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ОглавлениеDer Jahrmarkt in Eylesbury war nicht so groß wie manch anderer. Vor Jahren hatte er als normaler Markt begonnen, hatte Papa Reggie Jessica erzählt, dann war er zu einer Handelsmesse geworden, die den Ladenbesitzern erlaubte, ihre Lager für den Rest des Jahres aufzufüllen.
Mit der Zeit hatte sich diese Messe immer weiter ausgedehnt. Einige Shows waren dazugekommen, Karussells, Buden zur Unterhaltung der Besucher und noch unzählige andere Dinge, die jedes Jahr die Anziehungskraft des Jahrmarktes verstärkten.
»Und schließlich wurde der Markt aus der Stadt heraus verlagert, außerhalb der Stadtgrenzen«, erzählte der Marquis. »Dorthin, wo auch der Viehmarkt stattfand, wo Rinder, Schafe und Pferde verkauft wurden.«
Der Platz, auf dem der Jahrmarkt jetzt stattfand, war laut und quirlig. Im Schein der warmen Morgensonne wimmelte es schon von Menschen. Hölzerne Gitter trennten den Platz ab, damit weder der Verkehr noch die Tiere oder Pferde mit ihren Karren in die Menschenmenge gerieten. An einem Ende des Platzes waren feste Buden errichtet worden, in denen Metzger, Fischverkäufer, Töpfer und Stellmacher ihre Waren verkauften.
Um sie herum drängten sich die verschiedensten Menschen, vom reichen Ladenbesitzer bis zum Bettler, Gastwirte und Schweineverkäufer, Orangenverkäuferinnen und Schulmeister, Edelleute und Mitglieder der Aristokratie. Alle zusammen freuten sich über die köstlichen Gerüche, Farben und Geräusche des Jahrmarktes.
»Sieh mal, Papa Reggie! Ein Marionettentheater!« Jessie zog ihn mit sich. Selbst Matthew lächelte gönnerhaft und folgte den beiden. Vom Rand der Menschenmenge aus sahen sie zu, und Jessie lachte wie ein Kind über die Späße des Puppenspielers, der an den Schnüren zog. Die Puppen zogen gehorsam die Augenbrauen hoch und hoben die Hand, um der Menschenmenge zuzuwinken.
Später schlenderten sie an den Buden vorbei. Papa Reggie blieb ab und zu stehen und kaufte etwas, das Jessie besonders gefiel, ein buntes, gewebtes Armband, eine hübsche Muschel, ein wunderschönes Stück roter Brokatseide, das sie am Stand eines Stoffhändlers bewundert hatte.
»Du hast mir schon viel zuviel geschenkt«, protestierte Jessie. »Ich habe einen ganzen Schrank voll wunderschöner Kleider – ich brauche das nicht auch noch.«
»Aber es gefällt dir doch, oder?«
»Es ist wunderschön, aber du mußt es nicht ...«
»Laßt ihn doch«, mischte sich Matthew mit einem Lächeln in die Unterhaltung ein. »Es macht ihm Spaß, Euch zu verwöhnen.«
Reggie lächelte breit. »Hör auf den Jungen, meine Liebe. Endlich einmal hat er recht.«
Jessica lachte und drückte die Hand des Marquis. »Danke«, sagte sie leise, und ihr entging nicht, wie Matthews Gesichtsausdruck sich veränderte und seine blauen Augen ein wenig dunkler wurden.
Sie blieben stehen, um einer Gruppe Akrobaten zuzusehen, die mit gewagten Saltos einander von den Schultern sprangen. Dann gingen sie in eine Jahrmarktsbude, in der Jessie einen echten afrikanischen Eingeborenen zu Gesicht bekam. Er trug einen Knochen durch die Nase und Muscheln in den Ohren. Dazu hielt er einen tödlich aussehenden Speer in der Hand, den er gegen die Menschenmenge schüttelte. Jessie hatte noch nie in ihrem Leben einen Menschen gesehen, der so furchterregend wirkte.
Bei diesem Gedanken mußte sie ein Glucksen unterdrücken. Wahrscheinlich bis auf Matthew Seaton, an dem Tag, an dem er ihr den Po versohlt hatte.
