Читать книгу Die Seelenlicht Chroniken - Katrin Gindele - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Nachdem ich meine Kasse abgeschlossen und das Geld im Tresor verstaut hatte, kehrte ich hinter den Tresen zurück. Dort angekommen, bückte ich mich, schnappte mir meinen Blazer und die Schuhe samt Handtasche und richtete mich wieder auf.
Verdammt!
Der Motorradfahrer stand unvermittelt vor dem Tresen, so nah, dass ich vor Schreck leise aufschrie.
Er verneigte sich leicht und fragte schmunzelnd: »Könnten wir noch mal über das Problem mit meinem Reifen sprechen?«
Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt, zögerte einen Moment und antwortete schließlich: »Meinetwegen.«
Während ich den Computer wieder hochfuhr, um die Bestellung einzugeben, beobachtete er mich aufmerksam.
»Was für einen brauchst du?«, fragte ich kühl, ohne aufzusehen. Der sollte bloß nicht denken, er könne mich behandeln wie irgendeine blöde Tussi, nur weil ich im Businesskostüm hinter dem Tresen stand.
»120/70 ZR17 von Bridgestone.«
Ich nickte. »BT 015 M?«
Er zog eine Augenbraue hoch und nickte perplex.
Eins zu null für mich, dachte ich schmunzelnd. Schließlich hatte ich meinem Bruder oft genug über die Schulter geschaut, daher wusste ich ganz genau, welchen Typ Reifen er für diese Maschine brauchte.
»Mindestens eine Woche«, gab ich die Antwort des Herstellers an ihn weiter. »Bei anderen Anbietern dauert es noch länger.«
»Eine Woche?«, wiederholte er entgeistert. »Soll das ein schlechter Witz sein?«
In Italien dauerte alles ein wenig länger, das war eigentlich kein Geheimnis.
Ich räusperte mich. »Soll ich nun bestellen oder nicht?«
Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, nickte er schließlich mit grimmiger Miene.
»Okay«, stimmte ich zu und brachte die Bestellung zum Abschluss. »Dann bräuchte ich noch deine Nummer, damit ich dich erreichen kann, wenn die Lieferung eintrifft«, erklärte ich.
Er zögerte und ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was glaubst du, was ich mit deiner Handynummer vorhabe? Auf Flyer drucken und in der Stadt verteilen?«
So ein Idiot!
Statt mir zu antworten, fragte er: »Gibt es hier in der Nähe irgendwo ein Hotel?«
Hotels gab es natürlich reichlich, allerdings würde er dort kein Zimmer bekommen. »Wir haben Hauptsaison«, klärte ich ihn auf. »Ich glaube nicht, dass es noch freie Zimmer gibt.«
Sein intensiver Blick erfasste mich, er kniff die Augen zusammen. »Du hast nicht zufällig eine freie Couch übrig?« Bevor ich ablehnen konnte, fügte er hastig hinzu: »Selbstverständlich würde ich dafür bezahlen. Sagen wir … fünfhundert?« Er grinste, offenbar war ihm nicht entgangen, dass ich ihn abwimmeln wollte.
»Fünfhundert?«, japste ich. Meine Augen wurden riesengroß.
»Pro Nacht«, nickte er.
Beinahe wäre mein Herz stehen geblieben. Fünfhundert pro Nacht. Um so viel Geld zu verdienen, müsste ich wochenlang Doppelschichten schieben.
Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte – der Typ war an Unfreundlichkeit und Arroganz kaum zu übertreffen –, musste ich mir eingestehen, dass wir das Geld sehr gut gebrauchen konnten.
»Ähm …« Ich musste verrückt sein, auf solch ein Angebot einzugehen. »Okay«, stimmte ich zu, auch wenn mir meine eigene Antwort gewaltig gegen den Strich ging.
Seine Miene erhellte sich schlagartig. »Kann ich mein Motorrad hier irgendwo unterstellen?«, fragte er mit einem Blick auf seine Maschine.
Zögernd deutete ich zum Ausgang. »Rechts neben der Tankstelle ist ein kleiner Schuppen.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte nach draußen. Vor seinem Motorrad ging er in die Hocke und fummelte kurz unterhalb des Sitzes herum, wo er mehrere Gurte löste, die eine lange schmale Tasche hielten. Kurzerhand nahm er die Tasche mit dem Ledergurt und warf sie sich über die Schulter, dann schob er das Motorrad zum Schuppen.
