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Matt versuchte, sich auf die kleingedruckten Nachrichten der ersten Seite des Morning Chronicle zu konzentrieren, doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu Jessie Fox. Er hatte nicht erwartet, sie in der Küche zu finden. Als die kleine Gaunerin, die sie war, und mit all der Aufmerksamkeit, mit der sein Vater sie bedachte, hatte er sie sich viel eher im Speiseraum vorgestellt, umgeben von eilfertigen Dienstboten, die ihre Wünsche erfüllten.

Doch als ihm dann wieder einfiel, wie schmutzig und abgerissen sie gestern ausgesehen hatte, war er überzeugt, daß Jessie doch eher in die Küche gehörte.

Ein zynisches Lächeln begleitete seine Gedanken. Eine Frau, die aussah wie Jessie Fox, gehörte in das Bett eines Mannes. Sie wollte eine Erziehung? Er würde mit Freuden dort weitermachen, wo Mrs. Seymours Schule aufgehört hatte.

Er blickte versonnen zur Hintertür. Sie hatte sehr hübsch ausgesehen in dem schlichten gelben Kleid. Dann griente er anerkennend. Jessie Fox hatte tatsächlich interessiert die Londoner Zeitung gelesen. Doch dann wurde ihm wieder bewußt, wie sehr sich sein Vater von diesem hinterhältigen kleinen Luder beeinflussen ließ. Sein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war.

Jetzt wunderte er sich, warum sie es so eilig gehabt hatte. Warum war sie durch die Hintertür gegangen und nicht durch die Vordertür? Und wohin ging sie, so früh am Morgen? Welche anderen Verpflichtungen konnte sie um halb sieben am Morgen haben?

Ein übler Gedanke beschlich ihn. Jessica Fox war eine wunderschöne Frau. Nach außen hin besaß sie die Anmut einer Lady. Aber die Tatsache blieb, daß dieses Mädchen in einem Dirnenhaus aufgewachsen war. Sie war fünfzehn Jahre alt gewesen, als sein Vater sie nach Belmore gebracht hatte – alt genug nach dem Standard des Black Boar Inn, um das Handwerk ihrer Mutter übernommen zu haben.

Vielleicht war Jessie Fox ja gar nicht so unschuldig, wie sein Vater glaubte. Vielleicht hatte Jessie Fox einen Liebhaber.

Matt griff nach seiner Reitjacke, die an einem Haken an der Wand hing, und lief durch die Hintertür aus der Küche. Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloß.

Im Stall war Jessie nirgendwo zu finden. Alle Kutschen standen noch an ihrem Platz. Er befahl dem Stallknecht, ihm ein Pferd zu satteln, und sah sich in der Zwischenzeit um. Er suchte im Garten nach ihr und ging hinüber zum See. Doch er konnte sie nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte er sich ja geirrt und sie war bereits wieder ins Haus zurückgegangen. Er blickte zurück zum Stall. Der Stallknecht hielt einen großen kastanienbraunen Vollblutwallach am Zügel, der ungeduldig mit den Hufen über den Boden scharrte.

Er seufzte. Seine Zeit auf Belmore war bei weitem zu kurz, um sich zusätzlich Sorgen wegen Jessie Fox zu machen. Er ging zum Stall, nahm die Zügel des Pferdes und schwang sich in den Sattel.

Im Inneren der alten hölzernen Remise, die aufgegeben worden war, als eine neue aus Stein gebaut worden war, beendete Jessie gerade die letzten Vorbereitungen für die Schulklasse, die sie heute unterrichten würde. Hier drinnen war es gemütlich und warm. Einer der Stallknechte hatte die Aufgabe übernommen, jeden Morgen in dem alten eisernen Ofen ein Feuer anzuzünden. Papa Reggie verdankte sie es, daß der Raum sauber und ordentlich eingerichtet war, mit Gardinen aus gebleichtem Musselin vor den Fenstern, mit Tischen und Bänken, die klein genug waren für die Kinder, und mit einem Pult für Jessie.

Sie versicherte sich, daß die Schiefertafeln für jedes Kind an ihrem Platz lagen, und blickte auf, als sich die Tür öffnete und der kleine Georgie Petersham, der Sohn des Küfers, das Schulzimmer betrat. Ihm folgten der zehnjährige Harold Siddon, die siebenjährige Amanda Jane Harvey und ihre achtjährige Schwester Penelope. Ein paar Minuten später kam auch Simon Stewart, ein schlaksiger, hochaufgeschossener Junge von vierzehn, und die neunjährige Fanny Wills. Es war eine kleine, mutige Gruppe von Kindern, die noch nie zuvor in ihrem Leben in die Schule gegangen waren. Doch konnten alle es kaum erwarten, etwas zu lernen, genau wie Jessie früher.