Sie verließen die Bude und traten in den Sonnenschein.
»Oh, Papa Reggie. Ich habe einen solchen Spaß. Danke, daß du mich hierher gebracht hast.«
»Unsinn«, wehrte er brummig ab. »Ich war doch derjenige, der hierherkommen wollte. Ich bin nur froh, daß du mit mir gekommen bist.« Sein Gesicht unter dem schneeweißen Haar hatte sich leicht gerötet, und als Jessie ihn jetzt ansah, begann sie sich Sorgen um ihn zu machen.
»Doch leider«, sprach er weiter und bestätigte sie in ihrer Sorge, »bin ich nicht mehr so jung, wie ich einmal war. Meine Gicht macht sich wieder bemerkbar. Ihr beide werdet mich entschuldigen müssen, ich werde zum Sword and Angel zurückfahren.« Der Marquis hatte für sie Zimmer in dem bekannten Gasthaus im Außenbezirk der Stadt bestellt, in dem sie auch schon die vergangene Nacht verbracht hatten.
Jessie nickte und nahm seinen Arm. »Ich finde, das ist eine sehr gute Idee.«
»Einverstanden«, stimmte auch Matthew zu.
Der alte Mann entzog ihr seinen Arm. »Was habt ihr beiden vor?«
»Wir kommen natürlich mit dir«, erklärte Jessica.
»Seid nicht albern. Ihr seid beide jung und gesund. Ihr solltet hierbleiben und den Jahrmarkt genießen. Matthew kann dich zum Gasthaus zurückbringen, wenn ihr alles gesehen habt.«
»Oh, nein, wir können ganz unmöglich ...«
»Ist es nicht so, mein Junge?«
Lord Strickland nahm ihre Hand und beugte sich ritterlich darüber. »Mein Vater hat recht, Miss Fox. Der Tag ist noch lange nicht vorüber, und Ihr habt noch längst nicht alles gesehen.«
»Aber was ist mit Papa Reggie?«
»Im Gasthaus warten mindestens ein halbes Dutzend Leute aus Belmore. Die Lakaien werden ihn sicher dorthin geleiten, und sein Kammerdiener kann ihn in seinem Zimmer betreuen.«
Er sah den Marquis an. »So hast du es doch vorgehabt, nicht wahr, Vater?«
»Genauso, mein Junge, genauso.« Er beugte sich zu Jessica und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Amüsiere dich gut, Kind. Ich sehe euch beide dann heute abend.«
Jessie nickte. Selbst das leise Schuldgefühl, das sie hatte, weil sie ihn allein ins Gasthaus zurückfahren ließ, konnte nicht die Aufregung dämpfen, auf einem Jahrmarkt zu sein.
»Ich bringe meinen Vater zur Kutsche«, sagte Matthew. »Wartet hier auf mich, vor dem Stand des Küfers. Ich bin gleich wieder da.«
»Gut.« Sie blickte zu der Bude nebenan, wo einige Jungen darum kämpften, wer von ihnen am schnellsten Pudding essen konnte. Dem Gewinner winkte ein Preis.
»Und geht nicht fort«, befahl ihr Matt, der ein paar Schritte von ihr fortgegangen war und sich noch einmal umdrehte. »In diesem Getümmel werde ich Euch sonst nicht mehr wiederfinden.«
Sie nickte nur und beobachtete, wie die beiden sich langsam durch die Menge schoben. Sie sah, wie der Marquis noch einmal die Hand hob und ihr zuwinkte, dann wurden die beiden Männer von der Menschenmasse verschluckt. Jessie machte ein paar Schritte auf die Bude zu, in der die Jungen über ihren Schüsseln mit dampfendem Haferbrei saßen, der mit Milch verdünnt und mit Zucker und Butter gewürzt war. Sie schaufelten die Portionen in ihren Mund, so schnell sie konnten.
Lächelnd beobachtete Jessie sie, sie wußte nur zu gut, wie sehnlich sich jeder von ihnen den Preis wünschte, den er gewinnen würde, wenn er den meisten Brei in sich hineinstopfte.
