Читать книгу Wo ist denn eigentlich dieses Glück? - Katja Pelzer - Страница 10

Kapitel Acht

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Manchmal wünschte ich, ich hätte drei Paar Hände. Am nächsten Tag beispielsweise. Ich habe Spätschicht und muss um 16 Uhr anfangen.

Frau Engels hat ein Nagellackfläschchen in ihr Handwaschbecken fallen lassen, als sie sich mal schnell die Nägel lackieren wollte. Schnell geht in dem Alter eben kaum noch etwas. Ihre Hände zittern außerdem ziemlich, da ist das gar keine so einfache Angelegenheit, sich die Nägel zu lackieren und schon mal gar nicht schnell. Jetzt ist die weiße Beckenoberfläche jedenfalls über und über mit roten Flecken bespritzt, die ich kleinteilig mit Nagellackentferner herausreiben muss.

Das tut Frau Engels furchtbar leid. Mir wiederum tut es furchtbar leid, ihr zerknirschtes Gesicht zu sehen. Und ich beruhige sie, dass es doch gar nicht so schlimm ist. Auch wenn es echt schwierig ist, das Zeug wegzukriegen. Aber es gibt ja wirklich Schlimmeres.

Gleichzeitig erreicht mich der Notruf einer anderen Bewohnerin. Sie wollte Kaffee kochen, in ihrer Espressokanne. Und hat vergessen, Wasser hineinzufüllen. Der Geruch, der mir aus ihrem Appartement entgegenschlägt, ist eine Mischung aus verbranntem Gummi und reinstem Nikotin. Die zarte Dame ist ganz geknickt. Die Kanne war ein Geschenk ihrer Tochter zum Einzug.

Als ich gerade den geschmolzenen Dichtungsring vom Gewinde gekratzt und die Kanne mühsam mit Akkopaz geschrubbt habe, piepst mich Christel vom Empfang an und bittet mich, nach Vorne zu kommen.

Hier erfahre ich, dass Frau Meier auf der Polizeiwache sitzt. Sie ist verhaftet worden. Und ich soll hingehen, um sie auszulösen. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, warum ich eigentlich Krankenschwester geworden bin. Mein Job ist längst „Mädchen für alles“. Kümmerin eben, Also, was hilft’s?

Als ich die Wache betrete, sehe ich sie sofort. Frau Meier sitzt umringt von ihren drei Enkelkindern auf einem unbequemen Polizeibeamtenstuhl. Ihre Enkelsöhne sind fünf und sieben, ihre Enkeltochter neun Jahre alt, das hat Frau Meier mir kürzlich erzählt. Ich kenne die beiden Jungen und das Mädchen auch schon von Fotos und von Besuchen mit ihren Eltern.

Sie und ihre Oma schauen mich jetzt erleichtert und erwartungsvoll an.

„Schwester Alice, ich habe nichts Schlimmes getan, das können Sie mir glauben!“, sagt Frau Meier inbrünstig, bevor ich oder der Polizist, der ihr gegenüber hinter dem Schreibtisch sitzt, etwas sagen können.

Der Polizist nimmt eine Pistole vom Schreibtisch, zielt auf mich und ich reiße reflexartig die Arme hoch.

Der Beamte, der bestimmt zehn Jahre jünger ist als ich, verzieht keine Miene.

„Was soll das? Was tun Sie da?“ frage ich. Meine Stimme klingt schrill und angespannt, aber das ist noch gar nichts gegen die Anspannung in meinem Innern. Gleichzeitig kann ich mir aber auch nicht wirklich vorstellen, dass der Typ abdrücken würde. Schließlich ist er ja naturgemäß auf meiner Seite und müsste schon ein Wolf im Schafspelz sein um mir etwas antun zu wollen.

„Wie fühlt sich das an?“, fragt er jetzt und schaut mich dazu auch noch streng an.

Wie unverschämt! Wie soll sich das schon anfühlen? Sehr, sehr ungut natürlich!

Ich schaue ihm direkt in die Augen und versuche deren Ausdruck zu entschlüsseln.

Der Polizist sieht eigentlich ganz sympathisch aus. Er hat freundliche, sehr blaue Augen und einen netten Mund, den er allerdings gerade nicht zum Lächeln benutzt.

