Читать книгу Kuss der Wölfin - Die Begegnung (Band 3) - Katja Piel - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеIn den Wäldern von Bedburg, um 1590
«Du bist ein Monster»
Lass ihn, Raffaelus. Ich bitte dich“, Marinas Stimme senkte sich zu einem Flüstern, obwohl niemand in der Nähe war. „Er ist verloren.“ Doch Raffaelus schüttelte den Kopf, sah zu der jämmerlichen Gestalt hinüber, die sich auf dem Boden krümmte, besudelt von Blut und Schlamm. Immer wieder wie besessen aus der Pfütze trank und mit den Augen rollte, sodass zum Teil nur das Weiße zu erkennen war. Das Wesen, Marcus, kratzte sich die Arme auf, wischte sich über den Mund, zog die Nase hoch. Wasser zeichnete feine Linien in den verkrusteten Schlamm, der auf seiner Haut lag. Marina zog an Raffaelus Arm, doch der schüttelte sie ab.
„Er gehört zu unserem Rudel. Es ist meine Pflicht, ihn zu retten. Ich weiß, es ist nicht einfach, aber vielleicht gelingt es uns …“ Nachdenklich sah er zu Marcus hinüber. Er würde ihn einsperren müssen. Er dürfte kein Fleisch, kein Blut mehr zu sich nehmen, weder menschliches noch tierisches. Raffaelus hatte noch nie einen blutsüchtigen Wolf erlebt, der diese Prozedur überstanden hätte. Letzten Endes mussten sie meistens getötet werden.
„Du kannst ihm nicht mehr helfen. Niemand kann das. Er ist dem Blutrausch verfallen. Siehst du das nicht?“ Raffaelus sah zu Marcus hinüber.
Marina hatte Recht. Er war im Blutrausch. Neben ihm lag eine Frauenleiche, aus deren Kehle das Blut in den Matsch sickerte. Marcus schöpfte die rotbraune Masse in seine Hände und kippte sie auf seinem Kopf aus. Die Flüssigkeit lief über sein Gesicht und er leckte sich über die Lippen, schmatzte, stöhnte hingebungsvoll.
„Ich muss es versuchen. So weit kann die Sucht nicht vorangeschritten sein. Erst vor wenigen Wochen habe ich Adam fortgeschickt.“ Beruhigend tätschelte er Marinas Arm. Sie hatte Angst. Sie war schon lange genug auf der Welt, um zu wissen, was aus blutsüchtigen Werwölfen wurde. Einen Wolf, der im Rausch war, zurückzuholen, kostete nicht nur Geduld, sondern auch Mut, und er hatte bislang noch keinen blutsüchtigen Wolf erlebt, der die Sucht besiegt hätte. Sie blickten sich in die Augen und wussten tief im Inneren, dass eine wichtige Entscheidung bevorstand. Entweder musste er Marcus töten oder versuchen, ihn zu retten und dabei sein eigenes Leben riskieren.
„Wie lange sind wir schon zusammen, Marina?“
„Um die fünfhundert Jahre. Du weißt, ich zähle nicht nach.“ Sie fuhr sich ungeduldig durch die Haare.
„Es werden noch weitere fünfhundert Jahre werden“, versprach er, strich ihr über die Wange.
„Hör auf, Raffaelus. Ich mag keine Gefühlsduseleien.“
Raffaelus strich sich durchs Haar, straffte die Schultern und ging auf die Gestalt zu, die sich im fahlen Mondlicht im Dreck suhlte.
Wenn sie Marcus in den Griff bekommen könnten, wäre er eine Bereicherung für das Rudel. Seine Kraft, sein Durchsetzungsvermögen würden das Rudel stärken.
Hinter ihm sog Marina zischend Luft ein, er spürte ihre Nervosität.
„Warte!“, hielt sie ihn zurück und griff nach seinem Arm. Raffaelus drehte sich zu ihr und sie zog ihn an sich, legte ihre Lippen auf seine und küsste ihn lange.