»Nun küß mir den Allerwertesten! Ist das nicht meine so lange verloren geglaubte Schwester?«
Jessies Magen zog sich zusammen. Beim Klang dieser ihr so wohlbekannten Stimme wirbelte sie herum. »Danny.« Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie begann zu zittern. »Was ... was tust du hier?« Neben ihm entdeckte sie den großen, dürren Connie Dibble und einen kleinen, untersetzten Mann mit sandfarbenem Haar, den sie nicht kannte.
»Na, was glaubst du, was wir hier tun, Schätzchen? Ich und Connie und Theo sind extra zum Jahrmarkt hierhergekommen, genau wie du.« Danny Fox war vier Jahre älter als Jessie. Er sah recht gut aus, war mittelgroß und hatte hellbraunes Haar und braune Augen. Es war der Blick dieser Augen, diese harte, eisige Kälte, die verriet, was für ein Mann er war.
»Danny hat recht, Jess«, mischte sich jetzt auch Dibble ein. »Du findest nirgendwo sonst außerhalb von London eine so reiche Beute.«
Jessie sah sich schnell um, mit jedem Augenblick schlug ihr Herz schneller. Gott sei Dank, Matthew war nirgendwo zu sehen.
»Du hältst wohl Ausschau nach deinem hübschen Kapitän zur See, wie, Schätzchen?« Ihr Halbbruder lachte – und dieses Lachen jagte ihr einen weiteren Schauer über den Rücken. »Ich habe dich mit ihm gesehen. Hast du etwa geglaubt, ich hätte vergessen, wer er ist? Das ist nicht anzunehmen.« Er rieb mit einem Finger über seine leicht buckelige Nase. »Dieser Schuft hat mir meine verdammte Nase gebrochen.«
Jessie erstarrte. »Was hast du denn erwartet – immerhin hast du versucht, ihm seine Börse zu stehlen.«
Er hörte ihr überhaupt nicht zu, sondern streckte die Hand aus und strich über den Stoff ihres rosafarbenen Kleides. »Du kleidest dich ziemlich elegant ... für eine Dirne.«
Jessies Magen hob sich, alles Blut schien aus ihrem Kopf zu weichen. Danny war schon immer grausam gewesen. Als sie noch klein war, hatte er sie gnadenlos verprügelt, wenn ihm der Sinn danach stand.
»Ich bin keine Dirne.«
Er lachte noch einmal, kalt und geringschätzig. »Nenne es, wie du willst, Schätzchen. Du bist nichts anderes als das, was du früher warst. Nur, weil dein tölpelhafter Geliebter mehr Geld in seiner verdammten Tasche hat, macht das noch lange keinen Unterschied.«
»Er ist nicht mein Geliebter.«
Danny packte ihren Arm und rüttelte sie. »Lüg mich nicht an, Mädchen. Ich habe gesehen, wie er dich angeschaut hat. Der Mann würde am liebsten gleich hier über dich herfallen, in einer dieser Buden.« Er strich sanft über ihre Wange, seine Finger waren kalt und ein wenig feucht, es waren nicht die rauhen Finger eines hart arbeitenden Mannes.
Der untersetzte Mann hinter Danny schob sich nach vorn. »Wieviel willst du für sie haben, Danny?« Er blickte über seine Schulter zu einem schmalen Weg, der zwischen den Buden hindurchführte. »Meine Münzen sind genausogut wie die seinen, und mein Ding regt sich, wenn ich sie nur anschaue.«
Jessie versuchte, sich aus dem Griff ihres Bruders zu befreien, doch er umklammerte sie nur noch fester, und ein heftiger Schmerz fuhr durch ihren Arm. »Laß mich los, Danny.«
»Du glaubst wohl, du bist besser als wir, wie? Mit all deinen feinen Worten und den eleganten Kleidern. Du bist noch immer eine Dirne, Missy. Nichts, was du tust, wird etwas an dem Leben ändern, in das du hineingeboren wurdest.«
»Ich bin keine Dirne. Und ich war auch nie eine. Du warst nicht einmal da, als Mama gestorben ist. Du warst viel zu sehr damit beschäftigt, dem dreibeinigen Monster zu entkommen und dafür zu sorgen, daß man dich nicht nach Newgate brachte.«
Bei Jessies Erwähnung des Galgens lief Dannys Gesicht rot an. Unter seinem Auge pulsierte eine kleine Ader. Er kniff sie in die Wange. »Du willst sie haben, Theo?« fragte er den untersetzten Mann.
