Читать книгу Die Seelenlicht Chroniken - Katrin Gindele - Страница 8

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Kapitel 3

Ich erwachte aus einem ungewöhnlich tiefen Schlaf und fühlte mich allen Verspannungen zum Trotz wie neugeboren. Leichtfüßig sprang ich aus dem Bett und zog mir etwas über.

Mom schlummerte noch, als ich leise die Tür öffnete, um nach ihr zu sehen. Also machte ich mich auf den Weg nach unten, um das Frühstück vorzubereiten. Auf halbem Weg zur Wohnküche strömte mir ein vertrauter Geruch entgegen.

Abrupt blieb ich stehen und schnupperte. Kaffee, eindeutig.

Vorsichtig schielte ich um die Ecke und entdeckte Mickal, der in unserer Küche mit Geschirr hantierte.

»Guten Morgen«, sagte er, ohne sich nach mir umzudrehen.

Ertappt richtete ich mich auf, bevor ich die Küche betrat. »Guten Morgen«, gab ich zurück. Dann riss ich die Augen auf. »Du machst Frühstück?« Meine Gesichtszüge drohten mir zu entgleisen, doch ich hatte mich im Griff.

Das Bild, das sich mir bot, war faszinierend und lustig zugleich: Mickal streifte mit dem Kopf beinahe die Zimmerdecke, was ihn jedoch kaum zu stören schien. Sein breiter Rücken verdeckte fast die komplette Arbeitsplatte, er wirkte, als hätte ihn jemand in einen viel zu engen Raum gestopft, was mich unweigerlich zum Schmunzeln brachte. Dennoch war ich fasziniert davon, wie routiniert er das Frühstück zubereitete, und ehe ich zweimal blinzeln konnte, drückte er mir schon einen Becher mit Kaffee in die Hand.

»Milch und Zucker?«, wollte er wissen.

»Schwarz wie meine Seele«, scherzte ich und versuchte, dabei entspannt auszusehen. Ich fühlte mich etwas befangen und hatte Mühe, ihn nicht dauernd anzustarren.

Ein Mann in meiner Küche. Verrückt.

»Wie hast du geschlafen?«, fragte ich, nachdem ich mich wieder etwas gefangen hatte.

Mickal zuckte mit den Schultern. »Der Boden war die bessere Wahl«, sagte er leichthin.

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich für unser unbequemes Sofa und runzelte die Stirn. Warum nur fühlte ich mich in seiner Gegenwart überhaupt so befangen? Gestern Abend hatte ich keinerlei Schwierigkeiten damit gehabt, diesen ungehobelten Kerl nach Strich und Faden in seine Schranken zu weisen. Und nun?

Seine Augen fingen meinen irritierten Blick auf. Er grinste, mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Der Gedanke, dass er mir, nun, da er mir keinen Grund mehr lieferte, um noch länger wütend auf ihn zu sein, tatsächlich gefährlich werden könnte, ließ mich innerlich zusammenzucken.

Dieser Typ sah unverschämt gut aus, das wäre mir sogar aufgefallen, wenn ich Tomaten auf den Augen gehabt hätte. Aber Gefühle? Für ihn?

Das ging nicht, mahnte ich mich zur Vernunft. Für so etwas hatte ich schlichtweg keine Zeit.

»Wo hast du Kochen gelernt?«, fragte ich, um mich von diesem seltsamen Gedanken abzulenken.

Mickal wirbelte herum und stellte zwei Teller mit Rührei und Toast auf die Anrichte. »Ich hatte zwei ältere Brüder«, gab er mir zu verstehen. »Damals habe ich sehr schnell gelernt, dass Selbstversorgung der beste Weg ist, um zu überleben, wenn man nicht verhungern will.«

Ich wusste genau, was er meinte. »Tony war auch so«, sagte ich mit einem verträumten Lächeln. »Er hatte auch ständig Hunger, konnte den ganzen Tag essen.« Dann wurde ich stutzig. »Hatte? Du hattest zwei Brüder?«

Seine Miene verdunkelte sich schlagartig. »Sie sind tot.«

»Das tut mir leid«, murmelte ich ergriffen. »War es ein Unfall?«

Mickal seufzte leise. »Es war Mord«, sagte er und wandte sich abrupt von mir ab.

