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Die Mutter
ОглавлениеSie befand sich allein im Krankenzimmer. Der Ortswechsel kam ihr durch die Bewusstlosigkeit abrupt vor. Für einen Augenblick glaubte sie, zu träumen. Vielleicht lag sie noch immer im Winkel in der Hochschule, oder auch das war nur ein Traum, und sie lag in Wirklichkeit allein in ihrer Wohnung. Doch möglicherweise träumte sie auch das und war stattdessen ein Kind, das im Bett lag und ängstliche Träume von der Zukunft hatte. Mit den Schmerzen, die sie in Arm, Bein und Kopf verspürte, kam auch ihr Bewusstsein wieder, und sie begriff, wie die Realität aussah: Sie war gestürzt, hatte Wunden davongetragen und war folgerichtig im Krankenhaus gelandet. Insofern hatte alles seine Richtigkeit. Erschöpft schloss die Augen und nahm sich vor, die äußere Wirklichkeit so wenig wie möglich zu beachten. Die Tür wurde geöffnet, sie hörte es aber nicht, sondern spürte nur einen kurzen Luftzug an der kühlen Stirn. Es war ihr ganz gleich, wer da gekommen war und sich an ihr Bett stellte, sie hielt die Augen weiterhin geschlossen und wollte nichts mehr wissen. Der Besucher ließ sich Zeit und beobachtete sie still. Die Gestürzte konnte sich nicht vorstellen, was es da zu schauen gab; denn aus der Bettdecke schaute ein verbeulter Kopf hervor und unter der Decke sah es auch nicht besser aus. Sie wollte wieder in ihre Behausung zurück, wo sie allein liegen konnte und ihre eigene, ganz persönliche Wirklichkeit hatte. Ein erneuter Luftzug berührte ihre Stirn. Diesmal kam er jedoch nicht von der Tür; jemand hatte sich zu ihr gebeugt, und ein Duft von Veilchen und Lavendel stieg ihr in die Nase. Danach spürte sie einen Kuss auf ihrer Stirn. Es war kein gewöhnlicher Kuss: Er flammte auf ihrer Haut. Doch wer immer sie da geküsst hatte, grollte es in ihr, sollte wissen, dass ein Kuss sie noch lange nicht in diese Welt zurückholte. Die andere Person stand still und wartete. Die Gestürzte überlegte, ob sie nicht vielleicht halb die Augen öffnen sollte, um zu sehen, wer sich da nicht scheute, eine Unglückliche und Entstellte zu küssen. Blinzelnd schaute sie zur Decke und erkannte aus den Augenwinkeln, wer sie geküsst hatte. Ihr Kopf begann zu schwindeln, Übelkeit stieg hoch, und in ihrem kleinen Finger begann es, zu schmerzen. Die Mutter stand da, hatte ihre Füße bis zu ihr ans Krankenbett bewegt und setzte sich sogar darauf.
Die Gestürzte wollte die Augen ganz öffnen und die Mutter in ihre Arme schließen, aber im letzten Moment schossen ihr Zweifel durch den Kopf. Seit mehreren Monaten war die Mutter beruflich unterwegs. Nur einmal im Monat flatterte eine bunte Ansichtskarte in den Briefkasten. Die letzte war aus Venedig gekommen. So sah die Wirklichkeit aus. Sie beherrschte sich, wollte sich nicht täuschen lassen und hielt die Augen geschlossen, damit das Trugbild einsah, dass es durchschaut worden war. Doch stattdessen fühlte sie ein leichtes Streicheln, und das Krankenbett quietschte. Das Trugbild hatte offensichtlich nicht vor, rasch zu verschwinden. Es saß bequem auf ihrem Bett und räusperte sich leicht. Die Gestürzte hielt ihre Glieder angespannt, da sie ein aufkommendes Zittern spürte. Sie hatte das Gefühl, wenn sie die Augen öffnete und die Mutter plötzlich nicht mehr da war, würde sie für immer kraftlos versinken.