Ich sammelte meine Sachen ein, machte die Musik sowie alle Lichter aus und aktivierte die Alarmanlage. Dann schloss ich die Ladentür ab und steckte den Schlüssel in meine Handtasche.
»Wo steht dein Auto?«, fragte er, kaum dass ich alles erledigt hatte.
»Ich habe kein Auto«, gab ich ihm zu verstehen. »Von hier aus ist es aber nicht sehr weit. Etwa zwanzig Minuten zu Fuß.«
Meine Antwort schien ihn zu verblüffen. Verstohlen musterte er mich aus den Augenwinkeln.
Tja, mein Freund, dachte ich innerlich grinsend. Die Schickimicki-Tussi parkte nun mal keinen Ferrari hinter der Tankstelle, er musste wohl oder übel laufen.
Eilig schlüpfte ich in meine Pumps und setzte mich in Bewegung. Er folgte mir.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er nach einer Weile und musterte mich prüfend.
Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern, weil ich noch immer sauer auf ihn war. »Ich hatte mich bereits vorgestellt, aber du warst nicht sonderlich daran interessiert, irgendwelche Höflichkeiten auszutauschen.«
Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als ich zu ihm spähte, offensichtlich hatte er nicht mit so einer frechen Antwort gerechnet.
»Hannah«, sagte er plötzlich. »Dein Name ist Hannah.«
Überrascht drehte ich den Kopf zur Seite und schaute ihn geradewegs an. Gegen meinen Willen musste ich zugeben, dass ich es irgendwie mochte, wie mein Name klang, wenn er ihn aussprach. Der Typ verfügte über ein bemerkenswertes Aussehen, das war mir gleich aufgefallen, nachdem er den Helm abgesetzt hatte.
Ich schluckte hart und richtete den Blick wieder streng nach vorne. Seine strahlend blauen Augen faszinierten mich auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte. Sein Blick war aufmerksam und sehr wachsam, ihm schien nichts zu entgehen.
»Hast du auch einen Namen?«, brachte ich mühsam hervor. Dann atmete ich tief durch, hob den Kopf und begegnete seinem durchdringenden Blick erneut. »Oder soll ich dich lieber mit Hey, du ansprechen?« Bevor er etwas erwidern konnte, fügte ich hastig hinzu: »Da ich so großzügig bin und dir für die nächsten Tage eine Bleibe zur Verfügung stelle, solltest du wenigstens versuchen, etwas freundlicher zu sein, meinst du nicht?«
Mit einem Blick nach links und rechts überquerte ich eilig die Straße und bog anschließend in die kleine Promenade ein, ungeachtet dessen, ob er mit mir Schritt halten konnte. Doch er blieb mühelos an meiner Seite.
Diese fesselnden blauen Augen schauten mich an, musterten mich eingehend. Mir wurde ganz flau im Magen.
»Mickal«, sagte er, ohne das Tempo zu verlangsamen. »Und danke dafür, dass ich bei dir wohnen darf.«
Ich nickte nur, weil ich mich auf den Verkehr an der nächsten Kreuzung konzentrieren musste. Die Straße wurde schmaler, bog nach links ab und wand sich dann bis zur Kuppe eines Hügels hinauf. Dort stand unser Haus, eine kleine Finca, umgeben von herrlich blühenden Rhododendronbüschen. Erschöpft seufzte ich leise, als das Haus in Sichtweite kam.
»Ich lebe nicht allein«, setzte ich ihn in Kenntnis. »Sondern zusammen mit meiner Mutter. Sie ist …« Ich kam ins Stocken, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich ihren Zustand einem Fremden gegenüber beschreiben sollte. »Sie … hütet das Bett«, begann ich zögerlich. »Seit dem Unfalltod meines Vaters ist sie nicht mehr dieselbe. Sie isst kaum noch etwas und will nicht mehr aufstehen.«
Er hob den Blick und begegnete meinem. »Sie hat aufgegeben«, sagte er voller Überzeugung.
Aufgegeben. Das war das Wort, das mir auf der Zunge lag, aber nicht ausgesprochen werden wollte.