Beinahe wäre mir der Kaffeebecher aus der Hand gerutscht. »Mord?«, wiederholte ich schockiert. Solche Schreckensmeldungen hörte man immer wieder mal in den Nachrichten. Doch bis zum heutigen Tage war mir noch niemand persönlich begegnet, der mit solch einem furchtbaren Schicksalsschlag leben musste.

»Du solltest deiner Mutter das Frühstück bringen«, sagte er barsch, fast schon wütend, und schob beide Teller zu mir herüber.

»Willst du denn nichts?«, fragte ich hastig.

Mickal schüttelte den Kopf und begann damit, die Küche aufzuräumen. »Ich habe schon gegessen.«

»Okay.« Es war offensichtlich, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. »Danke für den Kaffee«, murmelte ich und zog die Teller näher zu mir heran. Eilig machte ich mich damit aus dem Staub.

Mom war bereits wach, als ich das Zimmer betrat. Sie versuchte sich aufzurichten.

»Warte«, bat ich sie und stellte das Frühstück auf dem kleinen Nachtschrank ab, damit ich ihr helfen konnte. »Du siehst heute schon viel besser aus«, stellte ich mit einem erfreuten Lächeln fest, während ich das Kopfkissen aufschüttelte. »Deine Wangen bekommen sogar schon wieder ein bisschen Farbe.« Ich half ihr beim Aufstehen und zog den Nachttopf unter dem Bett hervor.

Mom verzog angewidert das Gesicht. »Das ist so demütigend«, seufzte sie.

Leider hatte sie keine andere Wahl, denn unser Badezimmer befand sich im unteren Stock und dafür war sie schlichtweg zu schwach.

Anfangs hatte sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, einen Nachttopf zu benutzen. Einmal war sie sogar ganz allein zur Treppe geschlichen. Dort hatte sie immer noch gelegen, am Fuße der untersten Stufe, als ich Stunden später von der Tankstelle nach Hause gekommen war. Dr. De Luca war gekommen, und gemeinsam hatten wir Mom wieder ins Bett gebracht. Der Treppensturz war glimpflich verlaufen, nur ein paar blaue Flecken und Prellungen. Seither benutzte Mom ihren Nachttopf, weil sie endlich kapiert hatte, dass sie es nicht mehr nach unten ins Badezimmer schaffte. Der Doktor hatte einige Blutproben genommen, um sie untersuchen zu lassen. Die Ergebnisse waren durchweg positiv, er fand keine Erklärung dafür, wie eine Frau Ende vierzig binnen weniger Wochen körperlich so abbauen konnte.

Noch immer lag der Zettel von Dr. De Luca im Nachtschrank; zwei Telefonnummern von Pflegekräften, die sich tagsüber um Mom kümmern würden, während ich arbeiten musste. Doch Mom hatte sich geweigert, jemanden ins Haus zu lassen. Sie wollte das nicht.

Heute wirkte sie schon etwas kräftiger, wie ich erleichtert bemerkte, als ich sie kritisch betrachtete. Vielleicht wurde ja doch noch alles gut.

Schnurstracks marschierte ich zum Fenster, damit Mom ein bisschen Privatsphäre hatte, und öffnete eine Seite. »Heute wird es nicht ganz so heiß«, sagte ich zufrieden. »Sobald du dich in den nächsten Tagen etwas besser fühlst, bringe ich dich nach unten, dann können wir uns ein paar Minuten auf die Terrasse setzen.«

Mom erwiderte mein strahlendes Lächeln vorsichtig, nachdem ich ihr ins Bett geholfen hatte. »Das wäre sehr schön«, stimmte sie zu. Ihr Blick wanderte nach rechts zum Nachtschrank. »Eier?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch. »Du magst doch gar keine Eier.«

Genauso wenig wie Mom.

»Mickal hat Frühstück gemacht«, flüsterte ich.

