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ОглавлениеEngland, April 1805
»Du meine Güte, Liebes, er ist doch nicht der König von England.«
Jessies Lippen verzogen sich zu einem kläglichen Lächeln. Sie wandte sich von den duftigen Ballkleidern ab, die auf ihrem mit seidenen Laken bezogenen Bett lagen. »Nein, das ist er wirklich nicht. Vielleicht würde ich mir nicht so große Sorgen machen, was ich anziehen soll, wenn er wirklich der König wäre.«
»Du wirst wunderschön aussehen, ganz gleich, welches Kleid du anziehst.« Viola Quinn, die dralle, grauhaarige Frau, die Jessie schon seit ihrer Kindheit kannte, warf ihr einen liebevollen Blick zu. »Es besteht viel eher die Möglichkeit, daß der Kapitän so bezaubert ist von dir, daß er nicht einmal bemerkt, was du überhaupt für ein Kleid trägst.«
Viola nahm Jessie in den Arm. Sie war dem Mädchen in mütterlicher Liebe zugetan, mehr, als ihre eigene Mutter es je gewesen war. »Danke, Vi. Du sagst immer das Richtige.«
Viola Quinn, einst Köchin im Black Boar Inn, war mit ihren fünfzig Jahren wohl kaum eine rechte Kammerzofe, doch Jessie liebte sie. Und der alternde Marquis, der jetzt Jessies Vormund war, hatte schließlich nachgegeben und Viola Quinn nach Belmore Hall geholt.
Die untersetzte Frau hob eines der Kleider vom Bett. »Wie wäre es mit dem goldenen?« Es war eine glitzernde Schöpfung mit einem Mieder, das mit Straßsteinen besetzt war. »Die Farbe paßt zu deinem Haar.«
Jessie schüttelte den Kopf, und ihre langen goldenen Locken, von denen Vi gesprochen hatte, flogen um ihren Kopf. »Viel zu förmlich. Graf Strickland ist zwei Jahre lang auf See gewesen. Ich möchte, daß er sich heute abend wohl fühlt.«
Vi hob ein anderes der eleganten Kleider hoch. »Was ist mit diesem hier aus elfenbeinfarbenem Satin – es paßt perfekt zu deiner blassen, pfirsichfarbenen Haut.«
Jessie biß sich auf die Unterlippe und betrachtete den schicklichen Ausschnitt und die schlicht geschnittenen Ärmel. »Zu schlicht. Ich möchte nicht, daß er denkt, ich sei ein Mauerblümchen.«
Viola seufzte. »Und wie ist es mit diesem hier?« Sie hielt ein kostbares, modisches blaues Seidenkleid hoch, mit hoher Taille und einem zurückhaltend ausgeschnittenen Mieder. »Es ist vom gleichen Blau wie deine Augen, und die silbernen Fäden im Überrock geben ihm ein wundervolles Glänzen.«
Jessie lächelte. Sie nahm das Kleid und lief durch das Zimmer zu dem verzierten Drehspiegel neben dem Fenster. Dort hielt sie das Kleid vor die Brust und betrachtete sich von allen Seiten.
»Du hast recht, Vi, dieses hier ist perfekt.« Einen Augenblick lang blieb sie stehen und betrachtete ihr Spiegelbild, eine große, schlanke Frau mit hohen, festen Brüsten, einem feingeschnittenen Gesicht und frischgewaschenem blondem Haar.
Selbst jetzt war es kaum zu glauben, daß diese bezaubernde junge Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenschaute, wirklich Jessie Fox war, das früher so schmutzige kleine Gör, das durch die Straßen von Bucklers Haven gestreift war. Die arme, bemitleidenswerte kleine Jessie, so hatten die Leute aus der Stadt sie genannt. Sie lebte im Unrat, und niemand kümmerte sich um sie.
Nichts als die Tochter einer Hure.
