Читать книгу Die Seelenlicht Chroniken - Katrin Gindele - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
»Du musst etwas essen.« Behutsam führte ich die Schüssel mit heißer Gemüsebrühe an ihre bleichen Lippen. »Nur ein paar Löffel«, beschwor ich sie.
Doch ihre Lippen blieben geschlossen.
Ich seufzte. »Mom, wenn du nichts essen willst, dann werde ich Dr. De Luca rufen, damit er dir eine Infusion verpasst. Ich scherze nicht. Nicht diesmal. Das ist mein voller Ernst.«
Ganz langsam hob sie den Kopf, ihre Augen wanderten in meine Richtung. Wenn Mom mich ansah, dann war es, als würde ich in einen Spiegel der Zukunft blicken. Ihre wunderschönen kupferfarbenen Haare, die in leichten Wellen bis über ihre Schultern fielen. Ihre großen blauen Augen, so strahlend wie ein Sommertag. Mom war eine wunderschöne Frau. Doch auch wenn wir uns so ähnlich sahen, gab es einen gravierenden Unterschied, der mich furchtbar ärgerte. Während mein Gesicht übersät war von unzähligen kleinen Sommersprossen, hatte Mom eine Haut wie eine Porzellanpuppe. Das war so ungerecht.
»Mom, komm schon«, bat ich, als sie noch immer keinerlei Anstalten machte, den Mund zu öffnen. »Verdammt noch mal, du bist nicht die Einzige, die trauert!«
Ihr Blick war fest auf mich gerichtet, doch sie schien mich nicht zu sehen. Ihre Augen sahen durch mich hindurch, als würde ich überhaupt nicht existieren. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, meine Gedanken wanderten zurück zu jener verhängnisvollen Nacht, als wir beide einen Teil unserer Familie verloren hatten.
Mein Vater und mein Bruder waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das Auto war in einer Kurve von der Straße abgekommen, hatte sich mehrfach überschlagen und war in Flammen aufgegangen. Für Dad und Tony war jede Hilfe zu spät gekommen.
Das war vor über fünf Jahren gewesen. Bis heute hatte niemand eine Erklärung dafür, was in jener Nacht tatsächlich passiert war.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte unsere Familie in Slowenien gelebt, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbracht hatte. Eigentlich waren wir ständig umgezogen, nicht nur von einer Stadt zur nächsten, sondern meistens gleich in ein anderes Land. Inzwischen beherrschte ich fünf Sprachen und konnte zwei weitere zumindest so gut sprechen, dass es in Slowenien für einen halbwegs vernünftigen Schulabschluss gereicht hatte.
Nach dem Tod meines Vaters und meines Bruders waren wir wieder umgezogen, diesmal nach Italien. Mom hatte es damals furchtbar eilig gehabt. Kaum zwei Wochen nachdem Dad und Tony beerdigt worden waren, war unser Haus verkauft, die Tiere an einen ortsansässigen Bauern abgegeben und unsere schönen alten Möbel bei einem Antiquitätenhändler in Zahlung gegeben worden. Außer meinen Klamotten, ein paar Büchern und einem Kuscheltier aus meiner Kindheit – ein kleiner Stoffhase – durfte ich nichts mitnehmen.
Zu diesem Zeitpunkt schien es tatsächlich so, als würde sich Mom wieder erholen. Sie hatte ein Haus für uns direkt am Meer gekauft, mit einem kleinen Garten und einer Veranda. Während der nächsten Monate hatte sie ihre ganze Energie in die Renovierung gesteckt, hatte neue Möbel besorgt und ein Gemüsebeet angelegt. Nach einem halben Jahr hatte unser Leben wieder Stück für Stück ein gewisses Maß an Realität angenommen, eine Art Leben danach.
Doch der Schein hatte getrügt, wie ich sehr bald herausfinden musste. Mom war es nicht besser gegangen. Nicht ein bisschen.
Die ganze Zeit über hatte sie ihre Trauer vor mir verborgen, so lange, bis ihre Kräfte schwanden. Sie schien zu altern, in einer Geschwindigkeit, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Von einem Tag auf den anderen war ihre feurige Mähne von einzelnen grauen Strähnen durchzogen, um ihre Augen hatten sich immer mehr kleine Fältchen gebildet. Ich hatte praktisch dabei zusehen können, wie Mom stetig älter wurde. Und dann war der Tag gekommen, an dem sie so schwach war, dass sie das Bett hüten musste. Seitdem hatte sie ihr Bett kaum noch verlassen.