»Oh, ja, Danny, sehr sogar.«
»Gib mir die Börse, die du gerade geklaut hast, dann gehört sie dir. Es wird ihr guttun, wenn sie mal ordentlich rangenommen wird.«
Ein Blick in Theos lüsternes Gesicht genügte, um Jessica endgültig Angst einzujagen. »Ich werde schreien«, drohte sie. »Ich werde so laut schreien, daß ein Polizist kommt!«
»Nein, das wirst du nicht.« Danny drehte ihr den Arm auf den Rücken. »Denn dann wird dein Galan kommen, und ich werde ihn gebührend erwarten – hiermit.« Ein Messer blitzte in seiner Hand auf, als er sie in den schmalen Zwischenraum zwischen zwei Buden zerrte, in den nur wenig Licht fiel. »Außerdem möchtest du doch sicher nicht, daß einer dieser reichen Kerle, mit denen du dich abgibst, herausfindet, wer du wirklich bist, nicht wahr?«
Jessie versuchte, nach ihm zu treten, doch ihr Rock war ihr im Weg. Er drehte ihr den Arm ruckartig nach oben und riß ihn dann zurück. Der Schmerz war so heftig, daß es ihr übel wurde. Im nächsten Augenblick schon fand sie sich auf dem Boden wieder, unter dem untersetzten Mann, der sie mit seinem schweren Körper fast erdrückte. Seine schmutzigen, plumpen Finger preßten sich auf ihren Mund, so fest, daß sie nicht schreien konnte.
Er grunzte und zerfetzte das Mieder ihres Kleides. Ihre Brüste sprangen heraus, und er knetete sie so fest, daß Jessie die Tränen in die Augen schossen. Ihre Lungen schmerzten von der Anstrengung, genügend Luft einzuatmen, weil sein Gewicht ihr den Atem raubte. Lieber Gott, wie hatte ihre Mutter das nur aushalten können? Der übelriechende Atem des Mannes erstickte sie fast, und Jessie wünschte sich, sie wäre besser tot, als so etwas zu ertragen.
Sie trat um sich, versuchte Theos schweren Körper von sich zu schieben, doch das schien ihn nur noch mehr zu erregen.
»So ist es richtig, Mädchen. Du mußt kämpfen. Ich werde dir einen Ritt bieten, den du so schnell nicht wieder vergessen wirst.«
Jessie verfluchte ihn, sie bedachte ihn mit Worten, an die sie sich nicht einmal mehr zu denken erlaubt hatte. Doch weil er ihr noch immer den Mund zuhielt, kam kein Wort über ihre Lippen. Doch sosehr sie auch kämpfte, so heftig sie sich auch wehrte, sie konnte sich nicht aus seiner Umklammerung befreien. Sie stöhnte erstickt auf, als er über ihre Beine strich und ihr den Rock hochschob. Dann fingerte er an den Knöpfen vorn an seiner Hose. Er knurrte, weil er sich so anstrengen mußte, um endlich sein Ziel zu erreichen.
»Laßt sie los.« Der Befehl, der plötzlich hinter ihm ertönte, klang durch die ruhige, leise Stimme noch viel gefährlicher.
Jessie schloß die Augen, heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Matthew war gekommen. Sie war nicht sicher, was schlimmer war, den brutalen Angriff auf ihren Körper zu ertragen oder die Verdammung, die sie sicher in seinem Gesicht lesen würde.
»Ich habe gesagt, laßt sie los.«
Die fleischige Hand löste sich von ihrem Mund, und Theo kam stolpernd auf die Füße und suchte in dem dämmrigen Gang nach seinen Kumpeln. Jessie versuchte zu sprechen, sie wollte Matthew eine Warnung zurufen, doch ihr Hals war so ausgedörrt, daß sie sich erst über die Lippen lecken und sich räuspern mußte.