»Guten Morgen, Kinder«, begrüßte sie die Kleinen.

»Guten Morgen, Miss Fox«, antworteten sie alle gleichzeitig. Seit Jessie aus dem Internat zurückgekehrt war und Papa Reggie davon hatte überzeugen können, die Schule für die Kinder der Dienerschaft und der Pächter von Belmore einzurichten, hatten sie erstaunliche Fortschritte gemacht. Es waren reizende Kinder. Sie arbeiteten emsig, und Jessie liebte jedes einzelne von ihnen.

Sie lächelte die Kleinen an und fühlte ein eigenartiges Ziehen in ihrem Herzen. Es war wunderbar, gebraucht zu werden, etwas von dem großzügigen Geschenk zurückgeben zu können, das sie bekommen hatte.

»Nun, ihr seht alle ausgeschlafen und voller Tatendrang aus. Dann können wir ja beginnen.«

Matt ritt bis zum späten Nachmittag. Er sah sich das Korn auf den Feldern an und freute sich über die gesunden Schafe auf einer entfernteren Weide. Ab und zu blieb er stehen und sprach mit einigen der Pächter, die er alle schon jahrelang nicht mehr gesehen hatte.

Er hatte nie daran gedacht, einmal Herr auf Belmore zu sein. Der Titel und das Gut hätten an Richard gehen sollen. Matthew hatte versucht, sich nicht zu eng an dieses Stück Erde zu binden – das war auch der Grund, weswegen er das Leben auf See gewählt hatte.

Doch als er jetzt über die endlosen grünen Felder blickte, die eine reiche Ernte versprachen, und die gesunden riesigen Viehherden betrachtete, verspürte er ein heißes Glücksgefühl. Dieses Land würde einmal ihm gehören. Sein Vater konnte es kaum erwarten, ihm alles zu übergeben. Wäre nicht die Verpflichtung den Männern von der Norwich gegenüber gewesen, so hätte er sofort das anstrengende Leben auf See aufgegeben. Er war bereit für eine neue Herausforderung.

Zufrieden mit dem, was er gesehen hatte, lenkte Matthew sein Pferd zurück nach Belmore. Nur noch einmal würde er absitzen, dann würde er nach Hause zurückreiten.

Die Sonne stand tief am klaren, blauen Nachmittagshimmel, als er von seinem großen Wallach abstieg und die Zügel an den Ast einer Erle neben der Tür der alten Remise band. Mit großen Schritten ging er zum Eingang. Die Muskeln in seinen Beinen schmerzten ein wenig von den ungewohnt langen Stunden im Sattel.

Durch eine Lücke in den Bäumen hatte er das alte leerstehende Haus am Vormittag entdeckt. Es war einer der Lieblingsplätze seiner Kindheit gewesen. Er und Richard hatten oft oben auf dem Boden der Remise gespielt. Sie hatten mit ihren selbstgeschnitzten hölzernen Schwertern gekämpft und sich Abenteuergeschichten ausgedacht. Dort oben hatte er die kostbarsten Besitztümer seiner Kindheit versteckt – seine Muschelsammlung, ein Gedicht, das er selbst verfaßt hatte, sein Lieblingsbuch mit Geschichten, die sein Vater ihm vorlas, ehe er ins Bett ging. Er hatte sich gefragt, ob das alles wohl noch dort war.

Er lächelte, als er den Fingerhut und die Butterblumen entdeckte, die noch immer neben dem Eingang blühten. Dann stieß er die schwere Tür auf. Er hatte erwartet, daß sie in den Angeln quietschte und daß er sich einen Weg durch Spinnweben in einen dunklen, staubigen Raum würde bahnen müssen. Doch der Anblick, den er nun vor sich hatte, ließ ihn verdutzt innehalten.

Jessica Fox sprang hinter ihrem Pult auf. Ihre Augen waren vor Schreck über den unerwarteten Besucher weit aufgerissen.

»Lord Strickland!« krächzte sie.