Jessie fühlte Vis Hand auf ihrer Schulter, und als sie sich zu ihr umdrehte, sah sie den Ausdruck von Zärtlichkeit im Gesicht der älteren Frau. »Es wird schon alles gutgehen, Liebes, du wirst es sehen. Du bist nicht mehr so, wie du früher einmal warst.«
Jessie schmiegte sich in Vis Arme und lehnte den Kopf an die Schulter der kräftigen Frau, das wunderschöne Kleid zerdrückten sie zwischen sich. »Er ... er weiß, wer ich bin, Vi. Er kennt mich, von früher. Was ist, wenn er ...«
»Er kennt dich nicht wirklich – nicht mehr. Du bist nicht länger das arme, kleine, zerlumpte Kind, das du früher einmal warst. Du bist jetzt das Mündel des Marquis von Belmore. Und dank Seiner Gnaden hast du eine feine Erziehung genossen. Du bist genauso gebildet wie eine richtige Lady, und die bist du auch.« Die ältere Frau legte ihr einen Finger unter das Kinn. »Nicht das, wohin du geboren bist, zählt, sondern das, was du aus dir gemacht hast.« Sie wischte Jessie eine einzelne Träne von der Wange. »Denke immer daran, Liebes, dann wird alles gutgehen.«
Jessie vermied es, sie anzusehen. »Ich weiß, es ist dumm, Vi, aber ich habe Angst. Ich kann mich nicht erinnern, eine solche Angst gehabt zu haben, seit der Nacht, in der dieser schreckliche Mann Mama im Gasthaus beinahe zu Tode geprügelt hat.«
Vi strich ihr über das Haar. »Das ist schon eine sehr lange Zeit her, Liebes. Du brauchst dich jetzt nicht mehr zu fürchten. Papa Reggie wird sich schon um den Kapitän kümmern. Er wird sich um alles kümmern, genauso, wie er es seit dem ersten Tag getan hat, an dem du hierhergekommen bist.«
Als Jessie an die Freundlichkeit des alten Mannes dachte, holte sie tief Luft. »Du hast recht, Vi.« Sie löste sich aus den Armen der Freundin und legte das Kleid vorsichtig auf das Bett. »Es ist nur so, daß ich von Herzen möchte, daß alles richtig ist. Der Sohn des Marquis hat mich schon seit Jahren nicht mehr gesehen, doch er wird sich ganz bestimmt an den Tag erinnern, als ...«
Sie hielt inne und versuchte, nicht mehr an ihre letzte Begegnung mit ihm zu denken. Immerhin war es einer der entwürdigendsten Augenblicke ihres ganzen Lebens gewesen. Wenn sie nur daran dachte, wie undiszipliniert sie mit zwölf Jahren gewesen war – und an die Konsequenzen, die ihr Benehmen ihr damals eingetragen hatte –, stieg heiße Röte in ihr Gesicht.
Sie beugte sich vor und strich das Kleid glatt. »Vielleicht hätte ich es bügeln lassen sollen. Es hängt schon eine ganze Weile im Schrank. Es wäre vielleicht nötig, daß ...«
»Das Kleid sieht hübsch aus.«
»Vielleicht sollte ich läuten, damit man mir ein Bad einläßt.« Sie blickte zu dem Klingelzug und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Papa Reggie hat mich gebeten, nicht zu spät zu kommen. Er sagt, der Graf wird um sechs Uhr erwartet, und er ist immer pünktlich.«
Vi lachte, und dabei hüpfte ihr Doppelkinn. »Bis dahin sind es noch Stunden, mein Lämmchen. Ich bin sicher, Seine Lordschaft wird beizeiten hier sein, immerhin ist er ein Seemann. Aber du wirst erst um acht Uhr beim Abendessen mit ihm zusammentreffen, und bis dahin hast du noch viele Stunden Zeit. Du bist schon den ganzen Tag über wie ein Wirbelwind herumgelaufen. Warum legst du dich nicht ein wenig hin? Ich lasse dir vom Koch ein Tablett vorbereiten, und wenn du dann aufwachst ...«
Es klopfte laut an der Tür, und Vi verschluckte den Rest des Satzes. Sie murmelte etwas vor sich hin, dann ging sie über den dicken Perserteppich zur Tür und öffnete. Samuel Osgood, der große, stattliche Butler, stand davor.
»Es tut mir schrecklich leid, Mrs. Quinn, daß ich hier so hereinplatze, aber unten ist eine Frau, die verlangt, Miss Jessica zu sehen. Ich habe ihr erklärt, daß Miss Fox heute nachmittag nicht abkömmlich ist, aber sie scheint außergewöhnlich verstört zu sein. Ich dachte, Miss Jessica könnte vielleicht kurz mit ihr reden.«
»Natürlich werde ich mit ihr reden, Ozzie«, versicherte Jessie. »Hat sie ihren Namen genannt?«
»Mary Thornhill, Miss. Sie scheint wirklich sehr aufgeregt, ich dachte ...«
Jessie schob sich an ihm vorbei, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, dann lief sie schnell über den Flur zur Treppe. Mary war eine Freundin von Anne Bartlett, der Frau eines Pächters der Belmores. Anne war neunzehn, genauso alt wie Jessie, und sie war hochschwanger. Das Baby konnte jeden Tag kommen. In den Monaten, seit Jessie von Mrs. Seymours Privatakademie für die Erziehung junger Damen zurückgekehrt war, hatte sich zwischen ihnen beiden eine zarte Freundschaft entwickelt.
Jessie lief über den Marmorboden der Eingangshalle, der riesige Kronleuchter aus Kristall über ihr klirrte leise. Mary stand mit blassem Gesicht im Roten Salon, ihre ausdrucksvollen Augen waren vor Furcht geweitet. »Miss Jessie – Gott sei Dank seid Ihr hier.«
»Was ist, Mary? Was ist geschehen?« Vor Angst zog sich Jessies Magen zusammen. »Ist etwas mit Anne? Kommt das Baby schon?«
»Ja, Miss. Anne kämpft schon seit Stunden, um das Kind zur Welt zu bringen. Doch etwas stimmt nicht, Miss. Deshalb bin ich gekommen.«
Jessies Angst wuchs. »Kann denn die Hebamme nicht etwas für sie tun?«
»Die Hebamme ist drüben in Longly, um einer anderen Frau bei der Geburt zu helfen. Anne hat niemand anderen, der ihr beisteht, als mich, und ich kann ihr nicht helfen.«
»Was ist mit ihrem Mann? Sicher hat James doch nach einem Arzt geschickt.«
»James ist auch nicht da. Er ist den Fluß hinaufgefahren mit Ware, die er in Southampton verkaufen will. Ich war beim Arzt, aber er wollte nicht kommen, wenn er nicht im voraus Geld erhält. Lieber Gott, ich wußte nicht, was ich noch tun sollte. Da habe ich an Euch gedacht, Miss Jessie. Ich hoffte, daß Ihr uns das Geld für den Arzt vielleicht leihen könnt.«
»Natürlich werde ich das tun.« Dieser elende Hurensohn, dachte Jessie, doch sie sprach die Worte nicht laut aus. Sie hatte nicht mehr geflucht – wenigstens nicht laut – seit dem Tag vor vier Jahren, als sie in Belmore Hall eingezogen war.