Äußerlich sah sie trotz der grauen Strähnen und kleinen Fältchen keinen Tag älter aus als fünfundvierzig, doch innerlich schien sie zu sterben, ganz langsam. Jeden Tag ein bisschen. Und ich wusste einfach nicht, wie ich ihr helfen sollte.
Beinahe kam es mir so vor, als wäre ein Teil von ihr an jenem Tag zusammen mit Dad gestorben. Und der andere Teil würde ihm schon bald folgen.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Mom unerwartet den Mund öffnete.
»Braves Mädchen«, lobte ich und schob den Löffel behutsam zwischen ihre Lippen.
»Rede nicht mit mir, als wäre ich ein kleines Kind«, murmelte sie. »Ich bin immer noch deine Mutter.«
»Dann verhalte dich auch so!«, rutschte es mir heraus.
Es war immer dasselbe: Meine Klappe war schneller als mein Hirn. Dadurch hatte ich schon zweimal den Job verloren, weil ich immer aussprechen musste, was mir gerade durch den Kopf ging.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich meine unbedachte Wortwahl. »Aber du machst es mir in letzter Zeit wirklich nicht einfach.« Als Mom nichts erwiderte, setzte ich nach: »Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe. Manchmal rede ich einfach drauflos, ohne vorher zu überlegen.«
Da lächelte sie. Ein winziges, kaum wahrnehmbares Lächeln. »So warst du schon immer«, stellte sie fest. »Noch nie hast du dich darum geschert, was andere von dir denken. Und das ist auch gut so.«
Ich lächelte ebenfalls, teils vor Erleichterung, weil sie endlich etwas gegessen hatte, vor allem aber, weil ich genau wusste, worauf sie anspielte. »Meinetwegen hattest du ziemlich oft Ärger mit den Lehrern«, schnitt ich das Thema kurz an. »Weil ich so ein vorlautes Mädchen bin.«
Das waren nicht meine Worte, sondern die der jeweiligen Lehrkräfte. Andere Länder, andere Sitten, sagt man. Das Komische war nur, wenn es darum ging, mich nach allen Regeln der Kunst anzubrüllen, weil ich mal wieder nicht so wollte, wie es von mir erwartet wurde, dann waren sich alle Lehrer einig, ganz egal, in welchem Land.
Mom lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ihre Hand zärtlich an meine rechte Wange schmiegte. »Du bist etwas ganz Besonderes, Hannah. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.«
Für einen Moment schloss ich die Augen und kuschelte meine Wange in ihre Handfläche. Sie war weich, aber eiskalt. »Ich bin wertvoller als ein Schatz«, wiederholte ich die Worte, die ich als Kind so oft von ihr gehört hatte. »Ein Schatz, auf den man aufpassen, der behütet und beschützt werden muss.«
Langsam öffnete ich die Augen. Mom lächelte noch immer, auch wenn es sie sehr anzustrengen schien.
»Ich muss jetzt zur Arbeit«, erklärte ich und stellte die Schüssel mit der restlichen Brühe auf den Nachtschrank, gleich neben das Glas Wasser, welches immer in greifbarerer Nähe stand und dennoch kaum angerührt wurde. »Kommst du ein paar Stunden ohne mich klar?«
Mom nickte. »Natürlich.« Doch als ich aufstehen wollte, ergriff sie meinen Arm und hielt mich fest. »Du musst auf dich achtgeben«, mahnte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Sie werden kommen. Schon bald.«
Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte. »Wer wird kommen, Mom?«
Sie beugte sich ein wenig vor, was ihr sichtlich schwerfiel. Dann flüsterte sie so leise, dass ich mich anstrengen musste, um etwas zu verstehen: »Die Monster.«
Stunden später zeigte ich einem weiteren Pärchen das Haus, doch Moms Worte hingen noch immer hartnäckig in meinen Gedanken fest.
Die Monster.