Er sah sich sechs zarten Kindergesichtern gegenüber, die ihn neugierig betrachteten. »Mistress Fox. Wieder einmal ist es Euch gelungen, mich zu überraschen.« Und wieder einmal fühlte er diese eigenartige Erleichterung. Jessie Fox war, wie es schien, doch nicht bei ihrem Geliebten.

Sie bedachte ihn mit einem kühlen Lächeln. »Kinder«, sagte sie. »Wir waren gerade fertig, als Lord Strickland eintrat. Nehmt eure Lesebücher mit nach Hause. Wir sehen uns dann alle morgen wieder.«

Zu seiner Verwunderung erhob sich ein unwilliges Murmeln, als wollten die Kinder noch gar nicht gehen. Folgsam packten sie jedoch ihre Sachen zusammen – die geflickten Jacken, die Wollmützen, die Handschuhe und die Lesebücher. Dann schoben sie sich an Matt vorbei und verließen den Raum.

Jessie Fox blieb hinter ihrem Pult stehen. Sie hatte das Kinn gereckt und spannte die Schultern an, als wäre sie mit einem Feind konfrontiert. In ihrem hellen gelben Kleid, mit dem Sonnenlicht auf ihrem goldenen Haar, war sie die bezauberndste Frau, der Matt je begegnet war.

Heiß stieg das Verlangen in ihm auf, es pulsierte in seinen Lenden. Zwei Jahre auf See hatten ihren Tribut gefordert. Die Nachte mit der kleinen Rothaarigen in Portsmouth waren bei weitem nicht genug gewesen.

Doch vielleicht lag das ja auch nur an Jessie Fox.

Als er auf sie zuging, war er bemüht, die Reaktionen seines Körpers unter Kontrolle zu halten.

»Ich denke nicht ... ich nehme an, Ihr seid hiermit nicht einverstanden«, begann sie trotzig und deutete auf die kleinen Tische und Bänke. »Die meisten Leute Eurer Art sind dagegen.« Ihre Brüste hoben sich heftig bei jedem Atemzug. Am liebsten hätte er seine Hände draufgelegt.

»Meiner Art?« wiederholte er. »Ihr meint wohl die Aristokratie, Miss Fox?«

Jessie leckte sich nervös über die Lippen, und wieder fühlte er dieses Ziehen in seinen Lenden. Was immer sie war oder gewesen war, Jessica Fox war auf jeden Fall eine wunderschöne, sinnliche Frau. Auch wenn ihm diese Erkenntnis überhaupt nicht gefiel, mußte Matthew zugeben, daß er sie in seinem Bett haben wollte.

»Nicht alle Aristokraten«, betonte sie. »Männer wie Euer Vater nicht. Die anderen glauben, daß Kinder aus den unteren Ständen bleiben sollten, wo sie hingehören. Armut und Unwissenheit garantieren billige Arbeitskräfte für diejenigen, die über ihnen stehen. Und es besteht nach wie vor die Meinung, daß die Armen, wenn man ihnen eine Bildung zukommen läßt, umgehend eine Revolution anzetteln werden.«

Er kam um das Pult herum. »Ah, ja. So, wie es in Frankreich passiert ist. Unterrichtet diese sechs kleinen Kinder und hundert andere wie sie, dann werden früher oder später die Köpfe rollen. So hattet Ihr das doch gemeint, nicht wahr, Mistress Fox?«

»Jawohl.«

»Und Ihr glaubt, daß ich auch so denke?«

Sie wich nicht zurück, als er noch einige Schritte näher kam, doch ihre Augen wanderten mehrmals zur Tür. »Ich ... ich weiß nicht, was Ihr denkt.«

»Was ich denke, Mistress Fox, ist, wenn Ihr gewillt seid, diese Kinder zu unterrichten, und wenn sie lernen wollen, dann sollten sie die Möglichkeit dazu haben. Ich bin froh, daß mein Vater damit einverstanden war.« Er stand jetzt so dicht vor ihr, daß er ihre kleinen schwarzen Pupillen sehen und den Geruch ihres Parfüms schnuppern konnte, einen schwachen Duft nach Jasmin.

»Das war aber nicht Eure Meinung, als der Marquis mir geholfen hat«, begehrte sie auf, und ein vorwurfsvoller Blick lag in ihren kornblumenblauen Augen.