Als sie die Augen aufschlug, rückte die Mutter auf dem Bett herum und sah ihrem Kind in die weit geöffneten Augen. Beide verharrten, bis die Mutter ihr einen leichten Klaps auf die Wange versetzte. Sie hatte keine Zweifel mehr, die Mutter war ebenso Wirklichkeit wie ihr verbeulter Kopf und die ferne Geliebte, die vermutlich gerade den Hefter zuschlug und das Podium verließ. Die Mutter nahm ihre Hand und hielt sie fest. Während sich ihre Blicke trafen, hatte sich die Miene der Mutter mehrmals verändert und war zuletzt sogar von Besorgnis befallen worden, ob das, was da entstellt vor ihr im Bett lag, auch wirklich ihr Kind sei. Dann hob sich ihr Blick, und sie stellte die Frage, vor der sich die Gestürzte schon bei dem Schwätzer gefürchtet hatte. Sie fühlte sich zu schwach für die Wahrheit und wollte außerdem nicht an die ferne Geliebte erinnert werden. Deshalb blieb sie bei der Variante der plötzlichen Dunkelheit, die beim Blättern in den Büchern über sie gekommen war. Die Mutter hörte still zu, als die Gestürzte die hereinbrechende Dunkelheit ausführlich beschrieb und ebenso den Sturz von der Hochschultreppe, der auf den harten Marmorplatten geendet hatte. Darauf wollte sie von der Mutter wissen, wie es kam, dass sie urplötzlich an ihrem Krankenbett erschienen war. Sie hoffte, die Mutter mit dieser Frage an ihr unsichtbares gemeinsames Band zu erinnern, das beide fest in den Händen hielten, wodurch jeder vom Unglück des anderen wusste. Die Mutter erklärte jedoch, ihr sei ein dummes Missgeschick passiert, das ihre sofortige Abreise nötig gemacht habe. Da ihr obendrein die ganze Reisekasse abhandengekommen war, sei ein Rückflug unumgänglich gewesen, den sie auch rasch angetreten habe. Dann, gerade zu Hause angekommen und vom Flug noch ganz schwummerig im Kopf, hatte sie bereits das Telefon klingeln hören und so von dem Treppensturz erfahren. Diese herkömmliche Erklärung enttäuschte die Gestürzte. Was die Mutter für ein dummes Missgeschick hielt, war in ihren Augen zumindest ein glücklicher Zufall gewesen.
Sie griff sich an den Kopf, um danach die Mutter zu fragen, ob sie glaube, dass ihre Schwummerigkeit nur vom Flug verursacht worden sei, der so lang nicht gewesen war. Die Mutter brauchte jetzt nur noch darauf zu kommen, dass der vom Treppensturz deformierte Kopf schuld an ihrem Zustand war. Der Zusammenhang lag für die Gestürzte klar auf der Hand: Ihre Wunden und ihr Schmerz hatten sich auf wundersame Weise auf die Mutter übertragen. Die Antwort der Mutter kam nach einigem Zögern. Sie sprach davon, dass sie sich tatsächlich seit einiger Zeit merkwürdig schwindlig fühlte und hin und wieder von einem Frösteln befallen wurde, dem Schweißausbrüche folgten, wobei ihr häufig die Beine wegzuknicken drohten. Die Gestürzte richtete sich bei diesen Worten überrascht im Bett auf und die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Seit Wochen spürte auch sie eine Schwäche in den Beinen, von der sie zwar wusste, woher sie stammte; was sie aber nicht geahnt hatte, war, dass die Mutter bereits die ganze Zeit mit ihr litt. Zufrieden räkelte sie sich im Bett. Die Mutter war für sie aus dem Boden herausgewachsen, wie einst am Rodelberg, somit hatte sich alles folgerichtig und sinnvoll und trotzdem märchenhaft und wundersam gefügt. Nun glaubte sie zu wissen, wie sie ohne den Himmel einen Sinn in den Ereignissen ihres Lebens sehen konnte. Allem voran hatte sie stets den Drang nach dem Bedeutsamen gestellt und war so weit gegangen, dass sich die Ereignisse dem Bedeutsamen wohl oder übel fügen mussten. Damit hatte sie das Pferd von hinten aufgezäumt, wie sie fand. Richtiger wäre es gewesen, das Ereignis erst einmal frei und offen geschehen zu lassen; erst dann kam der Betrachter hinzu, mit dem der Vorfall seine Beachtung und spätere Bedeutung erhielt. Das Ereignis war demnach auf den Betrachter angewiesen, und diesem stand es frei, welchen Sinn oder auch Nicht-Sinn er dem jeweiligen Vorfall geben würde. Jede Erklärung konnte die richtige sein und die Suche nach der Bedeutung ähnelte einem Schöpfungsakt, bei dem es wichtig war, die vorteilhafteste für sich herauszufinden.