Mom hatte aufgegeben. Schon vor langer Zeit.
»Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere ganze Familie bei dem Unfall gestorben ist, nicht nur Dad und Tony.«
Mickal musterte mich fragend.
Ich blieb stehen und tat so, als müsste ich den Hausschlüssel in meiner Handtasche suchen. »Tony war mein großer Bruder. Er hatte das gleiche Motorrad wie du, als wir in Deutschland gelebt haben, deshalb wusste ich auch, welchen Reifen du brauchst.« Ich kramte den Schlüssel aus meiner Handtasche und ging die letzten Schritte bis zum Haus im gemächlichen Tempo weiter. »Mom ist so egoistisch«, beschwerte ich mich kleinlaut. »Sie tut so, als wäre nichts mehr wichtig. Aber ich bin nicht tot. Ich lebe noch und reiße mir jeden verdammten Tag den Arsch auf, damit wir über die Runden kommen.«
Erschrocken presste ich die Lippen zusammen. Warum nur hatte ich ihm das überhaupt erzählt? Wir kannten uns doch gar nicht. Außerdem war das nichts, was er wissen musste, das ging nur mich und meine Mutter etwas an. Dennoch tat es gut, mit jemandem darüber zu reden, selbst wenn mein Gegenüber nur stillschweigend zuhörte, ohne etwas zu erwidern.
Tränen der Verzweiflung brannten in meinen Augen. Die Sorge um meine Mutter, um unsere gemeinsame Zukunft, ließ mich kaum noch schlafen.
Ich blinzelte die Tränen weg, straffte die Schultern und steckte den Schlüssel ins Schloss, kaum dass wir die Haustür erreicht hatten.
»Mom, ich bin zu Hause«, rief ich nach oben. Dabei schlüpfte ich aus meinen Pumps und legte meine Handtasche auf die kleine Anrichte. Dann drehte ich mich zu meinem Gast um. »Das Haus ist nicht besonders groß. Zwei Schlafzimmer, eine Wohnküche und ein kleines Badezimmer, aber für uns reicht es allemal.« Mit einem Nicken deutete ich den Flur entlang. Die Wände waren kalkweiß gestrichen, der Boden war mit matten Steinfliesen gefliest. »Da vorne rechts ist die Küche, von dort aus gelangst du auch ins Wohnzimmer und in den Garten. Das Bad befindet sich hinter der linken Tür. Oben sind beide Schlafzimmer und eine kleine Abstellkammer. Du kannst dich gerne in Ruhe umsehen, während ich nach Mom schaue.«
Mickal nickte. Mit eingezogenem Kopf ging er den Flur entlang in Richtung der Küche, weil er mit seinen fast zwei Metern beinahe die niedrige Decke streifte.
Gedankenverloren schaute ich ihm hinterher und überlegte, wo zum Teufel dieser Riese überhaupt schlafen sollte. Unser Sofa war jedenfalls viel zu klein dafür, das war mir in dem Moment bewusst geworden, als ich mitbekommen hatte, wie er den Kopf einziehen musste, um durch die Tür ins Haus zu gelangen.
Na super, dachte ich, als ich die Treppe nach oben lief. Das konnte ja lustig werden.
Mom lag auf dem Rücken, die Arme unter der Bettdecke, und döste. Trotz der heißen Temperaturen, die für August hier in Italien völlig normal waren, brauchte sie immer eine Decke, weil ihr ständig kalt wurde.
»Mom?« Leise trat ich ans Bett und betrachtete ihr blasses Gesicht.
Die Haut spannte sich über den Wangenknochen, dunkle Schatten lagen unter ihren langen, dichten Wimpern. Ihre Lippen waren bereits spröde vom Wassermangel.
Mit einem Blick auf den unberührten Teller, der neben dem Bett auf dem kleinen Schränkchen stand, sagte ich: »Mom, du hast schon wieder nichts gegessen. Ich hatte dir extra Toast gemacht, weil du den so gerne magst.«
Langsam öffnete sie die Augen und schaute zu mir auf. »Wie war dein Tag?«
Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante und strich ein paar lose Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. »Wir haben einen Gast«, erklärte ich und lächelte, als sie die Augen aufriss.