»Nein ... das war es nicht.« Seine Mundwinkel zuckten etwas nach oben. »Vielleicht war ich zu sehr damit beschäftigt, faulem Obst auszuweichen oder zu verhindern, daß mir die Münzen aus meiner Tasche geklaut wurden.«

»Oder vielleicht wart Ihr ja auch zu beschäftigt mit den Mädchen in den Zimmern über dem Gasthof.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich war nur ein paarmal dort. Ich bin überrascht, daß Ihr das wißt. Ihr wart damals noch ein Kind.« Er sah, wie ihr Blick über sein Gesicht schweifte, bis er an seinem Mund verweilte. »Auf der anderen Seite – vielleicht wißt Ihr ja eine ganze Menge mehr über diese Dinge, als mein Vater sich vorstellt.« Er legte eine Hand an ihre Wange und fuhr mit dem Daumen über ihr Kinn.

»Was ... was meint Ihr damit?«

»Ich bin ganz einfach neugierig, Miss Fox. Ich frage mich ... seid Ihr wirklich so unschuldig, wie mein Vater glaubt?« Oder war sie das hinterhältige kleine Luder, das Matt vermutete, eine Frau, die sehr erfahren war in der Kunst, einem Mann Freude zu schenken? Ihm schien es plötzlich, als sei dies die wichtigste Frage auf der ganzen Welt.

»Ich ... ich muß ins Haus zurück«, flüsterte sie, als er einen Arm um ihre Taille legte und sie an sich preßte.

»Noch nicht. Einen kleinen Moment bitte.«

»Aber ich ...«

»Wißt Ihr eigentlich, wie bezaubernd Ihr seid?« Sie zitterte, als er ihr Gesicht zu sich hob, um sie zu küssen. »Wer hätte erwartet ...« Sein Mund drückte sich auf ihren, er erforschte die weichen, warmen Lippen. Er neckte sie, versuchte sie dazu zu bringen, die Lippen zu öffnen. Ihre Handflächen legten sich gegen seine Brust, zögernd, unsicher, ängstlich.

Matt ignorierte ihren Widerstand, sein Kuß wurde heftiger. Er ergriff Besitz von ihrem Mund und schob seine Zunge tief in ihre samtene Mundhöhle. Jessie schwankte, sie griff nach seinen Schultern, und ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Die Beine schienen ihr den Dienst zu versagen, und sie klammerte die Arme um seinen Hals, um sich festzuhalten.

Verdammte Hölle – er konnte die Wahrheit nicht länger leugnen. Dieses Mädchen war keine Dirne. Sie war unschuldig – ein unwissendes Kind, das wahrscheinlich noch nie zuvor geküßt worden war.

Er fluchte verhalten, als er sie von sich schob. Er war erregt, in seinem Körper pulsierte das Verlangen nach ihr.

»M-Matthew?« Ihre Stimme klang dünn und atemlos.

»Gleich. Nur einen kleinen Augenblick.« Er würde allerdings wesentlich länger brauchen, um sich wieder zu fangen. Vielleicht sollte er sofort in eiskaltes Wasser tauchen – doch wenigstens kannte er jetzt die Wahrheit.

Sie hob zitternd die Hand an ihre Lippen. »Ihr ... Ihr habt mich geküßt.«

Beinahe hätte er gelacht. Sie konnte von Glück sagen, daß das alles war, was er getan hatte. Er brauchte seine ganze Willenskraft, um sie nicht auf ihr Pult zu werfen, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sie zu lieben, gleich hier in diesem provisorischen Schulzimmer. »Ich biete Euch meine untertänigste Entschuldigung an, Miss Fox. Ich hätte mir eine solche Freiheit nicht erlauben dürfen.«

Sie versteifte sich, der benommene Ausdruck wich aus ihrem Gesicht. Vielleicht hatte sie die Unehrlichkeit in seiner Stimme gehört. Was er getan hatte, tat ihm absolut nicht leid.

»Warum?« wollte sie wissen, und ihre Augen glitzerten jetzt kühl und abweisend. »Warum habt Ihr mich geküßt?«

Er zog einen Mundwinkel hoch. »Weil ich es wollte, Miss Fox. Gerade Ihr solltet das doch verstehen. Wenn ich mich recht erinnere, tut Ihr doch immer genau das, was Ihr wollt.«

Jessie antwortete nicht. Ihr Gesicht war verschlossen. Er konnte nicht erkennen, was sie dachte oder fühlte. Ihre Hände zitterten, als sie die Papiere auf ihrem Pult ordnete, doch als sie sich aufrichtete, war ihr Rücken gerade und ihr Kinn hoch erhoben.