„Sie machen mir Angst“, sage ich wahrheitsgemäß. Und lasse trotzdem jetzt meine Arme sinken.

„Sehen Sie“, sagt der Mann triumphierend zu Frau Meier, lässt die Waffe sinken und wendet sich mir zu.

„Sie müssen nämlich wissen, dass diese nette Dame und die drei sympathischen Kinder die Waffe in der Straßenbahn mit sich geführt haben.“

Entgeistert fällt mein Blick auf Frau Meier.

Diese schüttelt entrüstet den Kopf. „Nun machen Sie aber mal halblang! Das ist doch bloß eine Spielzeug-Pistole! Außerdem habe ich damit auf niemanden gezielt. Ich habe sie nur für meine Enkelin Anni gehalten! Der gehört sie nämlich. Und Anni hier, möchte Polizistin werden.“

„Das mag ja sein. Aber Sie haben eine komplette Straßenbahn damit in Angst und Schrecken versetzt“, kontert der Polizist.

Mir wird ganz schwindelig und ich muss mich auf den Schreibtisch stützen.

„Oh, Verzeihung“, sagt der Beamte jetzt und schiebt mir einen Stuhl hin. Ich lasse mich erleichtert darauf fallen.

„Stimmt das?“, frage ich den Polizisten. „Ist das wirklich nur eine Spielzeugpistole?“

Ich hatte sie tatsächlich für echt gehalten. Ich ärgere mich darüber, dass der Kerl mir bewusst so einen Schrecken eingejagt hat.

„Ja, ist es“, antwortet er. „Aber eine täuschend echte. Frau Meier hatte sie auf dem Schoß liegen und ein paar Jugendliche haben sie gefilmt und den Fahrer alarmiert. Wir haben sie dann an der nächsten Station in Empfang genommen.“

„Schwester Alice, ich habe nichts getan. Glauben Sie mir bitte! Das ist doch alles maßlos übertrieben“, sagt Frau Meier. Sie ist sichtlich echauffiert.

Ich möchte ihr schon Recht geben, da schaltet sich wieder der Beamte ein.

„Nicht ganz“, sagt er wichtigtuerisch. „Sie haben gegen das Waffengesetz verstoßen!“

„Wie das?“, frage ich, „Wenn es sich doch um keine echte Waffe handelt?“

„Das gibt eine Anzeige für das Führen einer Anscheinswaffe“, poltert der Polizist ungebremst weiter.

„Ist das denn wirklich nötig? Seien Sie doch froh, dass es nur ein Spielzeug ist! Sie hat doch niemanden damit bedroht“, wende ich genervt ein.

„Tja, Gesetz ist Gesetz. Hundert Euro kostet das, bitte“, fordert der Mann.

Was soll ich sagen? Frau Meier zahlt ihre Strafe und sie, ihre verängstigten Enkel und ich fahren gemeinsam im Taxi – das sie natürlich ebenfalls bezahlt – ins Seniorenheim zurück.

Ich darf mit ihnen auf den Schreck dann noch kalte Hundeschnauze essen und warmen Kakao trinken. Beides sehr köstlich. Ich fühle mich auf eine wunderbar geborgene Art an meine Kindheit erinnert.

Plötzlich prustet Frau Meier heraus und der Kakao spritzt durch die Gegend. Das bringt wiederum die Kinder zum Lachen und die Tischdecke ist total ruiniert.

„Was für ein beklopptes Land!“, sagt Frau Meier. „Da schießen die Polizisten mit Kanonen auf Spatzen.“

Ich muss jetzt auch lachen. Sie hat ja so Recht! Wie völlig übertrieben. Dass die Menschen nicht weggucken ist ja gut. Aber die Strafe ist wirklich völlig überzogen. Frau Meier hat schließlich nichts Schlimmes getan.

Leider kann ich natürlich nicht länger bleiben. Genaugenommen hätte ich gar nicht bleiben können. Die anderen alten Leutchen warten und ich habe ein schlechtes Gewissen. Aber Frau Meier hat ja jetzt netten Besuch und braucht mich ohnehin nicht mehr.

Die meisten Senioren hier bekommen regelmäßig Besuch. Außer Frau Eberhard. Sie hat keine Familie. Aber sie hat ja Herrn Arnold.

Wo ist denn eigentlich dieses Glück?

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