Was um alles in der Welt wollte Mom mir damit sagen? Sie musste verwirrt sein, eine andere Erklärung gab es dafür nicht.
Oder aber, überlegte ich, während mir das ältere Ehepaar gehorsam ins nächste Zimmer folgte, Mom spielte damit auf die Geschichten an, die Dad mir so oft erzählt hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war.
Die Geschichten handelten von einem bösen König, der sein Volk versklavte, um einer Prophezeiung zu entgehen, und von unheimlichen Kriegern, die Jagd auf Menschen machten und sie einen nach dem anderen zur Strecke brachten.
Das musste es sein, sinnierte ich. Mom war nicht verrückt geworden. Bedingt durch ihren geschwächten Zustand hatte sie einfach nur etwas durcheinandergebracht.
»Ach, ich weiß nicht …«, murmelte die Interessentin. Die ältere Dame, die zusammen mit ihrem Mann nun schon zum zweiten Mal das Haus besichtigt hatte und wahrscheinlich auch noch ein drittes Mal vorbeikommen würde, ehe sie sich entscheiden konnte, blickte hilflos zu mir und fragte: »Was meinen Sie dazu?«
Ich verdrängte die düsteren Gedanken und konzentrierte mich stattdessen auf meinen Job. Meine Aufgabe war es, dieses Haus an den Mann zu bringen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für jedes verkaufte Objekt erhielt ich eine kleine Prämie, und die hatten wir wirklich bitternötig, denn unser Erspartes war längst aufgebraucht.
Signore Russo, der ortsansässige Makler, war ein freundlicher alter Mann mit einem Herzen so groß wie Italien. Obwohl ich über keinerlei Erfahrung verfügte, hatte er mir eine Chance gegeben, wofür ich ihm ewig dankbar sein würde. Doch er konnte mir nicht sehr viel bezahlen und ohne die zusätzliche Provision reichte mein Gehalt kaum zum Leben, weshalb ich an drei Abenden in der Woche noch ein paar Stunden an einer Tankstelle aushalf. Nichtsdestotrotz war es eine Arbeit, die ich gern verrichtete, vorausgesetzt natürlich, ich schaffte es, hin und wieder ein Haus zu verkaufen.
»Das Dach müsste repariert werden«, sprach ich aus, was mir als Erstes in den Sinn kam. »Hier regnet es zwar nicht so oft, aber wenn, dann haben Sie einen kleinen Teich im Schlafzimmer.«
Die Dame starrte mich erschrocken an.
»Das sind nur ein paar Kleinigkeiten«, beruhigte ich sie schnell. »Und wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine sehr gute Firma empfehlen, die schnell und sauber arbeitet und noch dazu sehr günstig ist.«
Schon vor langer Zeit hatte ich mir geschworen, immer ehrlich zu den Menschen zu sein, ganz egal, um welchen Preis, denn ich hasste nichts so sehr wie Lügen – und das hatte seinen Grund.
Eine Zeit lang hatte meine Familie in Amerika gelebt. Dort war ich auch geboren worden, weshalb ich meine Eltern noch heute mit Mom und Dad ansprach. Damals musste ich ungefähr acht oder neun gewesen sein. Meine beste Freundin war gemein zu mir gewesen, so richtig gemein, was ich bis heute nicht vergessen konnte. Im Beisein ein paar anderer Mädchen hatte sie mich zu einem See bestellt, angeblich, weil wir dort ein nettes Picknick machen wollten. Bis heute wusste ich nicht, warum sie sich von den anderen Mädchen hatte dazu überreden lassen, denn beste Freundinnen tun so etwas nicht. Beste Freundinnen halten zusammen.
Es gab einen Steg, der weit hinaus auf den See führte, und von dort aus hatten sie mich ins Wasser geschubst. Das Wasser war eiskalt gewesen, und ich hatte nicht schwimmen können, was wohl keine meiner angeblichen Freundinnen gewusst hatte, denn sie waren in Panik geraten, als ich nach einigen hilflosen Versuchen, mich über Wasser zu halten, untergegangen und nicht mehr aufgetaucht war.
Ein Spaziergänger war meine Rettung gewesen. Er war ins Wasser gesprungen und hatte mich an Land gezogen.
Nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, war ich nach Hause gerannt. Und wer weiß, vielleicht hätte ich meine Freundin am nächsten Tag zur Rede gestellt, sie gefragt, warum sie mich angelogen hatte, um mich zum See zu locken. Doch dazu hatte ich keine Gelegenheit mehr bekommen.
Als ich damals in die Straße einbog, in der wir gewohnt hatten, hatte ich schon von Weitem meinen Dad erkannt, der zusammen mit meinem Bruder diverse Kisten aus dem Haus geschleppt hatte. Noch in derselben Nacht waren wir umgezogen.
Doch eines war klar: Wäre der Spaziergänger nicht gewesen, würde ich heute nicht hier stehen und Häuser verkaufen.
»Ich muss noch eine Nacht darüber schlafen«, holte mich die Dame in die Wirklichkeit zurück. »Können wir uns das Haus morgen noch einmal ansehen?«
»Natürlich.« Ich ließ mir nicht anmerken, wie frustriert ich war. »Wie wäre es morgen gegen siebzehn Uhr?«, schlug ich vor und trug die Uhrzeit in meinen Kalender ein, nachdem die Dame zugestimmt hatte. »Soll ich bei der Gelegenheit die Firma kommen lassen, damit sie sich das Dach ansieht?«
Die Dame wechselte einen ratlosen Blick mit ihrem Mann.
»Tun Sie das«, antwortete dieser nach einigen Sekunden mit einem Lächeln.
»In Ordnung.« Hastig machte ich mir hinter dem Termin eine Notiz, dann begleitete ich das Pärchen nach draußen und schloss die Haustür ab. »Dann sehen wir uns morgen«, verabschiedete ich mich. »Einen schönen Tag noch.«
Die Dame winkte mir kurz zu, ehe sie im Inneren ihres Wagens verschwand.
Ich seufzte leise und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle, um Signore Russo über die Lage zu informieren. Ein Auto konnten Mom und ich uns nicht leisten.
Das Gespräch mit meinem Chef dauerte viel länger, als es eigentlich sollte. Er zeigte mir einige neue Objekte, weil er meine Meinung hören wollte. Dadurch blieb mir kaum noch eine halbe Stunde Zeit, bis meine Schicht an der Tankstelle begann.
Der Bus, mit dem ich eigentlich nach Hause fahren wollte, hatte Verspätung. Natürlich. Nun blieb mir nicht einmal mehr die Zeit, um mich vorher umzuziehen, was mich zwar tierisch nervte, aber sich nun nicht mehr ändern ließ.
»Auch das noch«, schimpfte ich leise vor mich hin, als ich völlig durchgeschwitzt die Tankstelle betrat. Dank meiner Verspätung war ich nun gezwungen, meinen zweiten Job in der Arbeitskleidung meines ersten Jobs anzutreten.
»Bist du nicht ein bisschen zu schick angezogen?«, begrüßte mich Patrizia mit hochgezogener Augenbraue.
Ich nahm meine Arbeitskollegin und beste Freundin in den Arm und küsste sie auf beide Wangen, so wie es hier Brauch war. Dabei schlüpfte ich aus meinen Pumps und zog die Spange aus meinen Haaren. »Mein Chef hat mir noch ein paar Häuser gezeigt, und der Bus hatte auch schon wieder Verspätung«, beschwerte ich mich. »Du hast nicht zufällig einen zweiten Haargummi dabei?«
Patrizia war eine hochgewachsene Schönheit, mit langen dunklen Haaren und haselnussbraunen Augen. Ihre Haut war das ganze Jahr über sonnengebräunt, was mich furchtbar neidisch machte, denn meine schneeweiße Haut wollte einfach keine Farbe annehmen, und das, obwohl ich nun schon so lange in Italien lebte. Ich wurde höchstens knallrot.
»Nimm den hier«, bot sie an und zog den Haargummi aus ihrem Pferdeschwanz.
Schnell band ich meine Haare zusammen, streifte meinen Blazer ab und zog die weiße Bluse aus meinem Rock, damit mein Outfit nicht ganz so streng wirkte. Das graue Kostüm, welches ich trug, war eindeutig viel zu schick, aber was sollte ich machen?