»Ich muß jetzt gehen«, erklärte sie und wollte sich an ihm vorbeischieben.

Matt hielt ihren Arm fest. »Es war doch nur ein Kuß, Miss Fox.«

Sie wandte sich um und schien durch ihn hindurchzusehen. »Tut das nie wieder«, sagte sie tonlos. Und damit verschwand sie.

Matthew starrte ihr nach. Er war noch immer erregt. Seine Erregung drängte sich schmerzhaft gegen den enganliegenden Stoff der Hose. Nein, er würde sie nicht wieder küssen. Er begehrte sie – ja –, und wenn sein Vater nicht wäre, würde er alles tun, was in seiner Macht stand, um sie in sein Bett zu bekommen. Aber er würde sie auf keinen Fall heiraten.

Caroline Winston würde seine Frau werden und nicht die Tochter von Eliza Fox, ganz gleich, wie verlockend die kleine Hexe auch geworden war.

In den nächsten Tagen schwor sich Matt, sich soweit wie möglich von Jessie Fox fernzuhalten. Die meiste Zeit schaffte er das auch recht gut. Bei den Mahlzeiten konnte er ihr jedoch nicht aus dem Weg gehen, und mehrere Male begegnete er ihr zufällig irgendwo im Haus. Fast jeden Vormittag und einen vollen Tag in der Woche verbrachte sie im Schulhaus und unterrichtete die Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen.

Wenn sie nicht bei den Kindern war, so hatte Matt festgestellt, saß sie in der Bibliothek von Belmore und studierte Bücher in französischer oder lateinischer Sprache. Sie las die Morgenzeitung von der ersten bis zur letzten Seite und nahm jede Einzelheit mit einem Verstand auf, der so nach Wissen dürstete, wie Matt es bei keinem Menschen je erlebt hatte.

Wie auch immer seine Meinung von ihr sein mochte, sie war ernsthaft bemüht, sich zu bilden. Bis zu welchem Ausmaß, das ahnte er nicht. Sie war intelligent und diskutierte freimütig über Themen, die ihr am Herzen lagen. Im übrigen machte sie nichts als Schwierigkeiten.

Wie zum Beispiel an dem Morgen eine Woche nach seiner Ankunft. Da war Jessie mit einem zerrissenen Kleid und wild zerzaustem Haar ins Haus geschlichen.

»Was zum Teufel ist mit Euch geschehen?« hatte er sie angefahren.

Brennende Röte war in ihre Wangen gestiegen. »Der Ball der Kinder ... er ist in einem Bergahornbaum steckengeblieben. Ich mußte raufklettern und ihn runterholen.«

Er feixte spöttisch. »Wenn ich mich recht erinnere, Miss Fox, dann konntet Ihr schon immer sehr gut auf Bäume klettern.«

Sie erstarrte kurz bei seinen Worten. Dann reckte sie ihre zierliche kleine Nase in die Luft und marschierte wortlos die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Matt ließ sie einfach stehen.

Ein anderes Mal erwischte er sie dabei, wie sie mit einem Hausierer stritt, der seine Waren verkaufen wollte. Sie behauptete, der Mann hätte die Frau des Küfers beim Preis der Waren betrogen, und verlangte von ihm, daß er der Frau das Geld zurückgab. Sie schrien sich gegenseitig an und hätten damit wahrscheinlich auch nicht so schnell aufgehört, wäre er nicht dazwischengetreten und hätte dem Ganzen ein Ende bereitet.

Zweimal ertappte er sie dabei, wie sie sich ins Haus stahl mit einem Kleid voller Lehm, einmal hatte sie sogar Lehmspuren im Gesicht. Der Himmel allein wußte, wie sie das anstellte.

Doch eigentlich machte ihm das nichts aus. So wunderschön sie war und sosehr er sie begehrte, Jessie Fox war noch immer Jessie Fox. Unter ihrer polierten Fassade war das Mädchen eigensinnig und erpicht darauf, Unruhe zu stiften. Matt biß die Zähne zusammen. Selbst wenn Jessies Vergangenheit kein Problem wäre – eine Angelegenheit, die sein Vater bis jetzt hatte verbergen können –, so war sie doch das genaue Gegenteil all dessen, was er von einer Frau verlangte.