Sie betrachtete mich aus schmalen Augen. »Und warum flüsterst du?«

»Keine Ahnung. Vielleicht weil ich Angst habe, dass er mich hört. Er hat sich so viel Mühe mit dem Frühstück gegeben, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihm das mit den Eiern zu sagen.«

Sie nickte verständnisvoll. »Ich bin krank und habe ohnehin keinen großen Appetit. Damit bin ich aus dem Schneider.« Ihr Lächeln wirkte beinahe frech. »Was hast du für eine Ausrede, damit du das Zeug nicht essen musst?«

Das war unfair.

»Ich könnte es aus dem Fenster kippen«, überlegte ich laut.

Mom kicherte leise. »Unter meinem Fenster befindet sich die Terrasse, mein Schatz. Du würdest ihm die Eier genau vor die Füße kippen.«

Sie sah so viel besser aus, wenn sie lächelte.

»Ach, verdammt«, gluckste ich. »Und nun?«

»Hmmm …« Mom legte den Zeigefinger ans Kinn und tat so, als müsste sie einen Augenblick lang darüber nachdenken. »Viel Auswahl bleibt dir nicht«, sagte sie kurz darauf. »Entweder musst du den Teller irgendwie bis ins Badezimmer schmuggeln, dann kannst du die Eier im Klo entsorgen, oder du musst sie essen.«

»Nein!« Heftig schüttelte ich den Kopf. »Das kommt nicht infrage«, protestierte ich mit erhobenen Händen. »Ich kann das nicht essen.«

Unsere gemeinsame Abneigung gegen Eier jeglicher Art, ganz egal ob Rühreier, Spiegeleier oder gekocht, war ganz einfach nachzuvollziehen. Mom und ich hatten, als ich noch klein gewesen war, ein paar eigene Hühner gehabt. Die meisten Eier hatten wir verkauft, einige waren geschlüpft, die Kleinen waren liebevoll von uns aufgezogen worden. Seitdem konnten wir keine Eier mehr essen, ohne dabei an flauschige Küken denken zu müssen.

»Lass die Teller einfach hier stehen«, schlug Mom vor. »Vielleicht hast du später nach der Arbeit die Möglichkeit, unser Frühstück zu entsorgen.«

Ich nickte gedankenverloren, weil ich immer noch an unsere niedlichen Küken denken musste.

»Hannah?«

Ich blinzelte.

»Du musst langsam los«, drängte Mom sanft. »Sonst verpasst du den ersten Termin.«

Ich schüttelte den letzten Gedanken ab, beugte mich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Hast du alles, was du brauchst?«

Sie nickte lächelnd. »Ich brauche nicht viel, das weißt du doch.«

»Bis heute Abend«, verabschiedete ich mich und zog die Tür leise hinter mir zu.

Mickal stand auf der Terrasse, als ich in die Wohnküche kam. Sein Blick schweifte über die angrenzenden Wiesen. »Wie geht es ihr?«, wollte er wissen.

Ich schnappte mir meinen Kaffeebecher und schenkte nach. Dann ging ich zu ihm nach draußen. »Schon etwas besser, glaube ich.«

Er drehte den Kopf zu mir, als ich neben ihn trat. Seine schönen blauen Augen studierten aufmerksam mein Gesicht. »Was fehlt ihr?«

Ich seufzte. »Das wissen wir nicht. Eigentlich ist sie kerngesund, trotzdem wird sie immer schwächer.« Ich begegnete seinem eindringlichen Blick, mein Puls beschleunigte sich ein wenig. Mein Herz machte einen kleinen Satz, als er die Lippen zu einem Lächeln verzog.

»Es geht ihr bestimmt bald wieder besser«, versuchte er mich aufzumuntern.