»Einen Gast?«
Ich nickte. »Ein Tourist auf der Durchreise. Er braucht für ein paar Tage eine Unterkunft, und er zahlt wirklich gut, Mom.« Als ich bemerkte, wie sie zum Protest ansetzte, fügte ich hastig hinzu: »Er ist ganz harmlos, keine Sorge.«
Das Wort harmlos traf es nicht einmal annähernd. Der Kerl war alles andere, aber ganz sicher nicht harmlos. Doch warum auch immer, bei ihm hatte ich zu keiner Zeit das Gefühl gehabt, ich könne ihm nicht trauen. Er machte auf mich zwar einen gefährlichen Eindruck, das ließ sich allein schon aufgrund seiner beeindruckenden Statur nicht abstreiten, allerdings wirkte er auf mich nicht so, als würde er hilflose Frauen angreifen. Zumindest hoffte ich das.
Mom versuchte sich aufzurichten. Ich half ihr und schüttelte das Kissen auf, damit sie bequem sitzen konnte.
»Es tut mir so leid«, murmelte sie sichtlich ergriffen. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
»Du könntest damit anfangen, indem du etwas isst«, versuchte ich sie ein wenig aufzumuntern.
Sie lächelte kaum wahrnehmbar. »Was gibt es denn?«
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Wie wäre es mit Spaghetti Bolognese?«
»Klingt gut«, meinte sie und faltete die Hände im Schoß. Dann wanderten ihre Augen über meine Arme. »Du hast schon wieder vergessen, dich einzucremen«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.
Ich folgte ihrem Blick und betrachtete die roten Stellen auf meinem rechten Unterarm. Ganz egal, mit wie viel Sunblocker ich mich einschmierte, früher oder später wurde ich dennoch wieder knallrot, meine Haut war einfach viel zu empfindlich.
»Wir hätten lieber nach England gehen sollen«, versuchte Mom zu scherzen. »Italien ist nicht gut für dich.«
Dafür war es leider zu spät, wie ich fand, denn in Anbetracht ihrer gesundheitlichen Verfassung würden wir in absehbarer Zeit nirgendwohin gehen, so viel stand fest.
»Ruh dich ein bisschen aus, bis das Essen fertig ist.« Ich erhob mich, und Mom schloss die Augen.
»Richte unserem Gast liebe Grüße aus«, murmelte sie schlaftrunken.
Ich nickte betreten. Mom war so schwach, sie wirkte so zerbrechlich, selbst diese wenigen Worte schienen sie unheimlich anzustrengen.
In Gedanken versunken durchquerte ich den oberen kleinen Flur, der direkt in mein Zimmer führte und von mir in einem kräftigen Sonnengelb gestrichen worden war. Möbel standen in diesem Flur keine, dafür war er viel zu schmal. Doch Bilder gab es dafür reichlich an den Wänden, tolle Landschaften, die Mom gemalt hatte. Früher einmal hatte sie es geliebt, zu malen. Neben dem Restaurieren alter Möbel war das eine ihrer absoluten Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Doch dafür fehlte ihr inzwischen die Kraft.
Direkt neben meiner Zimmertür hing ein besonders schönes Bild, welches mir von allen am besten gefiel: eine weitläufige, üppig begrünte Landschaft mit einem Wasserfall, umrahmt von unzähligen Bäumen, deren massige Stämme mit Moos bewachsen waren. Eine herrliche Landschaft voll unberührter Natur. Im Vorbeigehen warf ich einen flüchtigen Blick auf das Bild und fragte mich, so wie immer, wenn mein Blick das Gemälde traf, wann Mom wohl diese Landschaft mit eigenen Augen gesehen haben mochte. Lange vor meiner Geburt, das wusste ich aus ihren Erzählungen. Vielleicht würde ich eines Tages dorthin reisen und diese atemberaubend schöne Landschaft selbst sehen.
Ich stieß die Tür auf und betrat mein Zimmer. Der alte weiße Holzboden hatte auch schon bessere Tage erlebt. Er knarrte unter meinen Schritten, als ich zum Schrank ging, um mir frische Sachen zu holen.