»Ich habe etwas Geld oben. Warte hier – ich bin in einer Minute wieder da.« Sie hob den Saum ihres pfirsichfarbenen Musselinkleides und lief die Marmortreppe hinauf, so schnell sie konnte. Heftig riß sie die Tür ihres Schlafzimmers auf.
»Was ist denn los, Lämmchen?« Viola kam auf sie zugelaufen.
»Es geht um Anne Bartlett, Vi. Sie hat Wehen, doch offensichtlich gibt’s Schwierigkeiten. Mary Thornhill ruft den Arzt. Ich muß zu Anne.«
Viola ging zur Tür. »Ich werde mitkommen.«
Jessie packte Vis Arm. »Ich werde schneller alleine dort sein. Wenn ich über die Felder reite, bin ich in fünfzehn Minuten da.« Sie lief zu ihrer Kommode, hob den Deckel ihrer Schmuckkassette und holte einen kleinen Lederbeutel mit Münzen daraus hervor, die sie sich von ihrem Monatsgeld gespart hatte.
»Bring dies runter zu Mary.« Sie reichte Vi den Lederbeutel. »Der Arzt will nicht helfen, wenn er nicht vorher sein Geld bekommt. Ich kehre zurück, sobald ich sicher bin, daß es Anne gutgeht.«
Vi nickte. Nach all den Jahren wußte sie, daß es keinen Zweck hatte, mit Jessie zu streiten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Das Mädchen hatte keine Ahnung vom Kinderkriegen, doch Schmerz und Blut waren nicht neu für sie. Sie wußte alles, was zum Überleben nötig war, sie kannte Entschlossenheit und Kraft. Wenn überhaupt jemand das Mädchen durchbringen würde, dann war es Jessie. Vi nahm die Münzen und lief zur Treppe.
In ihrem Zimmer riß Jessie die Tür ihres Rosenholzschrankes auf und suchte etwas ganz hinten im Schrank. Dann holte sie ein Bündel schäbiger alter Kleider hervor. »Wenigstens sind sie sauber«, murmelte sie und dachte an den Tag, als sie das Hemd und die grobe braune Hose das letzte Mal getragen hatte. Beides hatte sie einem Stalljungen geklaut, als sie gerade vierzehn Jahre alt war. Der Himmel allein wußte, warum sie die Sachen behalten hatte. Doch die Tatsache, daß sie von der Hand in den Mund gelebt hatte, daß sie ständig hungrig gewesen war und nichts anderes als Lumpen getragen hatte, hatte sie zu einem Menschen gemacht, der alles aufbewahrte. Selbst bei einem so luxuriösen Leben wie in Belmore waren alte Gewohnheiten nur schwer abzulegen.
Sie knöpfte die Hose zu, die wesentlich enger saß als damals. Das Hemd konnte sie gerade noch über der Brust schließen. Nach dem Regen in der letzten Nacht waren die Felder aufgeweicht, und sie war keine so gute Reiterin. Sie wagte es nicht, im Damensattel zu reiten, obwohl der Marquis darauf bestand. Sie nahm an, daß sie es zeitlich nur schaffen konnte, wenn sie im Herrensitz ritt. Außerdem würde außer den Stallknechten niemand sie sehen, und die waren alle ihre Freunde.
Sie nahm einen braunen Filzhut aus dem Bündel und verstaute ihr Haar unter dem breiten Rand. Dann lief sie aus ihrem Zimmer zur Dienstbotentreppe im hinteren Teil des Herrenhauses.
Im Stall befahl sie Jimmy Hopkins, einem der Stalljungen, die kastanienbraune Stute zu satteln, die sie auch sonst ritt. Er zog ihr die Steigbügel unter dem flachen Ledersattel zurecht und half ihr aufzusteigen. Er grinste, als er sie auf den Rücken des Pferdes schob.
»Viel Glück, Miss Jessie.«
»Danke, Jimmy.« Sie legte einen Finger an die Krempe ihres breitrandigen Filzhutes, dann beugte sie sich über den Hals des Pferdes und bohrte die Fersen in den Leib des Tieres. Sie hoffte, daß sie oben bleiben würde, und betete, daß jemand Anne und dem Baby helfen könnte.
»Hallo, Vater.« Kapitän Matthew Seaton, Graf von Strickland, Kommandeur des Kanonenbootes Seiner Majestät, der Norwich, schloß leise die Tür der herrschaftlichen Suite seines Vaters in Belmore Hall hinter sich. Der alternde Marquis von Belmore, der in seinem massiven Himmelbett ruhte, lehnte sich in die Seidenkissen zurück, die vor dem Kopfteil aus Mahagoniholz lagen.