»Besser so?«
Ihre Augen wanderten an mir herunter. »Willst du meine ehrliche Meinung hören?«, grinste sie.
Ich stöhnte innerlich. »So schlimm?«
Patrizia winkte ab. »Du siehst bezaubernd aus, genauso wie die Tussis, die für meinen Vater arbeiten.«
»Na, vielen Dank auch.«
Ihr Dad besaß ein Autohaus für Nobelkarossen, dort gab es tatsächlich einige Damen, die den ganzen Tag über in solch einem Kostüm herumstolzierten.
Warum Patrizia dennoch für ein paar Stunden pro Woche an einer Tankstelle aushalf, obwohl ihre Familie über ein sehr großes Vermögen verfügte, entzog sich meinem Verständnis. Einmal hatte ich sie darauf angesprochen, aber sie meinte nur, sie tue es gern.
»Du hast gesagt, ich soll immer ehrlich zu dir sein«, neckte sie mich augenzwinkernd. »Das ist die Wahrheit.«
Ich nickte, dankbar für ihre Ehrlichkeit. »Das muss für heute reichen. Die paar Stunden schaffe ich schon, außerdem ist Donnerstag, da ist sowieso nicht viel los.«
Mit einem Tritt beförderte ich meine Pumps unter den Tresen, quetschte den Blazer in meine Handtasche und machte mich barfuß daran, das Wechselgeld in der Kasse nachzuzählen, was eigentlich nicht nötig war, weil Patrizia nie einen Fehler machte.
»Kann ich dir etwas erzählen?«, fragte sie mich, während sie an einer Flasche Wasser nippte.
»Klar«, nickte ich und drückte die Schublade an der Kasse zu. »Schieß los, was gibt’s?«
Patrizia ließ die Flasche sinken. »Ich bin schwanger.«
Meine Augen wurden riesengroß. »Echt? Und?«
Sie zögerte keine Minute mit ihrer Antwort. »Was denkst du denn«, schmunzelte sie. »Marcello wird ausflippen. Er liebt Kinder und will eine große Familie.«
Marcello war ihr Verlobter und ein ganz lieber Kerl, der Patrizia auf Händen trug.
»O Mann, das ist ja krass«, jauchzte ich und fiel meiner Freundin um den Hals. Dann trat ich einen Schritt zurück und verschränkte gespielt beleidigt die Arme. »Und was wird nun aus unserem wöchentlichen Cocktailabend?«
Dank Patrizia, die ich gleich an meinem ersten Abend in der Tankstelle kennengelernt hatte, durfte ich mich inzwischen über einen großen Freundeskreis freuen. Ihre Freunde hatten mich allesamt mit offenen Armen empfangen, wofür ich ihr heute noch unendlich dankbar war.
»Unseren Samstagabend gibt es auch weiterhin«, versicherte sie mir. »Zumindest noch so lange, wie ich in meine Kleider passe. Alkoholfreie Cocktails sollen gar nicht so übel schmecken, hab ich gehört.« Sie verzog das Gesicht, als ich sie zweifelnd anblickte. »Sind ja nur ein paar Monate, das werde ich schon überleben.«
»Ich freue mich so für dich«, sagte ich und drückte sie noch einmal fest an mich. »Herzlichen Glückwunsch.«
»Meine Mutter wird ausflippen«, prophezeite sie, nachdem ich sie losgelassen hatte. »Seit zwei Jahren liegt sie mir damit in den Ohren, dass wir endlich heiraten sollen, weil sie Enkelkinder will. Ich meine, hallo, ich bin sechsundzwanzig. Ist ja nicht so, als wären meine Eierstöcke schon vertrocknet.«
Trotz der sieben Jahre Altersunterschied verstanden wir uns prächtig. Patrizia war für mich wie die große Schwester, die ich nie gehabt hatte. Nach meiner Mom war sie die engste Vertraute in meinem Leben, worüber ich unendlich froh war.
»Dann werde ich mal gehen«, sagte sie und griff nach ihrer Handtasche. »Ich werde für Marcello kochen und ihm dann die freudige Nachricht überbringen.«
»Viel Glück«, rief ich ihr hinterher, obwohl wir beide wussten, dass es überhaupt nicht nötig war. Marcello würde sich riesig freuen, davon war ich überzeugt.