Bei ihrem nächsten Besuch schlug die Mutter die Decke zurück. Der Anblick des Kopfes ihrer Tochter ließ sie das Allerschlimmste für die untere Hälfte des Körpers befürchten. Die Gestürzte blickte angespannt auf ihre Beine bis zu den Füßen. Zur Überraschung der Mutter setzte sich der traurige Zustand weiter unten jedoch nicht fort. Die Beine befanden sich nicht, wie sie gefürchtet hatte, in dicken Verbänden und die Füße hatten ihre bedenkliche Schiefstellung aufgegeben und standen wieder parallel. Die Mutter strich mit den Fingern über ihre Beine. Die Gestürzte erinnerte sich, wann sie das letzte Mal gestreichelt worden war, und zweifelte schließlich, ob man sie jemals so sacht berührt hatte. Sie weinte. Ähnlich wie bei ihrer ersten Liebe, in der der Stämmige zu weinen angefangen hatte, als sie ihm einen Knopf annähte, wurde sie beim Streicheln von etwas unbestimmt Schmerzhaftem ergriffen. Ihr kam qualvoll zu Bewusstsein, dass auch die streichelnde Hand der Mutter eines Tages im Grab verkümmern würde. Als sie die Mutter anschaute, vergrößerte sich der Schmerz noch, sodass die Mutter ganz vor ihren Augen verschwamm, und auch heftiges Wischen half nicht; die Mutter blieb verschwommen und undeutlich, und die Gestürzte hatte den Eindruck, als entferne sie sich immer mehr von ihr.
Die folgenden Tage vergingen rasch. Die Mutter kam zu ihr und setzte sich auf das quietschende Bett. Zuerst untersuchte sie die langsam verheilenden Wunden. Dabei bereitete ihr der immer noch deformierte Kopf am meisten Sorge. Die Gestürzte erbrach zwar nicht mehr, aber die Prellungen hatten Farbe angenommen und ließen den Kopf weit schlimmer aussehen als zuvor. Was darauf folgte, versetzte die Gestürzte jedes Mal in einen euphorischen Zustand, denn die Mutter beugte sich über sie − es begann nach Veilchen und Lavendel zu duften − und küsste ihr die kühle Stirn. Der Kuss war nicht mehr als eine Begrüßung; er war zwar nicht hingehuscht, wie die meisten seiner Art, aber auch nicht besonders innig und stand in keinem Verhältnis zu den Gefühlen der Gestürzten, die danach regelmäßig aufwallten. Die Mutter ahnte von solchen Empfindungen während des Kusses und auch hinterher nichts. Sie setzte sich auf das Bett und begann zu erzählen. Noch nie hatte der Kuss der Mutter ein feuriges Gefühl bei ihr hinterlassen; und sie befürchtete, dass die hitzigen Aufwallungen, die ihr bei aller Euphorie auch peinlich waren, etwas mit der fernen Geliebten zu tun haben mussten, die auf diese hinterhältige Art und Weise auf sich aufmerksam machen wollte. So blieb der Kuss nicht ohne Folgen. Jedes Mal verspürte sie ein großes Verlangen, die ferne Geliebte ganz dicht zu sich zu holen, und zugleich war sie sich sicher, dass die echte Geliebte in ihren Vorlesungen einen extra Hüftschwung für den Schleimscheißer einlegte und sie schon vergessen hatte. Erneut kam ihr zu Bewusstsein, dass es zwei Wirklichkeiten gab: In der einen hielt sie sich allein auf, dort hatte sie zwar ihre Träume und gab es himmlische Freiheiten, die sie sich jederzeit nehmen konnte, doch war es eine Wirklichkeit, in der sie sich abgetrennt vorkam, die von niemandem bemerkt oder gesehen wurde; eine Welt, in der nichts Überraschendes geschah, es sei denn, sie überraschte sich selbst. Und es gab die andere Wirklichkeit, die der fernen Geliebten eben und der restlichen Welt überhaupt, die ihr zuweilen übergroß erschien, die aber auch klein und grau werden konnte, sodass sie sich darin verloren vorkam und den Aufenthalt in ihrer eigenen Welt vorzog, die zumindest für einige Zeit mehr Trost und Schönheit versprach als die reale, vorgefundene.