Raffaelus trat auf einen Ast, der laut knackend unter seinen Füßen zersprang. Das Geräusch schreckte Marcus hoch. Wie ein wildes Tier blickte er um sich. In seiner menschlichen Gestalt musste er den Wolf mit aller Gewalt zurückgedrängt haben. Auch, dass er auf die Umgebung achtete, war ein Zeichen dafür, dass Marcus nicht verloren war. Also war es noch nicht zu spät. Aber es war allerhöchste Zeit …
„Marcus …“ Raffaelus näherte sich vorsichtig. Der Gestank aus Exkrementen, Blut und Dreck wehte ihm um die Nase. Marcus‘ Augen blitzten weiß aus dem Schmutz hervor. Feindseligkeit lag in ihnen. Seine Körperhaltung ähnelte einem panischen, in die Ecke getriebenen Monster, einem wilden Tier. Das Blut wirkte auf ihn wie ein starkes Rauschmittel. Marcus‘ Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft, sein Körper zum Zerreißen angespannt. Nur noch wenige Armeslängen trennten Raffaelus von seinem jungen Gefährten, der weiterhin jeden seiner Schritte taxierte. Als seine Lippen sauber geleckt waren, drehte er den Kopf weg, begann wieder, die stinkende Brühe mit den Händen aufzuschöpfen und davon zu trinken. Dann beugte er den Oberkörper nach hinten, griff sich in die Haare, rieb sich die Augen und kratzte erneut seine Oberarme.
Raffaelus richtete seinen Blick auf die tiefen Kratzer, aus denen etwas Blut lief. Ein letzter Schritt und er stand direkt neben ihm, sah auf ihn hinab. Seine nackten Füße versanken in der Pfütze, und als er in die Hocke ging, traf sein Po das glitschige Nass.
Er streckte die Hand aus, berührte Marcus am Arm. Marcus wandte sich flink zu ihm, sein Blick war unstet, schnellte von rechts nach links. Immer wieder zog er den Rotz hoch, rieb sich die Nase, kratzte sich am Arm.
„Marcus. Wir wollen dir helfen“, flüsterte Raffaelus. Er wollte diesen Gefährten nicht töten, wie er es mit vielen Süchtigen zuvor hatte machen müssen, weil sie nicht mehr kontrollierbar gewesen waren. Er war sicher, dass noch Hoffnung bestand. Immerhin saß Marcus in seiner menschlichen Gestalt vor ihm. Aber er konnte nicht zu ihm vordringen. Raffaelus wusste, dass er gefährlich war, denn in diesem Stadium war kaum noch abschätzbar, wie Marcus reagieren würde. Entweder er könnte es schaffen, ihn in seine Gewalt zu bringen und einzusperren oder aber es würde auf einen Kampf hinaus laufen. Da Marcus durch das menschliche Blut gestärkt war, ginge es um einen Kampf auf Leben und Tod.
Es drangen keine verständlichen Worte aus seinem Mund, nur tierische Laute.
„Marcus“, sagte Raffaelus sehr deutlich, „hör endlich auf. Ich muss dich töten, wenn du nicht …“ Marcus‘ rechter Arm schnellte nach vorne wie eine wütende Schlange, packte Raffaelus am Unterarm und zog ihn mit einem Ruck zu sich, sodass dieser das Gleichgewicht verlor und mit dem Gesicht voraus den Schlamm fiel.
Marcus zerrte ihn mit einer Hand hoch und zu sich heran, strich mit dem Zeigefinger über die schlammige Haut und steckte ihn sich in den Mund. Ein Zucken umspielte seine Lippen. Raffaelus starrte ihn an. Erkenntnis breitete sich in ihm aus.
„Wer hier wohl wen töten wird, mein lieber Raffaelus. Das ist doch hier die Frage, findest du nicht auch?“
Er legte den Kopf schief, die Funken eines unheiligen Feuers tanzten in seinen Augen. Raffaelus versuchte sich aus dem Griff zu befreien aber aufgrund des glitschigen Schlammes konnte Marcus ihn nicht länger greifen. Er erhob sich, wandelte sich halb, um von der Kraft des Wolfes zu schöpfen, wusste allerdings tief in seinem Inneren, dass Marcus zu stark war. Das Blut. Das Böse. Der Hass. Die unermessliche Macht, die ihm verliehen worden war, ließ ihn über sich hinaus wachsen - und gleichzeitig wusste er sehr wohl, was er tat. Er hatte ihn, Raffaelus, reingelegt. Dass Raffaelus davon ausgegangen war, er würde abgleiten, für alle Ewigkeit ein Wolf sein, der wie im Wahn Dörfer überfallen würde, bis man ihn tötete, war ein Irrtum gewesen. Marcus war nicht verloren. Marcus war berechnend. Eine tödliche Waffe, die sich immer und ständig im Griff hatte. Er hatte ihn reingelegt, ihn angelockt. Es war ein gefährliches Spiel, denn Raffaelus hätte ihn auch aus der Ferne töten können. Marcus hatte eine 50:50 Chance gehabt, dass er so reagieren würde, wie von ihm gewünscht.