Beim Klang der tiefen Stimme seines Sohnes öffnete er die Augen einen Spalt, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Matthew! Sohn! Ich habe mich schon gefragt, ob meine alten, müden Augen dich je wiedersehen würden.« Er streckte Matthew seine faltigen Hände entgegen, und Matthew ergriff sie. Dann beugte er sich vor und drückte unerwartet seinen Vater leicht verlegen an sich.
»Ich habe dich vermißt, Vater.« Er hielt ihn noch einen Moment in seinen Armen, eine seltene Liebesbezeugung von einem Mann, der beinahe die Hälfte seiner dreißig Jahre damit verbracht hatte, zu lernen, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
Kapitän in der Kriegsflotte Seiner Majestät zu sein verlangte eiserne Beherrschung. Doch irgendwann würde er die Marine verlassen und seine Pflichten als Sohn und Erbe übernehmen, da sein älterer Bruder Richard bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war. Und er machte sich Sorgen um seinen Vater.
»Tritt einen Schritt zurück, mein Junge, und laß dich ansehen. Du liebe Güte, es ist schon mehr als zwei Jahre her, seit du das letzte Mal hier warst.«
Matt trat gehorsam zurück und fragte sich, ob sein Vater die kleinen Fältchen bemerken würde, die sich in den Winkeln seiner tiefblauen Augen gebildet hatten. Seine Haut war durch den langen Aufenthalt in der Sonne zu einem dunklen Bronzeton gebräunt. Sein Haar besaß nach wie vor den dunklen goldblonden Ton. Doch war es jetzt länger. Im Nacken reichte es an den breiten, weißen Stehkragen, und die Haarspitzen waren von der Sonne heller gebleicht.
»Wenn ich es nicht besser wüßte«, sagte der alte Herr und lachte leise, »dann würde ich schwören, daß du noch ein Stück gewachsen bist, mein Junge.«
»Aus dem Wachstumsalter bin ich wohl heraus, Vater.« Matt lächelte und überlegte, daß er wahrscheinlich jetzt ein paar Muskeln mehr an den Armen hatte und eine etwas breitere Brust. An Bord eines Schiffes gab es immer viel Arbeit, sogar für einen Kapitän. »Ich entschuldige mich für meine Kleidung. Ich wollte mich eigentlich erst umziehen. Doch als ich das Haus betreten hatte, konnte ich es nicht erwarten, dich wiederzusehen.«
»Du siehst gut aus, mein Junge – wundervoll sogar. Ein prächtiger Anblick für meine müden, alten Augen.«
In seinem dunkelbraunen Frack, den rehfarbenen Reithosen mit dem weißen Hemd und den hohen Schaftstiefeln war Matt, gleich nachdem er dem wartenden Lakaien die Zügel seines in Portsmouth gemieteten Pferdes gereicht hatte, sofort zum Zimmer seines Vaters geeilt.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört. Ich wußte nicht, daß du dich ausruhen wolltest.«
»Unsinn. Ich verbringe doch lieber meine Zeit mit dir, als den ganzen Tag dösend in meinem Bett zu liegen.«
Matthew lächelte. »Ich freue mich, dich zu sehen, Vater. Es ist ein herrliches Gefühl, wieder zu Hause zu sein.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile, sprachen von allerhand nebensächlichen Dingen, davon, daß das Schiff, das ihn nach Portsmouth gebracht hatte, nach zwei anstrengenden Jahren der französischen Blockade neu mit Kupfer beschlagen werden mußte. Sie sprachen von seiner Reise nach Belmore, davon, daß er sofort aus Portsmouth aufgebrochen war. Na ja, fast sofort. Matt machte sich nicht die Mühe, seinem Vater von der kleinen Rothaarigen zu erzählen, die ihn in den Nächten unterhalten hatte, während er in der emsigen Hafenstadt seine Geschäfte erledigt hatte.
»Du hast mich noch gar nicht nach Jessica gefragt«, meinte der Marquis nach einer Weile, mit einem kleinen Vorwurf in der Stimme. »Du mußt doch aus meinen Briefen wissen, daß sie hier ist.«
»Es hat mehr als drei Monate gedauert, bis mich deine Briefe erreicht haben. Aber durch den letzten habe ich erfahren, daß das Mädchen aus dem Internat zurück ist und hier in Belmore bei dir lebt.«
Der Marquis setzte sich in seinem Bett auf. Er wußte, daß dieses Thema seinem Sohn nicht gefiel. Sie hatten sich bereits wegen Jessica gestritten, als Matthew das letzte Mal zu Hause gewesen war.