Nach den Aufregungen des Kusses mischte sie sich stets in die Plaudereien der Mutter ein. Einmal wagte sie es nachzufragen, wie das dumme Missgeschick, das die Mutter übereilt zur Abreise gezwungen hatte, denn genau ausgesehen habe. Anfangs überhörte die Mutter diese Frage. Dann begann sie, mehr als sonst, mit den Beinen zu schlenkern, blickte zur Tür und sagte beiläufig: „Ach, weißt du …“
Die Gestürzte unterließ es von da an, die Mutter zu befragen. An einem Tag, der bewölkt war und winterlich kalt, wurde sie misslaunig – und die Welt war erneut eine blasse blaue Kugel, von der sie herunterzufallen drohte. Sie legte ihren Kopf in den Schoß der Mutter.
„Erzähl mir was Schönes“, bat sie und fügte noch hinzu, dass es ruhig ausgefallen sein könne und auch von der Liebe handeln dürfe, am besten von Prinzen und Prinzessinnen, und auch das Küssen sollte darin nicht vergessen werden. Die Mutter blickte sie überrascht an und fragte, wie es wäre, wenn sie etwas über ihre Reisen erzählte, von Venedig, zum Beispiel. Sie schüttelte den Kopf, kroch tiefer in den Schoß der Mutter und ein leichter Seufzer entrang dieser, als sie mit der Märchenstunde begann. Mit den Jahren war die Mutter etwas aus der Übung gekommen. Sie stockte mehrere Male, überlegte, versuchte sich zu erinnern und vergaß Details. Die Gestürzte nahm alles mit einem nachsichtigen Kopfnicken hin, denn der Prinz sollte endlich erscheinen. Die Mutter hatte ihre Lieblingsstelle bestimmt nicht vergessen und sie vielleicht noch vervollkommnet, denn sie war eine Frau, die sich in dieser Hinsicht nichts nachsagen ließ. Gespannt rollte sich die Gestürzte zusammen und wartete auf die Feurigkeit des Kusses. Zu ihrer Enttäuschung jedoch trat der Prinz ziemlich rasch in Erscheinung, und er schritt auch nicht in Erwartung des Kusses, wie vermutet, sondern stand ohne viele Umstände vor dem schlafenden Dornröschen. Dem Kuss erging es nicht viel besser: Nichts brannte da; die Mutter hatte die Lieblingsstelle völlig verhunzt. Daher war es auch nicht verwunderlich, dass sie das Feurige des Begrüßungskusses nicht gespürt hatte. Sie entrollte sich und löste sich vom Schoß der Mutter. Ihre Schwermut war abgeklungen. Die Mutter schwieg nach Beendigung der Märchenstunde und der Gestürzten entging nicht, dass die Mutter in den letzten Tagen eine leichte geistige Abwesenheit gezeigt hatte, so, als ob sie sich in eine andere Welt zurückgezogen hätte. Sie richtete sich im Bett auf, während die Mutter die kahle Krankenhauswand neben sich beschaute. Von der Seite betrachtet, sah sie verändert aus. Ihre weichen, schönen Gesichtszüge waren herb und um die Mundwinkel zog sich etwas Energisches. Die Gestürzte fand es erstaunlich, wie ein wenig Nachdenklichkeit das Gesicht eines Menschen in ein anderes Licht rücken konnte. Die Mutter sah nun ihrem Alter angemessen aus.