Er wollte eine Frau, die anschmiegsam war und die sich leiten ließ, ein Mädchen mit einem ausgeglichenen Temperament wie Caroline, eine Frau, die ihm Kinder gebären würde mit dem gleichen sanften Wesen.

Jessie Fox war von dieser Idealfrau Tausende von Meilen entfernt.

Reginald Seaton, Marquis von Belmore, saß am Kopf des langen, polierten Mahagonitisches. Sein Sohn saß zu seiner Rechten, sein Mündel zu seiner Linken – die beiden Menschen, die ihm auf der Welt am meisten bedeuteten.

Jeden Abend seit Matthews Ankunft hatten die drei sich zum Abendessen getroffen. Und jedesmal war die Atmosphäre kühl und förmlich. Manchmal sah es fast so aus, als sei Jessica regelrecht feindselig. Matthew ignorierte sie so sehr, daß es schon unhöflich war.

Reginald lächelte innerlich. Er sah darin ein sehr gutes Zeichen.

Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit auf seinen Sohn, der auf seinen Teller blickte, als verlange dieser seine höchste Aufmerksamkeit. »Wie schmeckt dir das Wild, Matthew?« fragte er.

»Sehr gut, Vater.»

»Und das Rebhuhn, Jessica?«

»Köstlich, Papa Reggie. Das Essen ist sehr lecker.«

»Es freut mich, wenn es euch schmeckt. Morgen werden wir wesentlich bescheidener speisen.«

»Warum?« platzten beide wie aus einem Mund heraus. Matthew sah mürrisch aus, und Jessicas blonde Augenbrauen zogen sich hoch. Und beide fragten gleichzeitig: »Fahren wir irgendwohin ...?« Jessica wurde über und über rot, Matthews Augen blitzten belustigt, etwas, das in den letzten Tagen nur selten geschah.

»Nach Euch, Miss Fox«, meinte er, und seine Augen blitzten noch immer.

»Nach Euch, Mylord. Ich bin sicher, was auch immer Ihr zu sagen habt, ist weitaus bedeutender als alles, was ich je überhaupt nur denken könnte.« Sie reckte kampflustig das Kinn.

Matt betrachtete sie kurz, dann wandte er sich seinem Vater zu. »Werden wir irgendwohin fahren, Vater?«

»Genau das werden wir, mein Junge. In Eylesbury gibt es einen Jahrmarkt. Ich bin schon seit Jahren auf keinem mehr gewesen. Ich würde gern noch einmal hingehen, ehe ich zu alt dafür bin. Und ich möchte gern, daß ihr beiden mich begleitet.«

Matthew runzelte die Stirn. »Ich würde wirklich gern mitkommen, Vater, aber ich fürchte, ich habe bereits andere Pläne gemacht.«

»Ja, ich habe gesehen, daß der Lakai von Miss Winston ihre Visitenkarte abgegeben hat. Ich nehme an, sie wohnt jetzt wieder in Winston House.«

»Ja. Und da ich ihr bereits versprochen habe, sie zu besuchen, wäre es sehr unhöflich, wenn ich den Besuch wieder absagen würde.«

»Es wäre auch sehr unhöflich, wenn du deine Vereinbarung mit mir brechen würdest. Ich denke, wir waren doch zu einer Übereinkunft gekommen. Oder sollte ich mich geirrt haben?«

Leichte Röte kroch in Matts gebräunte Wangen. Stolz und Ehre waren die Worte, die den Helmschmuck von Belmore zierten. Matthew lebte danach, mehr als jeder andere Mann, den Reginald jemals gekannt hatte.

Sein Sohn nickte knapp. »Ich werde Lady Caroline eine Botschaft schicken.« Er lächelte gequält. »Morgen fahren wir zum Jahrmarkt.«

Jessica versuchte, sich zu beherrschen. Doch dann erhellte ein begeistertes Lächeln ihr Gesicht. »Ein Jahrmarkt! Ich bin noch nie auf einem Jahrmarkt gewesen, aber ich wollte immer so gerne einen erleben.«