»Vorsichtig, Matthew! Einer von ihnen ... einer von ihnen hat ein Messer.«
Er warf nur einen flüchtigen Blick in ihre Richtung. Viel mehr interessierte ihn momentan sein Gegner. Mit leicht gespreizten Beinen und geballten Fäusten erwartete er ihn. Sein ganzer Körper war angespannt.
»Euren Bruder und seinen Freund habe ich schon ausgeschaltet«, informierte er sie wie nebenbei.
Ein Schauer lief durch ihren Körper. Hatte er sie etwa umgebracht? Das Gesicht des Kapitäns war entschlossen. Hart, dunkel und unnachgiebig. Noch nie war er ihr so gefährlich erschienen.
Der dicke Mann grinste ihn verschlagen an. »Ich bin nicht so wie die beiden, Kumpel, bei mir müßt Ihr schon besser aufpassen.«
Theo senkte den Kopf und ging dann wie ein wütender Stier auf Matt los. Mit einem Stoß warf er ihn in den Dreck. Matt trug seine Jacke nicht mehr, stellte Jessie fest. Sein weißes Batisthemd war zerrissen und mit Blut beschmiert, zweifellos von seiner Begegnung mit ihrem Bruder.
Mit zitternden Händen hielt Jessie ihr zerrissenes Mieder vor der Brust zusammen. Sie kam wankend auf die Beine und suchte dann verzweifelt nach einer Waffe. Ihr Bruder hatte diesen Ort mit Bedacht gewählt. Nebenan in der Bude ging der lärmende Wettbewerb weiter, und der Applaus für die Akrobaten in der Nähe war so laut, daß niemand hören konnte, was hier vor sich ging.
Matthew war wieder auf den Beinen, Schlag um Schlag versetzte er Theo. Doch der grinste nach wie vor. Jessie sah Blut an seinen Zähnen.
»Sie ist ein tolles Weib«, sagte er und tänzelte um Matt herum, um in eine bessere Position für einen weiteren Schlag zu kommen. »Und sie hat die hübschesten Titten, die ich je gesehen habe.«
Ein leises Grollen stieg in Matthews Brust auf. Er holte aus und traf den kräftigen Mann blitzschnell am Kinn. Der mächtige Schlag warf Theo zu Boden. Doch der Mann brummte nur, schüttelte seinen Kopf und kam wieder auf die Füße. Er versetzte Matt zwei linke Haken, die jeden anderen Mann ins Land der Träume geschickt hätten. Matt wich geschickt aus, doch der letzte Haken traf ihn voll an der Schulter.
Er steckte noch einen Schlag in den Magen ein, doch dann erwischte er mit der Rechten Theos Kinn und setzte mit der anderen Faust sofort nach. Aus Theos Nase und Mund floß das Blut. Die ganze Zeit über schlich Jessie um die beiden herum. Ihre Knie zitterten, und ihr Herz raste, während sie nervös Ausschau hielt nach ihrem Bruder und Connie Dibble und gleichzeitig nach einem Weg suchte, dem Grafen zu helfen.
Lieber Gott, sie konnte nicht weglaufen und Hilfe holen. Wenn sie einen Polizisten holte, würde der den Kampf beenden, aber es würden auch eine Menge Fragen gestellt werden. Fragen über sie, die zu weiteren Fragen führen würden und die Matthew und Papa Reggie nur Schwierigkeiten bringen würden. Sie durfte die beiden nicht in Verlegenheit bringen.
Plötzlich sah sie ein Stück Holz, das beim Aufbau einer der Buden übriggeblieben war. Rasch umklammerte sie es, sprang hinter den kräftigen Mann, der blind verbissen mit Matt kämpfte, und krachte ihm, so fest sie konnte, das Holz auf den Kopf.
Einen Augenblick lang schwankte er, seine Augen sahen sie mit ungläubigem Staunen an. Dann sank er mit einem Aufstöhnen in die Knie, rollte mit den Augen und fiel nach vorn. Jessie stand seitlich hinter ihm. Sie bebte am ganzen Körper, noch immer umkrallte sie das Stück Holz und merkte gar nicht, daß Splitter davon in ihre Haut gedrungen waren. Ein Stück weiter stand Matthew mit geballten Fäusten, sein Gesicht war blutig und die Fingerknöchel aufgeschürft. Er atmete stoßweise.