»Ich weiß, was du von dem Mädchen hältst. Das hast du mir überdeutlich klargemacht, bei mehr als einer Gelegenheit. Aber du hast Jessica seit Jahren nicht mehr gesehen – nicht mehr, seit sie ein eigensinniges Kind war. Und schon gar nicht, seit ich sie unter meine Fittiche genommen habe. Sie ist jetzt eine Frau, Matthew. Eine feine, guterzogene, lebhafte junge Frau. Ich danke Gott jeden Tag, daß sie zu mir gekommen ist, daß sie den Mut hatte, ihre Träume wahrmachen zu wollen und daß sie mich davon überzeugt hat, ihr dabei zu helfen.«
Matt kämpfte gegen eine aufsteigende Verärgerung an. »Wenn ich mich recht erinnere, hat Jessie Fox noch nie der Mut gefehlt. Als Kind war sie nur wild. Sie ist von einer Schwierigkeit in die andere gestolpert. Mit zwölf Jahren war sie eine Gaunerin, eine Taschendiebin und eine Räuberin. Mit fünfzehn war sie ein ungepflegtes, hinterhältiges kleines Biest, das all seine Tricks eingesetzt hat, um dein Mitleid zu erregen und dich dazu zu bringen, sie bei dir aufzunehmen.«
»Das Mädchen kämpfte ums Überleben.«
»Und das hat sie verdammt großartig hingekriegt. Mit ihren neunzehn Jahren hat Jessie Fox die beste Erziehung genossen, die man für Geld kaufen kann. Sie hat ihren eigenen Vierspänner und kleidet sich wie eine Königin. Sie lebt hier in Belmore wie eine königliche Hoheit, und sie besitzt alles, was ihr verräterisches kleines Herz sich nur wünschen könnte. Du wunderst dich, warum ich mich nicht für Jessie Fox interessiere, Vater? Weil Jessie Fox meine Aufmerksamkeit nicht nötig hat. Offensichtlich scheint sie äußerst erfolgreich für sich selbst sorgen zu können!«
Der Marquis schwieg, er sah Matt nur lange an. »Das klingt ja geradeso, als wolltest du andeuten, daß Jessica mich manipuliert hat, all diese Dinge für sie zu tun, daß sie mich in gewisser Weise ausgenutzt hätte. In Wirklichkeit bin aber ich es, der davon profitiert hat.«
Diesmal schwieg Matt. Er war nicht nach Belmore gekommen, um sich mit seinem Vater über Jessie Fox zu streiten.
»Als dein Bruder starb«, fuhr der alte Herr fort, »da war ich verzweifelt. Du warst nicht da, und ich war ganz allein. Es war eine schreckliche Zeit für mich. Und als ich glaubte, den Schmerz keinen Augenblick länger ertragen zu können, habe ich meine Erinnerungen in Belmore Hall zurückgelassen und bin ins Herrenhaus nach Seaton gezogen. Doch auch dort wurde es nicht besser. Ich war ein bitterer, einsamer alter Mann, der nur noch auf sein Ende wartete.«
Heißes Schuldgefühl stieg in Matt auf. »Das tut mir leid«, sagte er leise. »Ich hätte bei dir sein sollen. Doch leider habe ich erst sechs Monate nach Richards Tod erfahren, daß er gestorben war.«
»Es war nicht dein Fehler, Sohn. Du warst genau dort, wo du hast sein müssen. Du hast für dein Land gekämpft. Aber das hat es mir nicht leichter gemacht.« Der Hauch eines Lächelns spielte um seinen Mund. »Und dann, an einem Tag, an dem ich ganz besonders bedrückt war, habe ich glücklicherweise einen Spaziergang zum See gemacht, und diese arme kleine Göre war auch da. Mein Leben bekam eine Wendung zum Besseren im selben Augenblick, als ich Jessica traf.«
»Sie war sicher ganz zufällig da, als du dort warst«, stellte Matt voller Sarkasmus fest. »Es war reiner Zufall, daß ihr beide euch getroffen habt.«
»Ich weiß nicht, warum sie gerade an diesem Tag dort war, und es ist mir auch gleichgültig. Alles, was ich weiß, ist, daß sie seit diesem Tag jeden Morgen an dieser Stelle auf mich gewartet hat, und ich habe mich immer auf unsere Begegnungen gefreut. Wenn Jessica in meiner Nähe war, brachte sie Leben und Freude in meine Welt. Sie hat den Funken wieder entzündet, der in mir zu erlöschen drohte. Sie hat mich aus der Dunkelheit herausgeführt und hat mir den Wunsch zurückgegeben zu leben. Als sie mich dann bat, ihr zu helfen – als sie mir gestand, daß es ihr Traum war, eine Lady zu werden –, da bereitete es mir die größte Freude, ihr diesen Wunsch zu erfüllen.«
Matthew dachte an die schmutzige kleine Göre, die ihn bei jeder Gelegenheit herausgefordert hatte. Er hatte sie bei den verschiedensten Gelegenheiten weggejagt, doch war sie immer wiedergekommen, entschlossen, ihn zu ärgern – obwohl er sich mit hämischem Vergnügen an den Tag erinnerte, an dem er es der kleinen Hexe heimgezahlt hatte.
Im Alter von fünfzehn Jahren war sie eine zerlumpte kleine Diebin gewesen, die die Trauer seines Vaters ausgenutzt und einen Weg gesucht hatte, sich seine Zuneigung zu erschleichen. Das würde Matt ihr niemals verzeihen, und wenn er erst einmal wieder für immer zu Hause war, würde er schon dafür sorgen, daß dieses Mädchen seinen Vater nicht länger ausnutzte.