Die zeitweilige Unaufmerksamkeit der Mutter, die mit einer Verkürzung ihrer Besuche einherging, hatte auch etwas Gutes: Die Gestürzte hatte wieder mehr Zeit für sich. Die tägliche Anwesenheit der Mutter hatte dazu geführt, dass sie nur noch wenig Gelegenheit zum Träumen fand. Hinzu kamen die häufigen Visiten und das unvermittelte Hereinschneien der Schwestern. Die frühen Morgenstunden waren die einzigen, in denen sie ungestört in der Horizontalen ihren Gedanken nachhängen konnte. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, dass sie sich nicht nur nach einem Kuss sehnte, sondern selbst schamlos küssen wollte. Außerdem hatte sich die Geliebte seit geraumer Zeit verdächtig still verhalten. Das Bewusstsein der Gestürzten füllte sich nicht gleich mit ihr auf, wenn sie erwachend die Augen öffnete; erst nach ein paar Handgriffen fiel ihr ein, dass es eine Frau gab, die fern von ihr vor einem Podium stand. Doch sie ahnte auch, dass ihr Verlangen, zu küssen, unmittelbar mit jener in Verbindung stand, es Signale waren, die aus ihrem Innern kamen und aus der tiefsten Tiefe zu ihr nach oben drangen. Das große Ereignis zu beherrschen wurde damit schwieriger. Sie musste nicht nur ihr Herz überlisten, sondern auch ihr Unterbewusstsein, von dem sie nicht einmal wusste, was es gerade im Schilde führte.
Dass sich jene Frau am Pult tatsächlich in ihrem Unterbewusstsein eingenistet hatte, wurde der Gestürzten in den nächsten Tagen deutlich. Sie hatte bisher nicht verstanden, warum sie beim Hereinschneien der Schwestern stets zuerst auf deren Schuhe achtete. Keiner dieser Schuhe unterschied sich vom anderen, und ihr einheitliches Weiß machten die Füße der Schwestern wenig attraktiv. Trotzdem lief ihr beim Anblick der Schuhe jedes Mal ein Schauer über den Rücken und ihre Augen rutschten weg. Dann erkannte sie, warum sie so fühlte, und eine große Unruhe und Ohnmacht ergriff sie – ihre ferne Geliebte trug ebenfalls weißes Schuhwerk! Dieses ähnelte zwar nur sehr entfernt den zerschlissenen Latschen der Schwestern, war aber immerhin vergleichbar, was ausreichte, um bei der Gestürzten starke Wallungen hervorzurufen. Erschrocken hoffte sie, dass nicht jedes Kleidungsstück, das sie an die Frau erinnerte, ähnliche Empfindungen auslösen würde. Wie viele Menschen trugen weiße Schuhe, und noch mehr blaue Hosen, und wie viele Menschen tranken Tee aus Tassen und hielten Käsebrötchen auf ihren Tellern!
Die ferne Geliebte lieber direkt und bei klarem Bewusstsein bei sich zu haben, damit die nicht aus ihrem Unterbewusstsein Dinge nach oben sendete, die verwirrend waren, kam ihr sinnvoll vor, um die Fäden besser in der Hand zu haben. Daraufhin saß die Geliebte jeden Morgen bei ihr am Krankenhausbett. Beide unterhielten sich oft stundenlang. In einem ihrer Gespräche erfuhr die Gestürzte allerdings Dinge, von denen sie lieber nicht gehört hätte. Die Geliebte sah sie dabei sehr streng an. Sie hatte durch ihre Anwesenheit im Unterbewussten der Gestürzten einiges mitbekommen, von dem sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Es herrsche dort unten ein heilloses Durcheinander, meinte die Geliebte. Besonders waren ihr die vielen offenen Truhen voll loser Knöpfe aufgefallen; kleine abgetrennte Finger lagen überall herum, und mehrere große schlanke Männer, zu denen sie nicht Nein sagen würde, saßen in unaufgeräumten, verlassenen Ecken und hatten ihr Herz neben sich liegen. Auch glaubte sie sich auf einem Schiff befunden zu haben, denn es schaukelte dort sehr heftig und besonders nachts wurden alle kräftig geschüttelt. Sie erinnere sich auch, redete die Geliebte weiter, dass es so etwas wie einen Maschinenraum gegeben habe. Eines Tages, als ihr besonders langweilig gewesen war, da die Mutter den ganzen Tag bei ihr verbracht und sie in Beschlag genommen hatte, war sie umhergelaufen und hatte hinter einer Tür ein kräftiges rhythmisches Stampfen gehört. Als sie die schwere Eisentür öffnete, wozu sie sich ordentlich dagegenwerfen musste, hatte sie eine Überraschung erlebt. Sie sah keine großen Maschinen, vielmehr waren Stahltaue um einen Pflock gewickelt, es tropfte von der Decke und von irgendwoher trieb ein Ventilator dem Besucher Luft zu. Woher das Stampfen kam, war nicht zu klären, doch an den Tauen ließ sich bereits ein starker Verschleiß erkennen. So war ein Tau ganz und gar durchtrennt und hing schlaff an dem Pflock. Vermutlich hätten die Taue die Aufgabe, das Schiff vor einer vollkommenen Schieflage zu schützen, nahm die Geliebte an, doch sie glaubte nicht, dass derart morsche Vorrichtungen dem nächsten Sturm noch gewachsen wären. Im Übrigen ließ sich doch ein Antrieb ausmachen. Hinter einer weiteren Eisentür befand sich ein großes Zahnradgetriebe, das mühsam seine Arbeit verrichtete und unbedingt geölt werden sollte. Sie sei ja jedenfalls froh, schloss die Geliebte, dass sich nicht der Boden unter ihr aufgetan hatte, was sie kaum überrascht hätte. Darauf trat Schweigen ein und ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Gestürzte hatte sich bereits nach deren ersten Worten aufgerichtet und war leichenblass geworden. Ihr ganzes unaufgeräumtes Unterbewusstsein, mit seinen verdrängten Taten und Untaten, hatte die Geliebte auf einen Schlag zu sehen bekommen.