Die Wände hatte ich lavendelfarben gestrichen und weiße, bodenlange Gardinen am Fenster angebracht. Mein weißes Himmelbett war aus Metall und eigentlich viel zu groß für eine einzelne Person. Mom hatte es auf einem Flohmarkt entdeckt, in alle Einzelteile zerlegt und den Händler mit einem hübschen Lächeln sogar dazu überredet, es anzuliefern und aufzubauen. Auf dem nächsten Flohmarkt waren uns die herrlichen weißen Vorhänge in die Hände gefallen, die seitdem mein Bett zierten.
Der zweitürige Kleiderschrank, an dem schon die weiße Farbe abblätterte, wurde nur noch durch ein paar Schrauben zusammengehalten, weil Mom es nicht mehr geschafft hatte, ihn herzurichten, als sie krank geworden war. Weil ich jeden Tag damit rechnete, dass der Schrank zusammenbrechen könnte, ließ ich stets beide Türen offen, damit diese unabwendbare Tatsache durch das stetige Öffnen und Schließen der Türen nicht unnötig beschleunigt wurde.
Ohne groß darüber nachzudenken, schnappte ich mir eine kurze Jeans und ein grünes Top, frische Unterwäsche und ein sauberes Handtuch. Nun, da es draußen langsam etwas kühler wurde, war es an der Zeit, das Fenster zu öffnen. Ich schob die Vorhänge zur Seite, öffnete das Fenster sperrangelweit und atmete tief die klare Luft ein. Begleitet von einem tiefen Seufzer machte ich mich auf den Weg ins Badezimmer.
Eigentlich war Italien ein ganz wundervoller Ort zum Leben, und wären die Umstände anders gewesen, hätten Mom und ich hier sicher wieder glücklich werden können. Doch so fühlte ich mich einsamer als jemals zuvor, trotz Patrizia und all meinen anderen Freunden. Inzwischen fühlte ich mich leer und ausgelaugt, müde, als würde mein Körper seit Monaten nur noch auf Reserve laufen. Eine Besserung war leider nicht in Sicht.
Nachdem ich fertig geduscht war und meine Haare mit dem Handtuch trocken gerubbelt und sie gekämmt hatte, schlüpfte ich in meine frischen Sachen und schlug barfuß den Weg zur Küche ein.
Mickal stand mit dem Rücken zu mir gewandt im Wohnzimmer und telefonierte. Er drehte sich blitzschnell herum, als er mich bemerkte, nickte mir zu und beendete das Gespräch augenblicklich.
Ich schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern band meine Haare zusammen und machte mich daran, das Abendessen vorzubereiten.
Während ich die Zutaten für die Soße schnippelte, wurde mir bewusst, dass er mich die ganze Zeit über anstarrte. Ich reckte das Kinn und begegnete seinem durchdringenden Blick. Es war ihm anzusehen, was ihm durch den Kopf ging.
»Ja, ich kann kochen, stell dir das vor«, sagte ich schnippisch. »Oder hast du etwa gedacht, ich lebe den ganzen Tag nur von Kaviar und Champagner?«
»Ich war mir nicht sicher«, entgegnete er trocken und zuckte mit den Schultern.
Angesäuert legte ich das Messer zur Seite. Ich war kurz davor gewesen, es nach ihm zu werfen. »Der erste Eindruck kann manchmal täuschen«, sagte ich so beherrscht wie möglich.
Am liebsten wäre ich diesem arroganten Typen an die Kehle gesprungen. Es war offensichtlich, dass er mich für eine Tussi hielt.
»Doch meistens ist der erste Eindruck der richtige«, entgegnete er unbeeindruckt.
Das war zu viel für mich. Ich wusste nicht, warum ich plötzlich das Bedürfnis verspürte, mich verteidigen zu müssen, denn normalerweise ging es mir am Arsch vorbei, was andere über mich dachten. Diesmal jedoch konnte und wollte ich das nicht auf sich beruhen lassen.
Zuerst warf ich alle Zutaten in den Topf und stellte ihn auf den Herd, dann holte ich einen zweiten Topf für die Nudeln aus dem Schrank, füllte ihn mit Wasser, gab einige Tropfen Öl samt einer Prise Salz hinzu und schob ihn für später auf die Anrichte. Dabei musste ich mich schwer zusammenreißen, so wütend war ich auf ihn.