Ich nickte, um mich selbst zu beruhigen. »Ja. Bestimmt.« Nur zu gern wäre ich noch eine Weile neben ihm stehen geblieben und hätte mich in seinen wunderschönen blauen Augen verloren, doch dann holte mich die Realität ein. »Ich muss mich fertig machen«, sagte ich mit leisem Bedauern in der Stimme. »Wir sehen uns heute Abend«, fügte ich hinzu, als er nichts erwiderte. Ich zögerte. »Geh bitte nicht nach oben«, setzte ich nach. »Mom ist sehr schwach, sie braucht ihre Ruhe.«

Mickal nickte, und ich kehrte ihm den Rücken zu.

Auf dem Weg ins Badezimmer überlegte ich, ob ich Mom wirklich mit einem wildfremden Mann allein lassen sollte, immerhin wusste ich so gut wie gar nichts über ihn. Doch warum auch immer, ich hatte ein gutes Gefühl, was Mickal betraf, obgleich ich normalerweise eher von der misstrauischen Sorte war. Mickal konnte gefährlich werden, denn ich war mir sicher, dass seine kräftigen Muskeln nicht nur Dekoration waren. Doch aus irgendeinem Grund, den ich mir selbst nicht erklären konnte, vertraute ich ihm.

Mit den Gedanken noch immer ganz woanders, schnappte ich mir einige Minuten später meine Pumps, klemmte mir die Handtasche unter den Arm und zog die Haustür hinter mir zu. Ich musste aufhören, ständig über ihn nachzudenken, ich hatte genug andere Probleme.

Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken, dabei beschleunigte ich meine Schritte, weil ich viel zu spät dran war.

Die Interessenten, ein junges Pärchen aus Deutschland, die Frau hochschwanger, warteten vor dem Grundstück schon auf mich, als ich um die Ecke bog.

Der Mann war hochgewachsen, mit struppigen dunkelblonden Haaren und einem Dreitagebart. Seine braunen Augen strahlten förmlich vor Aufregung. Mit ausgestrecktem Arm kam er mir entgegen, um mir die Hand zu reichen. »Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er anstelle einer Begrüßung.

Professionell lächelnd erwiderte ich seinen kräftigen Handschlag. »Natürlich«, gab ich nickend zurück.

Der Mann wirkte erleichtert und blickte kurz über die Schulter. »Das ist Diana, meine Verlobte«, stellte er seine Begleiterin vor.

Die hübsche Brünette mit dem dicken Bauch lächelte mich freundlich an und winkte zur Begrüßung.

»Ich heiße Frank«, fügte er hinzu und ließ meine Hand los. »Können wir gleich ins Haus gehen? Die Hitze tut meiner Freundin nicht sehr gut.«

In ihrem Zustand war das natürlich kein Wunder. Eifrig kramte ich den Schlüssel aus meiner Handtasche, ging an den beiden vorbei und öffnete die Haustür. »Das Haus ist erst zehn Jahre alt«, leierte ich mein eingeübtes Verkaufsgespräch herunter. »Der Vorbesitzer hat es als Feriendomizil für seine Frau bauen lassen. Es wird Sie freuen zu hören, dass der werte Herr ein Landsmann von Ihnen ist.« Ich ließ das Pärchen eintreten, während ich alle Infos zum Besten gab, die ich von Signore Russo erhalten hatte. »Leider ist seine Frau im letzten Jahr verstoben, nun hat er sich schweren Herzens dazu entschieden, das Haus zu verkaufen.«

Frank nickte gedankenverloren. »Das ist wirklich traurig«, zeigte er einen Moment lang Anteilnahme an der Trauer des Mannes. Im nächsten Augenblick strahlte er seine zukünftige Frau an. »Für uns ist es natürlich ein großes Glück, dass dieses Haus nun zum Verkauf steht. Nicht wahr, mein Schatz?«

Die junge Frau schnaufte schwer, als sie zustimmend nickte.

»Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«, fragte ich, weil sie mir sehr blass vorkam.

»Ich würde mich gern ein paar Minuten setzen«, erwiderte sie atemlos. »Mir ist etwas schwindlig.«

Blitzschnell wirbelte ich herum, auf der Suche nach einer Sitzmöglichkeit, und entdeckte schließlich im angrenzenden Zimmer einen Stuhl. »Bitte«, forderte ich sie auf, mir zu folgen.