Die Gestürzte schüttelte sich kräftig und ermahnte sich, dass alles aus ihr selbst heraus kam; also war auch die Geliebte, die soeben zu ihr gesprochen hatte, nicht mehr als eine unechte, ganz und gar ausgedachte. Sie suchte sich einen festen Punkt, auf den sie schauen konnte, und fand ihn an der Decke. Minutenlang verharrte sie auf diese Weise, bis es ihr albern vorkam, sich vor sich selbst zu verstecken. Die unechte Geliebte hatte sie herausgefordert. Sie richtete sich im Bett auf, spielte die Unbekümmerte und gab ihrem Tonfall eine natürliche Lässigkeit, die wie folgt klang: dass sie ja schon immer mal hatte wissen wollen, was in ihrem Unterbewusstsein so alles los sei. Man selbst käme da ja schlecht heran, eigentlich nur, wenn man träume. Aber die Geliebte, als quasi frisch Aufgestiegene, könne da sicherlich Abhilfe schaffen und aus erster Hand berichten. Allerdings wisse sie natürlich, und an dieser Stelle bemerkte die Gestürzte, wie sie langsam wieder Oberwasser bekam, dass sich in ihrem Unterboden nichts Weltbewegendes abspielen könne; am liebsten sitze sie nämlich zu Hause auf dem Sofa, mache Brettspiele und sehe auch hin und wieder fern. Sie fand ihre Rede überzeugend, legte darauf bequem den Kopf zurück und wartete ab, wie die Geliebte reagieren würde. Die schwieg lange und sah der Gestürzten dann direkt in die Augen. Ihr Blick war spöttisch und kleine Flämmchen glommen darin. So hatte die Geliebte noch nie geschaut. Sie wollte nun ihrerseits wissen, wie man es zu einem solchen Unterbewusstsein bringen konnte. Ihr eigenes Leben verliefe leider in allzu ordentlichen Bahnen. Sie selbst habe ihren Unterboden zwar noch nie besucht, vermute aber, dass dort keine jungen Männer verlassen in Ecken säßen und die Räumlichkeit eher einer komplett eingerichteten Zweiraumwohnung gliche. An dieser Stelle hielt die Geliebte inne und nahm die Gestürzte fest ins Visier. Allerdings, meinte sie weiter und ihr Tonfall wurde erneut streng, solle die Gestürzte ein wenig aufpassen und den Bogen nicht überspannen. Es schwanke so ziemlich alles bei ihr, daher sei es nicht verwunderlich, dass sie nun deformiert und blass im Krankenbett liege. Was ihr fehle − dabei hob die Sprechende den Finger in die Höhe, vermied aber den Hüftschwung −, seien Struktur und Disziplin. Die Wissenschaft sei ihr nicht leichtgefallen, gestand die Geliebte, auf vieles hatte sie deshalb verzichtet, aber sie hatte immer gewusst, warum, und es hatte sich gelohnt. Ihr Mann, und jetzt holte sie doch zum Hüftschwung aus, sei kameradschaftlich, liebevoll und helfe im Haushalt. Darauf verstummte sie. Die Gestürzte hatte bei den letzten Worten nachsichtig genickt. Es war nur zu deutlich zu hören, wie gern auch die Geliebte bis Mittag im Bett gelegen hätte. Aus dieser Perspektive fand sie die Geliebte wenig vorteilhaft und schlug deshalb vor, das Thema zu wechseln. Beide unternahmen weitere kleinere Ausflüge, und die Flämmchen in den Augen der Geliebten vergrößerten sich. War sie einmal in Gang gekommen, so kam es nicht selten vor, dass sie unaufhörlich redete und die Gestürzte nur zuhörte. Dabei sprach die Geliebte in einschmeichelndem Ton, der