»Matthew?«
Er hob den Kopf und sah sie an. Ihr war nicht bewußt, daß das Mieder ihres Kleides offenstand und ihre nackten Brüste zeigte. Erst als sie den brennenden Blick des Grafen Strickland registrierte, wurde ihr das klar.
»Bedeckt Euch«, befahl er heiser. Aus jeder Faser seines Körpers sprühte sein Zorn. »Es sei denn, Ihr wollt das beenden, was dieser Hurensohn begonnen hat.«
Jessie starrte in seine unerträglich kalten blauen Augen, fühlte die bittere Verachtung, und ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie ließ das Stück Holz fallen und wandte sich ab. Mit zitternden Händen hielt sie ihr zerrissenes Mieder zusammen. Ihre Frisur hatte sich gelöst, und ihr Haar hing zerzaust über ihren Schultern.
Sie hörte die Schritte des Kapitäns hinter sich, schloß die Augen und biß fest die Zähne zusammen.
»Ich habe Euch doch gesagt, Ihr solltet auf mich warten.« Er legte ihr hart die Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich herum. »Ich habe Euch gesagt, Ihr solltet Euch nicht von der Stelle bewegen.«
Jessie schüttelte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. Den Schmerz in ihrem Arm spürte sie kaum. »Ich ... ich habe nur ein paar Schritte gemacht, und dann tauchte Danny auf. Er ... er muß uns beobachtet haben. Er dachte, ich wäre Eure ... Eure ...« Sie hielt inne und sah durch einen Tränenschleier zu ihm auf. Die Tränen flossen unkontrolliert, sie konnte sie nicht zurückhalten. Er hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt und den Mund grimmig verzogen.
Jessie zwang sich, seinem anklagenden Blick standzuhalten. »Wo ... wo ist mein Bruder? Habt Ihr ihn umgebracht?«
Ein grausames Lächeln umspielte seinen Mund. »Das hätte ich besser getan. Denn das hat er mit mir versucht.«
Sie nickte schwach und fühlte sich ganz elend. Als sie wankte, packte Matthew ihren Arm fester und zwang sie, ihn anzusehen.
»Wenn ich Euch beim nächsten Mal sage, was Ihr tun sollt, dann werdet Ihr es tun. Habt Ihr mich verstanden? Ihr tut es nicht etwa nur halb, oder Ihr gebt nur den Anschein, daß Ihr meinem Befehl folgt. Ihr tut es.«
Als sie nicht gleich antwortete, schüttelte er sie. »Habt Ihr mich verstanden?«
»Ja«, flüsterte sie und war verzweifelter als an dem Tag, an dem sie beinahe verhungert wäre, nachdem sie das Black Boar Inn verlassen hatte.
Matthew starrte sie noch einen Augenblick lang an, dann zog er sie an sich und legte die Arme um sie. Voll ungläubigen Staunens bemerkte sie, daß er zitterte.
»Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, was ich gefühlt habe, als ich diesen Bastard auf Euch gesehen habe? Ich wollte ihn umbringen. Als er Euch berührte, hätte ich ihn mit meinen nackten Händen auseinanderreißen mögen.«
Er führte die Hand an ihren Hinterkopf und drückte ihre Wange an seine Brust. Sanft streichelte er ihr Haar. Sie fühlte, wie schnell sein Herz schlug.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.
»Es tut Euch leid?« Er hob ihr Gesicht mit einem Finger hoch, damit sie ihn ansah. »Dieser Hurensohn hat Euch fast vergewaltigt, und Euch tut es leid?«
Sie stöhnte leise, und dann versagten ihr die Beine, den Dienst. Matthew stieß einen heftigen Fluch aus und fing sie auf. Er sagte nichts, als er mit ihr auf dem Arm aus dem Schatten trat und sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Mit langen Schritten lief er zur Kutsche. Jessie schloß die Augen und drehte das Gesicht weg vor den neugierigen Blicken der Leute.
»Ich kann es nicht glauben, daß Ihr ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt habt«, sagte er, während er sich durch die Menge schob.