Nach zwanzig Minuten kam die erste Kundin zum Tanken. Zusätzlich kaufte sie eine Zeitschrift und zwei Flaschen Cola. Mein Italienisch war inzwischen so perfekt, dass ich beinahe ohne Akzent sprach. Sprachen lernen, das war mir schon immer sehr leicht gefallen. Zum Glück, sonst hätte ich wahrscheinlich nicht jedes Mal so schnell Anschluss gefunden.
»Ti auguro una buona serata«, verabschiedete ich die Kundin. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Danach blieb es eine Stunde lang ruhig, nur zwei ältere Herren kamen vorbei, um nach dem Weg zu fragen.
Kurz vor Ende meiner Schicht füllte ich das Regal mit ein paar Flaschen Wasser auf, und ein Motorrad kam langsam auf die Tankstelle zu. Ohne den Helm abzunehmen, stieg der Fahrer von seiner Maschine ab, ging in die Hocke und fummelte an seinem Vorderreifen herum.
Ich drehte mich um, stellte mich auf die Zehenspitzen und lugte durchs Fenster. Das Motorrad war mattschwarz, eine ausländische Rennmaschine, das erkannte ich sofort, denn das gleiche Modell war mein Bruder damals gefahren. Die brachte locker dreihundert Sachen auf die Straße.
Mein Blick wanderte vom Motorrad zum Besitzer. Verdammt, dachte ich, der Typ musste fast zwei Meter groß sein. Und obwohl er mit dem Rücken zu mir hockte, entging mir nicht, wie extrem muskulös er gebaut war. Das schwarze Shirt spannte sich gefährlich eng um seine massigen Oberarme, als er sich nach vorn beugte und an dem Vorderreifen herumhantierte. Seine Jeans saß tief auf den Hüften und wirkte ziemlich ausgewaschen. Die hatte auch schon bessere Tage gesehen.
Eine Weile überlegte ich, ob ich lieber hier drinnen warten sollte, doch dann ging ich kurz entschlossen nach draußen. »Posso aiutarti?« Kann ich Ihnen helfen?
Der Typ wandte sich mir zu, machte sich jedoch nicht einmal die Mühe, das Visier an seinem Helm hochzuschieben. »No«, antwortete er nur, dabei wanderte sein Blick abschätzend an mir herunter, das konnte ich spüren.
Natürlich nicht, dachte ich zähneknirschend. Weil ich so aussah, als hätte ich keine Ahnung von Motorrädern?
Angespannt straffte ich die Schultern. »Non parli italiano?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, dass er meine Hilfe nicht ablehnte, weil er kein Italienisch konnte, sondern weil ich eine Frau war. Eine Frau, die barfuß, mit rosa lackierten Zehennägeln samt grauem Rock und weißer Bluse, vor eine Tankstelle stand.
Er richtete sich auf, wie in Zeitlupe, und ich wich ein Stück zurück, weil er so riesig war. Seine Statur überragte mich um gut zwei Köpfe.
»Wir können uns auch auf Englisch unterhalten«, schlug ich hastig vor. »Oder meinetwegen auch auf Deutsch oder Slowenisch.«
Seine Hände wanderten nach oben, dann löste er den Verschluss und zog den Helm vom Kopf.
Oh, wow! Breite Schultern, kräftige Arme, schmale Taille. Scharf geschnittene Wangenknochen, ein eckiges Kinn. Seine schulterlangen, honigblonden Haare standen im starken Kontrast zu der sonnengebräunten Haut, und die strahlend blauen Augen waren atemberaubend schön. Doch sein stechender Blick wirkte eiskalt und unberechenbar.
»Ich habe einen Platten«, erklärte er auf Englisch. »Und du siehst nicht so aus, als würdest du wissen, was zu tun ist.« Sein durchdringender Blick war fest auf mich gerichtet, stechend und kühl, als würde ihm nie etwas entgehen.
Ich kniff die Augen zusammen. Hielt der mich für blöd?
Dann trat ich mutig einen Schritt vor. »Du musst den Reifen entweder flicken oder einen neuen aufziehen, was anderes wird dir wohl nicht übrig bleiben.«
Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, offenbar hatte ich ihn beeindruckt, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, was an meiner Aussage so beeindruckend gewesen sein sollte.