Wie ein nasser Sack plumpste sie auf den Stuhl. »Danke.«

»Keine Ursache.«

Sie sah wirklich nicht gut aus, wie mir schon bei unserer Begrüßung aufgefallen war. Auf ihrer Stirn bildete sich ein feiner Schweißfilm, ihre Augen waren glasig.

»Frank?« Er drehte sich zu mir. »Vielleicht sollten wir den Besichtigungstermin verschieben«, schlug ich leise vor, mit einem warnenden Blick auf seine Verlobte. »Wann soll das Baby denn kommen?«

Frank winkte ab. »Erst in zwei Wochen«, gab er breit grinsend Auskunft.

So, wie die Frau schnaufte, würde es ganz sicher keine zwei Wochen mehr dauern.

Ich wandte mich seiner Verlobten zu und ging vor ihr in die Hocke. »Kann es sein, dass Sie Wehen haben?«

Die Frau riss die Augen auf. »Nein! Ich meine … es ist doch viel zu früh. Das kann nicht sein.«

»Haben Sie irgendwo Schmerzen?«, bohrte ich behutsam weiter. »Tut Ihnen etwas weh?«

Sie schaute an sich herunter, eine Hand lag auf ihrem Bauch. »Rückenschmerzen, seit heute Nacht«, murmelte sie kaum hörbar. »Und mein Bauch wird seit ein paar Stunden immer hart.«

Himmel! Erschrocken sprang ich auf die Füße. »Frank? Sind Sie mit dem Auto da?«, forschte ich nach.

Seine Augenbrauen zogen sich finster zusammen. »Das steht ganz vorne am Ende der Straße, gleich neben der Cafeteria.«

Bis dahin würde sie es nicht schaffen, das wurde mir bewusst, als ich sie leise stöhnen hörte. Ganz egal, wann der errechnete Geburtstermin war, wenn wir nicht sofort handelten, würde diese Frau ihr Baby in einem leer stehenden Haus auf dem Fußboden bekommen.

»Okay.« Ich musste kurz nachdenken. »Wir sollten einen Krankenwagen rufen«, überlegte ich laut. »Ich glaube, Ihre Verlobte muss sofort ins Krankenhaus.«

Frank starrte mich ungläubig an. Gerade wollte er zum Protest ansetzen, da hörte ich, wie die Frau leise aufschrie. Panisch sprang sie vom Stuhl hoch, zwischen ihren Füßen bildete sich eine kleine Pfütze.

»O Gott«, jammerte sie und schlug die Hände vors Gesicht.

Eilig kramte ich mein Handy aus meiner Handtasche, da Frank zur Salzsäule erstarrt war. Von ihm konnte ich keine Hilfe erwarten. »Buon giorno«, begrüßte ich die Dame am Telefon, dann erklärte ich ihr die Situation, in der wir uns befanden, und nannte ihr schließlich die Adresse. »Der Krankenwagen ist unterwegs«, richtete ich das Wort an Frank, nachdem ich das Telefonat beendet hatte.

Er nickte nur, ohne den Blick von der Pfütze auf dem Boden abzuwenden.

»Danke«, hauchte die Frau. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Mit einer Hand stützte sie ihren Rücken, während sie langsam auf und ab ging. »Bewegung ist gut«, erklärte sie ihr Handeln. »Das hat die Hebamme gesagt. Ich soll laufen, solange ich kann.«

Ich nickte zustimmend, steckte mein Handy in die Tasche und schob Frank zur Tür. »Am besten, Sie warten draußen auf den Krankenwagen«, delegierte ich.

In diesem Moment kam er wieder zu sich, er riss den Kopf hoch und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen panisch an.

»Keine Sorge«, nickte ich aufmunternd. »Es wird schon alles gut gehen.«

Er zuckte mit den Schultern, fühlte sich unwohl. Hilflos.

»Ich bleibe solange bei ihrer Verlobten«, versuchte ich ihn zu beruhigen.

Mit hängenden Schultern schlurfte er nach draußen, während ich zu der Frau zurückkehrte.

