr später kam der Japanische Club dazu. Dabei war die japanische Gemeinde nur die siebtgrößte ausländische Community der Landeshauptstadt. Greta gefiel, dass andere Kulturen ihre Stadt prägten.

Sie bemerkte, wie sie die Eindrücke um sich aufsaugte. Es tat gut, sich wieder dem Hier und Jetzt zu öffnen. Das Lesen der Briefe hatte sie der Welt um sie herum merklich entrückt.

Sie wich einem Schauer aus, indem sie ein Stück mit dem Bus fuhr. Ein Mann stellte sich neben sie. Sein Gesicht erinnerte an das von Benedict Cumberbatch. Nicht Gretas Typ, aber ein hervorragender Schauspieler, wie sie fand.

Der Mann mit dem Gesicht wie Cumberbatch trug fangograue Kleidung – Jacke wie Hose. In der linken Hand hielt er senkrecht ein Stück Holz wie einen Spaltkeil. Er hielt es sehr fest. Wie fest, erkannte Greta an seinen bleichen Fingerknöcheln. Sie fühlte sich beinahe bedroht von diesem hölzernen Dolch. In einer Kurve geriet der Mann ein wenig ins Wanken, was er gekonnt ausbalancierte. Die Art, wie er das Holzstück hielt, änderte sich dabei keinen Deut. Gretas Blick und der einer Muslimin ihr gegenüber trafen sich und sie tauschten ein verschwörerisches Lächeln.

An der nächsten Station stieg Greta aus. Es hatte aufgehört zu regnen. Sie folgte einem plötzlichen Kaffeedurst Richtung Rhein, wo sie sich in ein Café am Ufer setzte. Es gehörte zu einem Ausstellungsraum, der in einem Teil des stillgelegten ehemaligen Rheinufertunnels lag. Von dort hatte man einen schönen Blick auf den ewigen Strom, der durch ein recht trockenes Frühjahr sehr schmal geworden war und sich erst allmählich durch einen unangenehm nassen April wieder füllte.

Am Fenster saß eine Fliege. Sie lief über das Glas. Stieß sie an die eine Rahmengrenze, lief sie zur anderen und drehte wieder um. Doch nie erklomm sie das Hindernis. Es schien sich wie eine unüberwindliche Mauer vor ihr aufzubauen. Sie hätte nur ihre Flügel ausbreiten brauchen, um davonzufliegen. Warum nur tat sie es nicht?, fragte sich Greta. Manchmal drehte sie sich auch in der Mitte des Fensters um sich selbst. Die Freiheit von allem war so greifbar und schien doch unerreichbar.

Als Greta später in den Supermarkt ging, belauschte sie unfreiwillig folgende Szene: Sie, in den Vierzigern, Russin dem Akzent nach; graublonde Perücke, große schwarze Sonnenbrille, enge Hose, weites Oberteil, schob einen Einkaufswagen vor sich her.

Er, südländischer Typ, kräftig gebaut, dunkler Teint, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, drückte sich am Kühlregal herum und schaute sie im Vorüberschieben an.

Unfreundlich fragte sie: „Was gibt’s da zu gucken?“

„Oh, ist Gucken verboten?“, fragte er.

„Bei mir schon!“

„Die Schönste der Schönen! Sie hat wohl Angst, dass man ihr die Schönheit weggucken könnte“, sagte der Mann, worauf sie mit einem „Pfff“ den Kopf zurückwarf und davonstolzierte.

„Eingebildete Pute“, warf er ihr hinter her.

Während sie ihren Einkaufswagen vor sich her zur Kasse schob, dachte Greta amüsiert, wie sehr sich die Umgangsformen zwischen Männern und Frauen in nicht einmal hundert Jahren verändert hatten. Noch zu Zeiten ihrer Großtante wäre eine Frau wohl über den schmachtenden Blick stumm hinweggegangen und hätte sich bei Missfallen schnell davongemacht. Bei Gefallen hätte sie den Blick schlicht erwidert, ebenfalls stumm. Aber vielleicht täuschte Greta sich. Vielleicht war der Umgang sogar noch unverhohlener gewesen. Zumindest den Zwanzigern wurde ja eine große Lebensgier nachgesagt. Ähnlich wie in den Siebzigern, die Greta nur knapp verpasst hatte. Wann immer Katastrophen lauerten oder gerade überstanden waren, brach sich die Lust des Am-Leben-seins Bahn. Alles andere wäre auch unerträglich gewesen.

Greta musste anstehen. Die Wartenden um sie forderten laut und vergeblich eine zweite Kasse. Ein Paar stritt. Ein Baby schrie und ließ sich nicht beruhigen. Der Mutter war das sichtlich peinlich.

Plötzlich sehnte Greta sich nach Gefühlen, wie sie aus Hugos Briefen sprachen und wie sie selbst sie mit Daniel erlebt hatte. Sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob sie wohl noch einmal etwas Derartiges empfinden können würde für einen Mann. Sofort schlossen sich Zweifel an. War sie überhaupt bereit dafür? Es gab Nächte, in denen sie erschrocken aufwachte mit dem Gedanken, dass nichts mehr in Ordnung war. Tage, an denen ihr das schiere Weiterleben schwerfiel. Allein ihr Job und Herr Schrödinger erinnerten sie dann daran, dass ihr Leben Sinn hatte. Wie willkommen war ihr da die Ablenkung durch eine Liebesgeschichte, die sich in der Vergangenheit abgespielt hatte. Von der sie wusste, dass zumindest die eine Seite die Sache heil überstanden hatte. Wie sonst hätte Tante Mia später die Frau sein können, die sie gewesen war?

Mit einem Mal fühlte sie sich wieder versöhnt mit ihrer Großtante. War sie nicht immer gut zu ihr gewesen? Vielleicht war Greta zu sensibel. Nahm sich selbst zu ernst. Vielleicht hatten die Tagebucheintragungen und der Inhalt der Briefe einfach im Laufe der Jahre für Mia selbst an Bedeutung verloren und sie hatte es nicht mehr für nötig befunden davon zu erzählen.

Greta merkte, wie sich ihr Schritt beschleunigte. Sie wollte zurück nach Hause. Wollte wissen, wie es weitergegangen war zwischen Mia und Hugo.

Greta und das Wunder von Gent

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