Ein leises Lachen unterbrach seine Gedanken.
»Du wirst sie nicht mehr wiedererkennen, da wette ich mit dir. Sie ist eine ausnehmend hübsche Frau geworden.«
Matthew zwang sich zu einem Lächeln. »Willst du etwa behaupten, daß sie aufgehört hat, mit Dreck und faulem Obst zu werfen? Sie ist nicht länger diese kleine Taschendiebin, die unvorsichtige Reisende um ihr hart verdientes Geld erleichtert?«
Matthews Vater runzelte die Stirn. »Dieser nichtsnutzige Halbbruder von ihr war der eigentliche Übeltäter. Jessica ist lebhaft, das stimmt, aber sie hat ein viel zu weiches Herz, um wirklich böse zu sein. In den letzten vier Jahren ist sie zu einer wunderschönen, intelligenten jungen Frau herangewachsen. Wenn du ihr auch nur die kleinste Möglichkeit gibst, dir das zu beweisen, dann wirst du sehr schnell verstehen, was ich meine.«
Matthew betrachtete eingehend das Gesicht seines Vaters. Reginald Seaton war einmal ein großer, robuster Mann gewesen. Doch in den Jahren, seit Matt von zu Hause weg war, hatte den Marquis seine Kraft verlassen. Er besaß noch immer eine Löwenmähne schneeweißen Haares mit dicken Koteletten, doch in den weißen Kissen sah er blaß aus, und seine Wangen waren eingefallen.
Matthew hielt sich zurück. Mit Jessica Fox würde er sich später auseinandersetzen. Zunächst einmal ging die Gesundheit seines Vaters vor. Er würde alles tun, was der alte Herr von ihm verlangte.
»Ich weiß, das Mädchen hat sich deine Unterstützung gesichert, Vater. Ich bin mit dem, was sie getan hat, nicht einverstanden. Wenn es dich jedoch glücklich macht, dann werde ich mich damit abfinden.«
Der Marquis sah erleichtert aus. »Dann wirst du sie also auch mit dem angemessenen Respekt behandeln?«
Matt nickte. Was war der angemessene Respekt für die Tochter einer Dirne? Kein großer, überlegte er. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, dann möchte ich mich darum kümmern, daß mein Pferd anständig untergebracht ist.« Er sah den Grafen von Belmore Hall an, merkte, daß sich die Augen des alten Herrn geschlossen hatten, und Matthews düsterer Gesichtsausdruck wurde sanft.
»Ruh dich aus, Vater.« Er nahm die Hand des alten Herrn und drückte sie. »Ich freue mich darauf, dich und ... und dein Mündel beim Abendessen zu sehen.«
Mit diesen Worten ging er.
Jessie blickte zur Sonne, die als feuriger, orangeroter Ball über dem Horizont hing. Es dämmerte bereits, und sie saß auf dem Rücken ihres Pferdes, klammerte sich an der Mähne ihrer kastanienbraunen Stute fest und drängte sie zu immer wilderem Galopp. Dicke Erdbrocken flogen unter den Hufen des Pferdes auf und blieben an Jessies Hose und an. ihrem Hemd hängen, die schon schmutzig geworden waren, als sie durch die Felder zu Annes Haus geritten war.
Sie hatte gehofft, daß es nicht so lange dauern würde, doch das Baby hatte sich Zeit gelassen, und der Arzt war erst sehr spät eingetroffen. Jetzt wollte sie mit ihrem rasenden Tempo ein bißchen der verlorenen Zeit aufholen.
Herzklopfend beobachtete sie den langsam hinter dem Horizont versinkenden Feuerball. Lieber Gott, bitte gib, daß er nicht vor mir zu Hause ist.
Doch ihre Chancen standen nicht gut, das wußte sie. In ihrer zerlumpten, schmutzigen Kleidung, mit dem verschwitzten blonden Haar, das ihr an der Stirn klebte, sah sie sicher entsetzlich aus. Sie betete, daß das Glück ihr hold war, daß Jimmy ihr sofort das Pferd abnehmen würde, während sie unauffällig über die Hintertreppe in ihr Zimmer schlich.
Jessie lächelte. Wenigstens hatte Anne das Baby gesund zur Welt bringen können, ein kleines Mädchen, dem sie den Namen Flora gegeben hatte. Als Jessie angekommen war, hatte Anne vor Angst geschluchzt, sie war sicher gewesen, daß sie das Kind verlieren würde. Der Schmerz hatte sie beinahe zerrissen, und Jessie hatte nicht nur um das Leben des Kindes gezittert.
Gerade, als es den Anschein hatte, daß Anne an der Geburt sterben würde, war der Arzt eingetroffen. Das Baby lag falsch, hatte er festgestellt. Es war ihm schließlich gelungen, es in die richtige Lage zu bringen, und das Kind war zur Welt gekommen. Als Jessie ging, waren Mutter und Kind außer Gefahr. Tränen der Rührung standen in Jessies Augen, als sie erneut an das Wunder dieses neuen Lebens dachte.
Sie keuchte entsetzt auf, als das Pferd in eine tiefe Pfütze trat und sie damit aus ihren Gedanken riß. Gefährlich rutschte Jessie im Sattel seitwärts. Das Pferd strauchelte kurz, fing sich aber wieder und galoppierte weiter.