»Dann unterhalten wir uns also auf Englisch«, schlug ich vor, als er nichts weiter sagte. »Ist dir das recht?«
Er nickte nur, drehte den Kopf und starrte sein Vorderrad an, das immer mehr an Luft verlor. »Einen neuen Reifen«, erklärte er nach einer Schweigeminute. »Hast du so was?«
»Nicht dieses Modell«, gab ich zu verstehen. »Den müsste ich erst bestellen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wie lange?«
Entnervt warf ich ihm einen Seitenblick zu. »Sag mal, kannst du auch in ganzen Sätzen sprechen, oder redest du immer so?« Ich war ja nun wirklich nicht kleinlich, aber so etwas mochte ich gar nicht. »Muss man dir jedes Wort aus der Nase ziehen?«, fragte ich angesäuert. »So etwas gehört sich nicht.«
Ich spürte, dass er mich wieder musterte, und plötzlich fühlte sich meine Haut viel zu eng an. Mir wurde heiß unter seinem eindringlichen Blick. Sehr heiß.
»Fangen wir noch mal von vorne an«, versuchte ich die Situation zu entschärfen und streckte meinen Arm aus, um ihm die Hand zu reichen. »Ich bin Hannah. Und du bist?«
Sein Blick wanderte zu meinem ausgestreckten Arm, doch er machte keinerlei Anstalten, meinen Gruß zu erwidern. »Nicht interessiert«, gab er zurück, ohne mit der Wimper zu zucken.
Mir klappte die Kinnlade herunter. So etwas Unfreundliches war mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. »Nicht interessiert?«, blaffte ich und ließ den Arm sinken. »Bist du dir etwa zu fein, dich vorzustellen? Sag mal, was hast du für ein Problem?«
Zu meinem Erstaunen antwortete er mit einem Lächeln, wovon mir beinahe die Knie weich wurden, wäre ich nicht so sauer gewesen.
»Bin gespannt, wie du dein Problem lösen willst«, stellte ich klar, wirbelte herum und kehrte an meinen Arbeitsplatz zurück. Der Typ sollte bloß nicht denken, dass ich mir solch ein Benehmen gefallen lassen würde. Sollte er doch selbst sehen, woher er einen neuen Reifen bekam. Hier in der Nähe gab es weder eine andere Tankstelle noch eine Werkstatt, und selbst wenn, diese Art von Reifen hatte niemand vorrätig, davon war ich felsenfest überzeugt.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schnappte ich mir eine Flasche Wasser aus dem Regal, stellte mich damit demonstrativ vor die große Fensterscheibe, drehte langsam den Deckel auf und nahm einen kleinen Schluck.
Er schaute zu mir herüber, seine Augen folgten meiner Hand, als ich die Flasche erneut an meine Lippen führte.
»Hast du etwa Durst?«, dachte ich laut, mit einer Befriedigung, die mein Grinsen noch breiter werden ließ. »Hier sitze ich am längeren Hebel, mein Freund, und wenn du etwas von mir willst, dann wirst du gefälligst darum bitten, und zwar in ganzen Sätzen.«
Natürlich war mir klar, dass er mich dort draußen nicht hören konnte, doch das war mir egal. Allein es laut auszusprechen reichte mir schon völlig, und meine Laune hob sich dadurch auf der Stelle ein wenig.
Siegessicher setzte ich mein schönstes Lächeln auf und winkte ihm zu, mit der Wasserflasche in der Hand. Als er mich perplex anstarrte, mit gerunzelter Stirn, da er offenbar nicht wusste, was er davon halten sollte, verpuffte auch der letzte Rest meiner schlechten Laune.
So oder so, der Typ würde zu Kreuze kriechen, was anderes blieb ihm gar nicht übrig. Entweder das oder er musste seine Reise zu Fuß fortsetzen, und bei diesen Temperaturen würde er nicht sonderlich lange durchhalten.
Leise singend ging ich hinter den Tresen, stellte mein Wasser ab und drehte die Musik, die immer im Hintergrund lief, etwas lauter. Dieser Abend, so stressig er auch begonnen hatte, würde mit Sicherheit noch sehr interessant werden.