»Was wird es denn?«, versuchte ich sie ein wenig abzulenken.

Sie lächelte verträumt. »Ein Junge. Er wird Paul heißen, nach meinem Großvater.«

»Das ist ein schöner Name.«

Eine neue Wehe erfasste ihren zierlichen Körper. Ihr blonder Pony klebte an der feuchten Stirn. Diana presste die Lippen fest zusammen, um gegen den aufwallenden Schmerz anzukämpfen.

Fürsorglich legte ich die Hand auf ihre Schulter. »Atmen, Diana. Nicht die Luft anhalten, das ist nicht gut.«

Sie schaute mich hilflos an. »Haben Sie Kinder?«

Mit einem breiten Lächeln antwortete ich: »Nein, aber ich war schon einmal bei einer Hausgeburt dabei.«

In Slowenien hatte unsere Nachbarin mit ihrer Tochter in den Wehen gelegen. Ich war fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte meiner Mom dabei helfen müssen, das Baby auf die Welt zu holen, weil das nächste Krankenhaus über eine Stunde von unserem Dorf entfernt gewesen war und der Krankenwagen es nicht rechtzeitig geschafft hätte.

»Ein und aus«, begleitete ich Diana durch die nächste Wehe. »Immer weiteratmen. So ist es gut.«

Die Wehe ebbte ab.

»Danke«, sagte sie seufzend. »Eigentlich habe ich das alles bei meinem Geburtsvorbereitungskurs gelernt. Ich weiß, wie ich atmen muss.« Sie ließ die Schultern hängen. »Aber in der Theorie klang das alles viel einfacher.«

In einiger Entfernung konnte ich die Sirene hören. »Der Krankenwagen ist gleich da«, munterte ich sie auf.

Die Erleichterung über meine Worte waren ihr deutlich anzusehen. »Vielen Dank für alles«, sagte sie freundlich lächelnd.

»Keine Ursache«, winkte ich ab und lächelte ebenfalls.

Nach einer kurzen Diskussion mit dem Notfallsanitäter schaffte ich es schließlich, dass Frank vorne im Krankenwagen mitfahren durfte. In seinem Zustand konnte er unmöglich Auto fahren.

»Alles Gute«, sagte ich zum Abschied und wartete, bis der Krankenwagen aus meinem Sichtfeld verschwunden war. Dann ging ich zurück ins Haus, wo ich meine Pumps abstreifte, das Putzzeug aus der Abstellkammer holte und mich daranmachte, die Pfütze aufzuwischen.

Meine unfreiwillige Pause kam mir gar nicht so ungelegen. Ich nutzte sie, um mich mit Patrizia in unserem Lieblingscafé zu treffen.

Kaum zwanzig Minuten nachdem ich mit meiner Freundin telefoniert hatte, traf sie im Café ein. Wie ich schon vermutet hatte, war Marcello hellauf begeistert von der Schwangerschaft. Wild gestikulierend berichtete Patrizia mir von seiner Reaktion und von seiner unbändigen Freude auf das Baby.

Gedankenverloren neigte ich den Kopf und betrachtete eine Weile ihr hübsches Gesicht, während ich mir meinen Milchkaffee schmecken ließ. Meine Freundin schien glücklich. Amüsiert beobachtete ich ihre schönen großen Augen, wie sie funkelten, wenn sie über Marcello sprach. Patrizia hatte es verdient, glücklich zu sein, weshalb ich mich für sie umso mehr freute.

»Und wie geht es deiner Mutter?«, fragte sie, nachdem sie einen Schluck von ihrem Cappuccino getrunken hatte.

Ich riss mich von ihren großen, haselnussbraunen Augen los, auf die ich furchtbar neidisch war. »Etwas besser.« Dabei stellte ich meine Tasse ab. »Habe ich dir schon erzählt, dass wir einen Untermieter haben?«

Patrizia hätte sich fast an ihrem Cappuccino verschluckt. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. »Einen Untermieter?«, wiederholte sie den letzten Teil meiner Frage. »Du meinst etwas Männliches?«

Als ich zögernd nickte, starrte sie mich ungläubig an.