Kaum war ich damit fertig, wirbelte ich herum, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn böse an. Ich war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, was bei mir äußerst selten vorkam. »Jetzt pass mal auf, du oberflächlicher, arroganter Vollidiot«, zischte ich. »Meine Mutter ist schwer krank, und ich musste ich einen zweiten Job annehmen, weil in diesem heruntergekommenen Loch ständig etwas kaputtgeht, aber ich habe nicht genug Geld, um einen Handwerker zu bezahlen. Ich habe nicht einmal genug Geld, um mir ein zweites Kostüm zu kaufen. Weil Signore Russo, mein Chef, sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres legt, wenn ich potenziellen Kunden die Häuser zeige, bin ich gezwungen, bei dieser Affenhitze in einem Businesskostüm herumzulaufen, das ich jeden Abend waschen muss, damit ich es am nächsten Tag wieder anziehen kann. Ich hasse hohe Schuhe, am liebsten laufe ich den ganzen Tag über barfuß, aber ich muss diese Schuhe tragen, weil sie zum Kostüm passen und weil es nun einmal professioneller aussieht als mit Turnschuhen.« Ich atmete ein paar Mal tief durch, um mich zu beruhigen. »Vielleicht solltest du die Menschen nicht nur nach ihrem Äußeren beurteilen«, schlug ich mit strenger Miene vor und wirbelte herum, um mich wieder dem Essen zu widmen.
Nach meiner Standpauke würde er sicherlich seine sieben Sachen packen und verschwinden, ging es mir durch den Kopf. Sollte er doch. Auf die Kohle konnte ich verzichten. Mit solch einem Menschen wollte ich sowieso nicht unter einem Dach leben, nicht einmal für eine Woche und nicht für alles Geld der Welt.
Während das Essen auf dem Herd vor sich hin köchelte, holte ich das Besteck und zwei Teller aus dem Schrank und deckte schweigend den Tisch. Sollte er verschwinden, konnte ich den zweiten Teller immer noch zurück in den Schrank stellen.
Der Typ stand weiterhin an derselben Stelle, als wäre er im Wohnzimmer am Holzboden festgewachsen. Doch seine Augen folgten jeder meiner Bewegungen, was mich nervös machte, weil ich es nicht sonderlich mochte, wenn ich beobachtet wurde.
»Was muss alles repariert werden?«, fragte er plötzlich.
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, aus dem Typen schlau zu werden. »Im Bad flackert das Licht«, setzte ich an. »Der Wasserhahn in der Küche tropft. Im Flur gibt es zwei Steckdosen, die nicht funktionieren, und wenn es regnet, lässt sich die Haustür nicht mehr schließen.«
Früher hatte Dad sich um solche Sachen gekümmert, zusammen mit Tony. Ich war den beiden oft zur Hand gegangen, wenn im Haus etwas repariert werden musste. Mit Hammer und Bohrmaschine konnte ich umgehen, das war kein Problem, doch manchmal gab es Situationen, da musste ich passen. Vor allem, was mit Strom zu tun hatte, wie die defekten Steckdosen beispielsweise, hatte ich eine Menge Respekt.
»In Ordnung«, nickte er und holte mich damit aus meinen Gedanken. »Solange ich bei euch wohne, kann ich mich etwas nützlich machen.« Mit wenigen Handgriffen zog er die schwarze schmale Tasche von seinem Rücken, beugte sich vor und legte sie behutsam auf unserem Sofa ab.
»Spielst du Golf?«, wollte ich mit einem Blick auf die Tasche wissen.
Hier in der Nähe gab es einen Golfplatz, das wusste ich, da mir Patrizia unlängst davon erzählt hatte. Ihr Vater war ein begeisterter Spieler.
»Eigentlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Da sind nur ein paar Klamotten drin und …« Seine Augen wurden ein wenig schmaler. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er, ohne den vorherigen Satz zu beenden.
Entschlossen, ihm noch eine Chance zu geben, weil er sich reumütig gab, reichte ich ihm die Servietten. »Das Essen ist gleich fertig«, erklärte ich und zog den Topf mit den Nudeln vom Herd, um das Wasser abzugießen. Die erste Portion war für Mom.
Guter Dinge schnappte ich mir den Teller und marschierte nach oben. Doch Mom brachte kaum etwas hinunter, ein paar wenige Happen nur. Immerhin schon mehr, als sie noch zum Frühstück geschafft hatte. Das ließ mich hoffen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Mickal, als ich mit dem fast vollen Teller zurück in die Wohnküche kam.