Sie näherten sich jetzt der Buchsbaumhecke hinter dem Stall, fast waren sie zu Hause. Jimmie winkte ihr schon aus der hinteren Stalltür zu. Jetzt brauchte sie nur noch über die Hecke zu setzen.
Jessie beugte sich tief über den Hals des Pferdes, mit Leichtigkeit flogen sie über die Hecke – die Landung allerdings verlief nicht so glücklich. Eine große Pfütze, die sie nicht vorhergesehen hatte, machte den Boden glitschig und es der Stute fast unmöglich, Fuß zu fassen. In dem Moment trat ein Mann aus dem Schatten und lenkte das Pferd zusätzlich ab. Die Stute versuchte auszuweichen. Der Sattel rutschte zur einen und Jessie zur anderen Seite. Sie fiel vom Pferd und landete mit einem heftigen Aufplatschen genau in der Pfütze.
»Verdammte Hölle!« Pitschnaß saß sie mitten in der Bodenkuhle und spuckte. Ihren Hut hatte sie verloren, ihr blondes Haar war voller Erde und klebte ihr in traurigen Strähnen am Kopf. Hals und Gesicht waren gesprenkelt mit Schlamm, ihr Hemd war vom Wasser durchweicht, und ihre Hose war sowieso naß.
Sie blickte zu dem Kerl auf, der der Grund dafür gewesen war, daß das Pferd gescheut hatte. Zuerst sah sie ein paar hohe schwarze Schaftstiefel. Eine enge braune Hose umschloß lange schlanke Beine und schmale Hüften. Mit wachsendem Entsetzen wanderte ihr Blick weiter über einen muskulösen Oberkörper, über breite Schultern – zum harten, kantigen Gesicht des riesigen Mannes.
Kapitän Matthew Seaton, Graf von Strickland. Ihr blieb wirklich nichts erspart.
Bis auf ihre Begegnung mit Papa Reggie hatte Jessie Fox in ihrem Leben kein großes Glück gehabt.
»Ts, ts, ist das nicht die berüchtigte Miss Fox?« Voller Sarkasmus troffen die Worte über seine wohlgeformten Lippen. Augen, so dunkelblau, wie Jessie sie noch nie gesehen hatte, musterten sie von Kopf bis Fuß ohne einen Anflug von Überraschung. Genau das, was er da vor sich sah, hatte er erwartet.
Jessie fühlte sich ganz elend. Sie hatte ihn beeindrucken wollen, der Marquis hatte stolz auf sie sein sollen. Statt dessen wirkte sie jetzt wie ein völliger Dummkopf. Sie zwang sich mit letzter Kraft, das Kinn zu heben. »Ich ... ich fürchte, ich muß mich schnell umziehen.« Sie rappelte sich hoch und wandte sich ab. Das Gesicht des Grafen zeigte keinerlei Reaktion.
»Ich finde, das ist eine hervorragende Idee. Warum gehen wir nicht beide zusammen ins Haus? Ihr könntet auf dem Weg zu Eurem Zimmer kurz bei meinem Vater hereinschauen und ihm zeigen, was für eine Lady aus Euch geworden ist.«
Jessies Hals war wie ausgedörrt. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, obwohl sich ihr Inneres aufzulösen schien. »Euer Vater weiß besser als alle anderen Menschen auf der Welt, wie ich bin. Im Gegensatz zu Euch würde er besorgt sein, wenn er mitangesehen hätte, wie ich vom Pferd gestürzt bin. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet ...«
Sie wandte sich ab und ging davon. Ihr Kopf dröhnte, sie konnte nur qualvoll atmen. Durch ihren Knöchel zuckte ein sengender Schmerz. Sie hatte gar nicht registriert, daß sie so hart auf dem Boden aufgeschlagen war.
Sie merkte nicht, daß er ihr folgte, bis sie plötzlich stolperte und er nach ihrem Arm griff.
»Ihr habt recht. Es war sehr unhöflich von mir, mich nicht nach Eurem Befinden zu erkundigen.«
Sie entriß ihm ihren Arm. »Es geht mir blendend, vielen Dank.«
»Was ist mit Eurem Bein? Gerade habt Ihr noch gehumpelt.«
»Mein Bein ist völlig in Ordnung«, versicherte sie ihm würdevoll. Sie kehrte ihm den Rücken zu und war bemüht, den Schmerz beim Weiterlaufen zu verbergen. Er runzelte die Augenbrauen, sagte jedoch nichts. Während Jessie kerzengerade ins Haus ging, spürte sie Graf Stricklands mitternachtsblaue Augen hinter sich. Sie fragte sich, was er wohl von ihr dachte. Doch so schmutzig und abgerissen, wie sie aussah, war es nicht schwer, sich das vorzustellen.