»Du lässt einen Mann bei euch wohnen?«, erkundigte sie sich, nur um sicherzugehen, dass sie auch alles richtig verstanden hatte.

Ich bejahte ihre Frage zögernd, woraufhin ihre schönen Augen schmal wurden.

»Woher kennst du ihn?«

»Von der Tankstelle«, gab ich Auskunft. »Er braucht für sein Motorrad einen neuen Reifen, das dauert allerdings ein paar Tage, und da hat er gefragt, ob ich eine Unterkunft für ihn wüsste.«

»Was weißt du über ihn?«, führte sie ihr Verhör fort.

Hilflos zuckte ich mit den Schultern. »Er heißt Mickal, ist auf der Durchreise und wartet auf einen neuen Reifen für sein Motorrad.«

»Hannah!« Aus ihrem Mund klang mein Name wie ein Vorwurf und wahrscheinlich zielte sie auch genau darauf ab. »Korrigiere mich bitte, wenn ich falschliege«, sagte sie schnippisch. »Du lässt einen wildfremden Mann in dein Haus, von dem du nichts außer den Vornamen weißt und dass sein Motorrad ganz zufällig direkt vor unserer Tankstelle kaputtgegangen ist?«

In meinem Magen begann es zu grummeln. »Wenn du es so formulierst, klingt es irgendwie leichtsinnig.«

Patrizia fuchtelte wild mit den Armen vor meinem Gesicht herum. »Verdammt, Hannah, das ist leichtsinnig.«

Ich holte tief Luft, um die Panik niederzukämpfen, die mich bei ihren harten, aber ehrlichen Worten ergriff. »Du kennst mich«, versuchte ich einzulenken. »Besser als sonst jemand. Ich bin ein guter Menschenkenner, ich habe ein Gespür für richtig und falsch. Wenn ich mir nicht sicher wäre, dass mit ihm alles in Ordnung ist, hätte ich ihn niemals mit zu uns genommen.«

Patrizia verschränkte die Arme vor der Brust, sie wirkte alles andere als überzeugt. »Wo ist er jetzt?«, wollte sie wissen.

»Bei uns zu Hause«, wagte ich kaum zu antworten.

Ihr italienisches Temperament würde allemal ausreichen, um mich hier vor allen Leuten anzuschreien, wenn sie zu dem Entschluss kommen würde, ich hätte einen Fehler gemacht. Und momentan sah es auch ganz danach aus, als würde sie jeden Moment loslegen.

»Hör mir zu«, begann ich, doch da klingelte mein Handy. »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich nach einem Blick auf das Display. »Das ist mein Chef, da muss ich rangehen.«

Signore Russo teilte mir mit, dass sich ein älteres Pärchen bei ihm gemeldet hatte. Die beiden standen für heute Nachmittag auf meiner Liste. Sie hatten ihn darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie zum Kauf bereit wären, da sich die Frau nun endlich entschieden hatte. Eine weitere Besichtigung wäre daher nicht mehr notwendig. Mein Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, strich ich den Termin aus meinem Timer und beendete anschließend das Gespräch mit Signore Russo.

»Gute Neuigkeiten?« Patrizia schaute mich fragend an. Sie war noch immer sauer auf mich wegen Mickal.

»Kann man so sagen«, nickte ich und schob mein Handy in die Handtasche. »Ich habe ein Haus verkauft. Zwar nur ein ganz kleines, daher ist die Provision nicht sehr hoch, aber besser als gar nichts.«

»Herzlichen Glückwunsch, Süße.« Patrizia beugte sich leicht über den Tisch, legte ihre Hand auf meine und tätschelte sie. »Das freut mich wirklich sehr für dich.« Dann verschwand ihr Lächeln, sie wurde wieder ernst. »Wir sind noch lange nicht durch mit dem Thema«, erinnerte sie mich an den unangenehmen Teil dieses Gespräches.