„Du bist ein Monster“, stammelte Raffaelus, entfernte sich rückwärts von ihm. Er wagte es nicht, sich umzudrehen und Marinas Blick zu suchen.
Aus den Augenwinkeln sah er ein Funkeln unter der Oberfläche des Schlamms.
„Ich werde dir mal etwas sagen, Raffaelus. Du hast dein kleines Rudel mit strenger Hand geführt. Leider hast du es nicht geschafft, aus uns mächtige Werwölfe zu machen.“ Marcus machte eine Pause. Mittlerweile war auch er aufgestanden, folgte ihm. Er wirkte ruhig, wie weggeblasen war der Eindruck, Marcus sei schwachsinnig.
„Leider will dein Rudel mehr als ein paar Rehe jagen und fressen. Wir wollen mächtig sein. Wir wollen Menschenfleisch. Wir wollen größer werden.“ Er unterstrich seine Worte, indem er mit den Armen ausholte. Während er noch gestikulierte, sprang Marina in ihrer Halbgestalt auf ihn zu, aber er hatte sie aus den Augenwinkeln bereits gesehen und ließ seine Faust gegen ihr Gesicht krachen, so dass sie jaulend zu Boden ging. Sie fiel in den Schlamm, wollte sich aufrappeln, doch Marcus stellte seinen Fuß auf ihren Rücken und hielt sie damit auf dem Boden.
„Zu dir komme ich gleich. Und dann werde ich mir nehmen, was ich die ganze Zeit nicht von dir bekommen habe.“ Raffaelus durchströmte heiße Wut und Hass. Er sprang auf seinen Gegner zu und zerfetzte mit seiner riesigen Pranke das kindliche Gesicht, das unter all dem Dreck verborgen war. Marcus blieb indes einfach nur stehen, kein Schmerzenslaut drang aus ihm hervor, so als spüre er nichts. Er schüttelte tadelnd den Kopf, umfasste Raffaelus‘ behaarten Hals und drückte zu.
„Du hörst mir jetzt zu, bevor ich dich töte.“ Raffaelus‘ Puls hämmerte in seinen Ohren, er bekam kaum Luft, konnte sich nicht mehr bewegen. Sternchen tanzten vor seinen Augen, sein Sichtfeld verschwamm an den Rändern und wurde immer mehr und mehr zu einem gleißenden, kleinen Punkt.
„Ich hasse dich. Seit du mich das erste Mal auf dieser Lichtung gefickt hast, ist mein Hass ins Unermessliche gewachsen. Und glaube mir, es wird mir eine Freude sein, dich zu töten. Langsam und qualvoll wird deine schwarze Seele diesen Körper verlassen.“
Marcus zog Rotz durch die Kehle und spuckte ihm die schleimige Masse direkt ins Gesicht. Raffaelus schloss die Augen, bereit für den Tod und die Hölle, die ihn verschlingen würde. Als er Marinas Keuchen unter sich vernahm, schoss ein quälender Schmerz durch seine Brust. Er hob das Knie an, trat mit aller Wucht in Marcus‘ Weichteile, drehte sich aus dem Griff seines Peinigers und wirbelte herum, so dass er mit etwas Abstand vor ihm zum Stehen kam. Ungläubig riss er die Augen auf. Marcus stand immer noch genauso da. Wie eine Statue aus Stein. Lachte ihn aus. Mit lautem Gebrüll einem langgezogenen Jaulen rannte er auf ihn zu und prallte an ihm ab. Glaubte er. Doch als er an sich hinunter sah, erkannte er, dass Marcus etwas in seinen Bauch gerammt hatte. Im selben Moment schoss der Schmerz durch seinen Körper.
„Du wirst nicht mehr lange Zeit haben, Raffaelus. Sobald ich den versilberten Dolch hinausziehe, verblutest du. Damit du stirbst, werde ich dir, wenn ich mit Marina fertig bin, dein Herz hinaus reißen und verschlingen. Aber all das wird dir nicht so große Schmerzen bereiten, wie die Qual, dabei zuzusehen, was ich mit ihr machen werde.“
Marcus legte seinen Kopf in den Nacken und lachte in die Nacht hinaus, jaulte den silbrigen Mond an.