Jessie leckte sich über die Lippen. »Ich bin ...«
»Ich weiß – es tut Euch leid.«
Sie lächelte schwach bei seinen Worten. »Nein ... nein, es tut mir nicht leid, daß ich ihn geschlagen habe.«
Ein tiefes Brummen kam aus seiner Kehle. »Kleine Hexe«, schalt er sie leise, doch sie fühlte, daß sein Zorn langsam verflog. Langsam wurde ihr klar, daß er nicht auf das zornig gewesen war, was sie getan hatte, nein, er hatte sich Sorgen um sie gemacht. Matthew hatte sich Sorgen um sie gemacht, um Jessie Fox.
Warme Erregung erfaßte sie und ließ sie schwindelig werden. Vorsichtig, damit ihr Mieder sich nicht wieder öffnete, schlang sie einen Arm um seinen Hals und barg ihren Kopf an seiner Schulter.
»Ich hätte vorsichtiger sein müssen«, wisperte sie, als sie um die Ecke bogen, an der die Kutsche wartete.
»Ich bin derjenige, der vorsichtiger hätte sein sollen«, widersprach er ihr. »Ich hätte mir denken können, daß so etwas geschehen würde.« Doch Matthew konnte man wohl kaum einen Vorwurf machen. Ihr Bruder war schuld an der ganzen Sache, und wenn der Kapitän ihn mit dem Leben hatte davonkommen lassen, würde er sicher irgendwann wieder auftauchen.
Jessie erbebte bei diesem Gedanken. Matthew mußte es gefühlt haben, denn er hielt sie noch fester. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte ein Mann sie in seinen Armen gehalten, nicht einmal Papa Reggie. Im Schankraum hatten die Männer ihr derbe Klapse auf den Po gegeben und versucht, ihre Brüste zu betatschen. Ihr Bruder hatte sie windelweich geprügelt und ihr einmal sogar ein blaues Auge verpaßt.
Doch noch nie hatte ein Mann sie beschützend in seinen Armen gehalten.
Jessie schmiegte sich noch enger an ihn, tief atmete sie den Duft nach Männlichkeit ein. Sie spürte seine kräftigen Muskeln, wenn er sich bewegte. In seinen Armen fühlte sie sich sicher vor der ganzen feindlichen Welt. Ihre Brüste drückten gegen seinen Arm, und sie empfand als Antwort darauf ein Flattern in ihrem Magen. Etwas Ähnliches war mit ihr geschehen, als er sie geküßt hatte, doch da war ihr merkwürdig heiß gewesen, und sie hatte sogar ein wenig Angst gehabt. Heute fürchtete sie sich nicht. Sie wollte nur für alle Zeiten so behütet in seinen Armen liegen.
Schließlich erreichten sie die Kutsche, und Matthew setzte sie vorsichtig hinein. Er schlang ihr eine Decke um, dann setzte er sich neben sie und lehnte sich in die Polster zurück. Jetzt blickten seine blauen Augen wieder ernst und abweisend, sein Gesicht war streng.
»Ihr werdet nichts davon meinem Vater sagen. Ich möchte nicht, daß er sich unnötig aufregt.«
»Nein«, stimmte sie ihm zu. »Papa Reggie darf das nicht erfahren.« Doch das gleiche konnte wieder geschehen, das wußten sie beide. Sie war Jessie Fox, nicht etwa die Tochter von Simon Fox, dem entfernten, verstorbenen Cousin des Marquis, seinem langjährigen Freund. Das war die Geschichte, die Papa Reggie sich ausgedacht hatte, ehe er sie in die Schule geschickt hatte.
Ihr Bruder kannte die Wahrheit und die anderen auch. Wenn nur ein kleiner Ausrutscher, ein Vorfall wie dieser heute, noch einmal passieren würde, wäre der Name der Belmores ruiniert. Vierhundert Jahre Stolz und Ehre wären dann in den Schmutz gezogen – durch sie.
Jessie tat das Herz weh. Lieber Gott, bis heute hatte sie nicht geahnt, wie entschlossen sie war, ihr früheres Leben auszulöschen.