Ich wurde auf meinem Stuhl immer kleiner, auch wenn ich durchaus verstehen konnte, warum Patrizia so sauer war. »Mickal ist in Ordnung«, verteidigte ich mein Handeln. »Das kannst du mir ruhig glauben.« Woher ich das wusste, konnte ich ihr nicht sagen, ich wusste es ja selbst nicht. Doch für mich gab es keinen Zweifel. Ich konnte ihm trauen, dessen war ich mir sicher.

Patrizia löffelte den letzten Rest Milchschaum aus ihrer Tasse, während sie mich stillschweigend betrachtete.

Ich lehnte mich zurück und wartete auf eine Reaktion ihrerseits, denn mir fiel nichts mehr ein, womit ich sie hätte überzeugen können.

»Dein Kleid ist sehr hübsch«, meinte ich, als mir das Schweigen zwischen uns zu lange dauerte. »Rot steht dir sehr gut, aber das weißt du ja.«

Patrizia legte den Löffel zur Seite und zog die Nase kraus. »Lenk nicht vom Thema ab«, zischte sie ungehalten.

Ich lächelte und versuchte dabei ganz unschuldig auszusehen. »Das war nur ein Kompliment, weiter nichts.«

»Pfff«, machte sie und schaute mich böse an.

Fast hätte ich laut losgelacht. Meine Freundin sah zu komisch aus, wenn sie versuchte, böse auf mich zu sein: die Unterlippe leicht vorgeschoben, die Augen misstrauisch zusammengekniffen.

»Ich werde mir diesen Mickal ansehen«, entschied sie.

Mir verging das Lachen augenblicklich. »Du willst was?!«

»Dein Termin für heute Nachmittag ist ausgefallen, oder nicht?«

»Ja, schon.«

Patrizia zuckte mit den Schultern. »Es ist Freitag. Heute Abend hast du keine Schicht an der Tankstelle«, stellte sie unmissverständlich klar.

Ich blinzelte. »Nein, habe ich nicht. Aber das ist wirklich nicht nötig, du musst nicht …«

»Doch, ich muss«, schnitt sie mir das Wort ab. »Ich muss, und ich werde. Basta.«

Nachdem wir bezahlt hatten, wartete ich, bis der Kellner den Tisch abgeräumt hatte, dann stand ich auf, griff nach meiner Handtasche und steckte das Wechselgeld ein.

»Ich treffe mich später noch mit meiner Mutter«, erklärte Patrizia und folgte mir, als ich das Café verließ. »Aber heute Abend, da habe ich jede Menge Zeit. Wir verlegen unseren Cocktailabend einfach zu dir nach Hause. Ich komme gegen acht, wenn es dir recht ist.«

Mein Protest blieb mir im Hals stecken, als sie mich mit flehenden Augen ansah. Patrizia machte sich Sorgen um mich, das konnte ich natürlich verstehen. »Also gut«, stimmte ich zu. Auf diese Weise musste ich Mom wenigstens nicht allein lassen, um mich mit Patrizia in der Bar zu treffen, weswegen ich jedes Mal ein schlechtes Gewissen bekam, obwohl Mom mir schon hundertmal versichert hatte, dass es völlig in Ordnung war.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, bot Patrizia an.

Dankend lehnte ich ab, weil ich noch einen letzten Besichtigungstermin hatte, der hier gleich um die Ecke stattfand.

»Dann bis heute Abend«, raunte sie mir ins Ohr und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Mir wurde ein wenig flau im Magen, als ich an den bevorstehenden Abend dachte. Was würde Patrizia wohl von Mickal halten? Noch viel mehr interessierte mich allerdings die Frage, was ich tun sollte, wenn Mickal bei ihr in Ungnade fiel. Patrizia würde ihn hochkant aus dem Haus werfen, sollte sie auch nur eine einzige Sekunde lang an seiner Ehrlichkeit mir gegenüber zweifeln. Ihre Loyalität kannte keine Grenzen, was ich sehr zu schätzen wusste. Doch hin und wieder ging ihr Temperament mit ihr durch, dann musste jeder in Deckung gehen, der sich in der unmittelbaren Gefahrenzone befand.

Und momentan stand Mickal ganz oben auf ihrer Liste.

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