»Nicht sehr gut«, seufzte ich und stellte den Rest des Essens in den Kühlschrank. »Seit Dad und Tony tot sind, baut sie massiv ab.«
Inzwischen hatte Mickal unsere Teller befüllt. Wir aßen schweigend, denn noch immer war ich mit den Gedanken bei Mom. Ihr Zustand machte mir schwer zu schaffen, viel mehr, als ich wahrhaben wollte.
Nach dem Essen ließ ich Wasser ins Becken und begann damit, das Geschirr von heute Morgen abzuspülen. »Manchmal hab ich das Gefühl, sie will einfach nicht mehr«, sprach ich meinen letzten Gedanken laut aus.
Mickal griff wie beiläufig nach dem Geschirrtuch, nahm einen Teller und trocknete ihn ab. »Dir geht es scheinbar auch nicht besonders gut«, stellte er fest. Seine Augen hefteten sich auf meinen eigenen Teller, der neben mir auf der Anrichte stand.
Zögernd folgte ich seinem Blick. »Manchmal bin ich abends so müde, dass ich nichts mehr essen will«, gestand ich schulterzuckend, da ich das Gefühl hatte, mich rechtfertigen zu müssen. »Dafür könnte ich am nächsten Morgen eine ganze Wagenladung verputzen.« Ich musste lächeln bei dem Gedanken.
Als ich den Kopf hob, begegneten sich unsere Blicke, und ich hätte schwören können, dass er ebenfalls lächelte.
Mickal war riesig und breitschultrig. Unter seinem eng anliegenden Shirt wölbten sich kräftige Oberarmmuskeln. Sein kantiges Kinn und die vollen Lippen harmonierten perfekt miteinander. Und erst diese Augen …
Ich wusste nicht, wie lange ich mit dem nassen Teller in der Hand dagestanden und ihn angestarrt hatte, als wäre er von einem anderen Planeten. Irgendwann wurde mir bewusst, dass er grinste. Meine Wangen wurden heiß vor Scham.
»Gefällt dir, was du siehst?«
Seine Frage traf mich absolut unvorbereitet. Auf der Stelle wurde ich feuerrot im Gesicht. »Ganz und gar nicht«, stotterte ich und reichte ihm den letzten Teller, ohne ihn noch einmal anzusehen.
Normalerweise war ich weder schüchtern noch auf den Mund gefallen. Bis jetzt hatte ich immer einen lockeren Spruch auf den Lippen gehabt, sobald mich ein Typ angebaggert hatte. Bei den wöchentlichen Cocktailabenden mit Patrizia und meinen Freunden war so etwas schon mehr als nur einmal vorgekommen. Italienische Männer verstanden sich sehr gut darauf, eine Frau charmant und mit allerlei Komplimenten um den Finger zu wickeln.
Bis heute war es mir dank meiner Schlagfertigkeit immer gelungen, die Männer auf Abstand zu halten, weil ich dafür momentan einfach keine Nerven hatte. Doch dieser Typ schaffte es mit einer einzigen Bemerkung, dass ich mich vor Scham am liebsten unter den alten Holzdielen verkriechen wollte.
»Möchtest du auch ein Glas Wein?«, fragte ich, um das bedrückende Schweigen zwischen uns zu brechen. Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm ich zwei Gläser vom Regal, öffnete den Küchenschrank und klemmte mir die angebrochene Flasche unter den Arm.
Sobald Mom schlief und die Hausarbeit erledigt war, setzte ich mich vor dem Schlafengehen gern mit einem Glas Wein auf die kleine Terrasse neben der Wohnküche, um den Tag ausklingen zu lassen. Unsere Terrasse war nicht sehr groß, es reichte gerade einmal für einen kleinen Tisch, zwei Stühle und eine Pflanzschale voller Lavendel. Dennoch liebte ich meine stille Oase über alles und freute mich jeden Abend darauf.
Mit der rechten Hand schob ich den Riegel hoch, drückte die Glastür auf und trat ins Freie. Sofort strömte mir der herrliche Lavendelgeruch in die Nase. Ich seufzte wohlig, stellte beide Gläser samt Flasche auf den Tisch, zündete mit der Packung Streichhölzer, die immer griffbereit lag, das Windlicht an und ließ mich anschließend auf einen der beiden Stühle sinken.