»Noch nie?« fragte Matt ungläubig. »Sicher habt Ihr doch schon einmal ...«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war immer eine zu weite Reise, oder es ist sonst etwas dazwischengekommen. Später war Mutter dann krank, und ich mußte sie versorgen. Nachdem sie gestorben war, hatten wir kein Geld mehr für so etwas.« Ein dunkler Schatten fiel bei dieser Erinnerung über ihr Gesicht, doch gleich war er wieder verschwunden und wurde ersetzt von ihrem bezaubernden, sehnsüchtigen Lächeln. »Ich habe so viele Geschichten gehört von all den wundervollen Sachen, die es dort gibt. Mein Bruder hatte einen Freund, Dibble hieß er, der niemals einen Jahrmarkt ausließ. Er sagte, das sei ein Ort, der voll ist mit Stutzern und Edelleuten, deren Taschen so prall mit Geld sind, daß es sich lohnt, sie zu erleichtern. Er sagte, er könne einem Kerl die Börse aus der Tasche ziehen und dann in der Menschenmenge verschwinden, ehe der Tölpel überhaupt gemerkt hätte, was ihm passiert war.«

Reggie stöhnte innerlich auf. Das Mädchen hatte sich nicht ein einziges Mal im Ton vergriffen, seit es aus der Schule zurückgekehrt war. Sie hatte ihm einmal erzählt, daß sie sich nicht einmal mehr erlaubte, in der Sprache zu träumen, mit der sie groß geworden war.

Es war die Anspannung, die sie in Matthews Gegenwart fühlte, das wußte er. Sein überanständiger Sohn würde kein Verständnis für den entsetzten Blick von Jessica haben. Es war ihm völlig gleichgültig, daß ihre Wangen kreidebleich geworden waren, daß in ihren lieblichen blauen Augen jetzt die Tränen glänzten. Er würde sich nur in seinem Urteil bestätigt fühlen, wie wenig sie doch zusammenpaßten und daß sie wohl kaum eine würdige Frau für einen zukünftigen Marquis von Belmore abgab.

»Entschuldigung«, flüsterte Jessie lind schob ihren Stuhl zurück. »Ich glaube, das Rebhuhn ist mir doch nicht so gut bekommen.«

»Jessica«, begann Reggie, sein müdes altes Herz schmerzte, als er ihre Verzweiflung sah. Doch es war Matthew, der nach ihrer Hand griff und sie festhielt, ehe Jessica weglaufen konnte.

»Geht nicht«, bat er leise. »Es gibt nichts, wofür Ihr Euch schämen müßt. Niemand von uns ist perfekt, wie sehr wir es auch versuchen mögen.« Er lächelte sie liebevoll an. »Ihr habt in vier Jahren mehr gelernt als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Ihr solltet stolz sein auf das, was Ihr erreicht habt, auch wenn Ihr nicht immer vollkommen seid.«

Eine Träne rann über ihre Wange. Mit dem Handrücken wischte sie sie ab.

»Bleib, meine Liebe«, drängte jetzt auch Reginald leise. »Matthew hat recht ... und wir müssen doch noch Pläne machen für morgen.«

Langsam sank sie wieder auf ihren Stuhl zurück, doch sie blieb angespannt auf der Stuhlkante sitzen, als habe sie die Absicht, bei der nächsten Gelegenheit wegzulaufen.

Matthew erzählte von einem großen Jahrmarkt, den er einmal auf dem Angel Hill in Bury St. Edmunds besucht hatte. Er unterhielt sie mit Geschichten seiner Mißgeschicke, bis sie endlich wieder lächelte. Jetzt sah sie ihn in einem anderen Licht als zuvor, so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, wenn Reggie ihr von seinem Sohn erzählte.

Als wäre er ein Held.

Was Matthew wohl kaum war. Der Ausdruck reiner Lust in den blauen Augen seines Sohnes signalisierte das, was er wirklich dachte.

Verflixt und zugenäht! Er wollte, daß diese beiden ein Paar wurden. Doch das Risiko war immens. Schließlich wollte er auf keinen Fall, daß Jessica verletzt wurde. In den meisten Jahren ihres Lebens war sie geschlagen worden. Sie hatte gehungert, im Schmutz gelebt und war gezwungen gewesen, auf der Straße zu überleben. Sie hatte es nicht verdient, womöglich den Rest ihres Lebens unter der Überheblichkeit seines Sohnes zu leiden. Matthew verlangte es nach Jessica, doch nicht genug, um sie auch zu heiraten. Das war eine gefährliche Situation.

Reginald seufzte. Das Wagnis war groß.

Doch sein Sohn war ein ehrenwerter Mann, und die Möglichkeit, ihm ein glückliches Leben zu ermöglichen, war es wert, selbst das gefährlichste Risiko einzugehen.

Er würde den Weg weitergehen, den er gewählt hatte.

Stachel der Erinnerung

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