Viola wartete in ihrem Zimmer. »Wir müssen uns beeilen«, rief sie. »Der Kapitän ist schon angekommen, und ...« Sie hielt inne, als sie Jessie erblickte, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Bei allen Heiligen im Himmel! Mein armes kleines Lämmchen, was um alles in der Welt ist geschehen?«
Jessie sank in sich zusammen. »Was geschehen ist? Stell dir das Allerschlimmste vor, Vi. Stell dir vor, ich bin von meinem Pferd gefallen und in einer Pfütze genau zu Füßen von Kapitän Seaton gelandet. Und stell dir weiter vor, daß er mich natürlich sofort in dieser schmutzigen, zerlumpten Kleidung erkannt hat.«
»Gütiger Gott im Himmel.«
Jessie war verzweifelt. »Ich wollte ihn beeindrucken, Vi. Ich wollte ihm zeigen, daß ich mich wirklich geändert habe.« Tränen brannten in ihren Augen. »Statt dessen habe ich ihm das Gegenteil bewiesen. Wie kann ich ihm jetzt noch gegenübertreten?«
Die ältere Frau stützte die Hände in die Hüften. »Du kannst ihm gegenübertreten, Liebes, denn du hast dich wirklich geändert. Du wirst zum Abendessen gehen, in diesem wunderschönen blauen Seidenkleid, und du wirst die Rolle der Lady spielen, bis Seine verdammte Lordschaft sich zu wundern beginnt, ob das Wesen, das er im Schlamm gesehen hat, nicht eine Halluzination gewesen ist.«
Jessie schluckte schwer und betrachtete das herrliche blausilberne Kleid, das am Schrank hing. Bis Papa Reggie sich ihrer angenommen hatte, hatte sie solche Kleider nur durch die Fenster des Herrenhauses von Seaton gesehen – nämlich dann, wenn sie sich hinter den Rosenbüschen versteckt und ihr Gesicht gegen die Fenster gedrückt hatte. Sehnsüchtig hatte sie sich gewünscht, diesen glänzenden Stoff einmal berühren zu dürfen, die glatte, glänzende Seide auf ihrer Haut fühlen zu können. Doch alles, was sie damals gefühlt hatte, waren die Schrammen an ihrer Haut von den Dornen und die Risse in ihrer fadenscheinigen Kleidung.
Sie blickte zu der Badewanne aus Kupfer, neben der ein Dutzend Eimer mit dampfendem Wasser standen. Die trüben Gedanken an ihre Vergangenheit schwanden, und neuer Mut floß durch ihre Adern.
»Du hast recht, Vi. Das ist nicht das erste Mal, daß mich der Kapitän so gesehen hat. Heute abend allerdings wird er mich von meiner besten Seite kennenlernen.« Sie lief zur Wanne hinüber, zog sich die schmutzige Hose und das grobe Hemd aus und streifte die dreckstarrenden Stiefel von den Füßen.
Minuten später saß sie bis zum Kinn in heißem, schaumbedecktem Wasser, das ihre Haut nach Rosen duften lassen würde. Sie wusch sich das Haar und spülte es aus, dann lehnte sie sich in der Wanne zurück. Ihr Knöchel tat nicht mehr so weh, und die Kopfschmerzen waren verschwunden. Ihre Zuversicht war zurückgekehrt, zusammen mit einer wilden Entschlossenheit.
Das heiße Wasser entspannte sie. Mit geschlossenen Augen lag sie in der Wanne, als Vi mit einem sauberen Leinenhandtuch neben sie trat.
»Ich nehme an, das Baby und seine Mutter haben die Anstrengungen der Geburt überstanden, und alles hat ein glückliches Ende gefunden.«
Vorsorglich, damit kein Wasser auf den kostbaren, mit Intarsienarbeiten verzierten Fußboden tropfte, legte ihr Viola das Handtuch um und wickelte dann noch ein kleineres Handtuch um ihr langes blondes Haar.
»Ja, Anne hat ein kleines Mädchen bekommen, es soll Flora heißen. Es war das wundervollste Erlebnis, das ich je hatte.«
»Du bist doch nicht etwa bei der Geburt dabeigewesen, oder?«
»Natürlich war ich dabei. Ich wollte sehen, wie ein Baby auf die Welt kommt. Jetzt weiß ich es.«
Viola seufzte. »Du weißt schon viel zuviel für ein Mädchen in deinem Alter. Es ist eine Schande, daß du nicht behüteter aufgewachsen bist.«
»Es hätte noch schlimmer sein können, Vi. Wenn du nicht gewesen wärst, dann möchte ich mir nicht vorstellen, was nach Mamas Tod aus mir geworden wäre.« Ein Schauer lief durch ihren Körper, als sie an den betrunkenen Mann dachte, der sie im Schankraum angesprochen hatte. Als sie die Münze verweigerte, die er ihr in die Hand gedrückt hatte, hatte er sie geschlagen und begonnen, sie zur Treppe zu zerren. Vi hatte sie gerettet. Vi und die Dirnen, die Freundinnen ihrer Mutter gewesen waren. Frauen, die wollten, daß Jessie nicht ihr Schicksal teilte.
Wieder dachte sie an das Baby, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Wenigstens konnte ich helfen. Wenn mein Leben anders verlaufen wäre, hätte ich mich vielleicht davor gefürchtet.«
»Du hast ein gutes Herz, mein Lämmchen.« Vi fragte sich, ob der große, gutaussehende Graf bereit war, Jessies Vergangenheit soweit beiseite zu schieben, um das zu bemerken.