Mickal war mir nach draußen gefolgt, wie ich erfreut feststellte. Ich füllte die Gläser, während er auf dem anderen Stuhl Platz nahm.
»Es ist sehr schön hier«, sagte er und schaute sich um. »Klein, aber fein.«
Lächelnd nickte ich. »Manchmal, wenn der Wind günstig steht, ist die Luft erfüllt vom Geruch des Meeres. Man kann fast das Salz auf der Zunge schmecken.«
»Du wohnst hier oben auf dem Hügel, ganz allein mit deiner Mutter, umgeben von Wald und Wiesen«, stellte er fest und runzelte die Stirn. »Hast du keine Angst vor Überfällen?«
Ich zögerte, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, doch nachdem ich ihm vorhin meine halbe Lebensgeschichte an den Kopf geworfen hatte, machte das wohl auch nichts mehr aus. »Das war das einzige halbwegs erschwingliche Haus in der Gegend«, setzte ich an. »Mom war es leid, noch weiterzusuchen. Sie meinte, wir machen es uns schon gemütlich.«
Was sie auch tatsächlich geschafft hatte, trotz der offensichtlichen Mängel. Das Haus war von ihr mit sehr viel Liebe eingerichtet worden, und wenn man mal von dem langen Weg absah, den man zu Fuß bewältigen musste, falls man wie ich kein Auto besaß, dann war es hier oben gar nicht so übel.
»Dann trinken wir auf bessere Tage«, schlug Mickal mit einem Lächeln vor und hob sein Glas.
Ich tat es ihm gleich, lächelte zurück und prostete ihm zu. Nach dem ersten Schluck gähnte ich, meine Augen wurden immer schwerer.
»Das Sofa ist wahrscheinlich viel zu klein für dich«, bemerkte ich nebenbei. »Tut mir leid, dass ich dir nichts Besseres anbieten kann als abgestandenen Wein und einen unbequemen Schlafplatz.«
»Aber das Essen war ausgezeichnet«, gab er zu Protokoll. »Und wenn ich vielleicht kurz duschen könnte, wäre ich vollauf zufrieden mit meiner derzeitigen Situation.«
Gegen eine Dusche war nichts einzuwenden, wie ich fand, denn schließlich bezahlte er ein kleines Vermögen für eine Unterkunft, die seinen Ansprüchen wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise gerecht wurde.
»Bevor ich ins Bett gehe, lege ich frische Handtücher ins Badezimmer«, bot ich an.
Er nickte dankbar.
»Aber vorher«, setzte ich nach und erhob mich langsam, »muss ich mein Kostüm waschen, sonst habe ich morgen nichts zum Anziehen.« Glücklicherweise standen für den nächsten Tag nur zwei Hausbesichtigungen an.
»Danke«, sagte er, als ich schon auf dem Weg zurück ins Haus war. »Für deine Hilfe und dafür, dass ich hierbleiben darf.«
Ruckartig blieb ich stehen und drehte mich um. »Kein Problem«, winkte ich ab. »Du brauchst einen Platz zum Schlafen, ich brauche dringend Geld. Damit ist uns beiden geholfen.«
Mickal leerte sein Glas in einem Zug, stellte es auf den Tisch und meinte: »Ich würde gerne noch etwas sitzen bleiben, wenn das für dich in Ordnung ist.«
Mir fiel kein Grund ein, warum ich etwas dagegen haben sollte. »Mach nur«, stimmte ich zu. Dann wünschte ich ihm eine gute Nacht, stellte mein Glas in die Spüle und machte mich auf den Weg nach oben, um mein Kostüm und die versprochenen Handtücher zu holen.
Später, als ich schon im Bett lag, hörte ich das Wasser rauschen, während Mickal unter der Dusche stand. Kurz vor dem Einschlafen überlegte ich noch, wie es wohl aussehen mochte, wenn dieser riesige Kerl auf unserem viel zu kleinen Sofa lag. Meine Vorstellungskraft reichte dafür jedoch nicht aus und kurz darauf fielen mir schon die Augen zu.