die Gestürzte ganz besäuselte. Dies waren die glücklichsten Stunden ihres Zusammenseins. „Du bist für mich die Treppe heruntergefallen“, plauderte die Geliebte einmal mit einem gewissen Stolz, und was das Schönste sei, nach all der Flatterhaftigkeit habe sie das Große und Ganze gefunden, und die Wahl sei ausgerechnet auf sie selbst gefallen. Die Gestürzte schlug bei solchen Worten die Augen nieder und wollte abwehren. Doch die Geliebte blieb bei ihrer Meinung. Sie selbst, und dies behauptete sie immer wieder, hatte die große Liebe nicht gefunden. Die Gestürzte wollte ihr das kaum glauben. Die Geliebte blieb aber beharrlich und behauptete sogar, ihr gegenüber eine gewisse Unbeholfenheit zu spüren. Die Gestürzte wehrte ab: Sie solle sich nur locker fallen lassen, sie werde sie schon auffangen. In den Tagen ihrer gemeinsamen Plaudereien am Krankenhausbett fiel die Gestürzte mehrmals auf die Geliebte, und ihre Ausflüge endeten immer unter der Decke des Krankenhausbettes.
In dieser Zeit hatten sich oft Zuckungen im Unterleib der Gestürzten eingestellt, und ihr Blick war bei den Gesprächen mehrmals auf dem Dekolleté der Geliebten hängen geblieben und auch tiefer gerutscht, was diese als besonderes Interesse am Gesprächsthema gedeutet hatte. Mittlerweile kannte die Gestürzte alle Vorteile des Tagträumens. Sie konnte der Geliebten mitten im Gespräch den Mund zuhalten und sie kurzerhand auf das Bett werfen. Ein fester Griff und ein feuriger Kuss auf die Lippen, und die Geliebte war still und flachgelegt. Da sich aber die wahre Geliebte immer noch in gehöriger Entfernung zu ihr aufhielt, musste sie sich mit der eigenen Hand und den eigenen Schenkeln behelfen. Es bedurfte keiner besonderen Kunstgriffe der Hand mehr, um den Unterleib in Erregung zu versetzen. Nachdem die Hand im Slip gelandet war, fand sie nach kurzen Irrungen immer ihr Ziel. Besonders die obere Hälfte ihres Geschlechts konnte durch kreisende Bewegungen stark in Wallung versetzt werden. Dass die Geliebte dabei vor ihren Augen verschwamm und für kurze Zeit ins Unterbewusstsein abtauchte, nahm sie bei der angenehmen Feuchte zwischen ihren Beinen kaum wahr. Seufzend ließ sie ihren Kopf tief ins Kissen zurückfallen, während die Hand in ihren Bewegungen kräftiger und rascher wurde. Dabei geriet stets auch das Bett in Bewegung und quietschte hörbar im Rhythmus. Das wäre an sich nicht schlimm gewesen, da sich die Gestürzte allein im Zimmer aufhielt. Einmal jedoch, als sie die Geliebte gerade flachgelegt hatte und auf den Höhepunkt zusteuerte, der sich durch ein leichtes Stöhnen ankündigte, hörte sie Schritte. Jemand musste sich in ihre Nähe bewegt haben und sich neben ihr aufhalten. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen. Erregt, wie sie war, hatte sie die Gefahr einer Entdeckung unterschätzt. Da half es auch nicht mehr, die Hand sehr unauffällig und langsam aus dem Slip zu ziehen. Sie fühlte sich ertappt, öffnete blinzelnd die Augen und wünschte sich, die Schwester möge das fällige Donnerwetter möglichst schnell auf sie herablassen. Noch benommen, raffte sie sich hoch und öffnete die Augen ganz. An der Schwester war nichts Auffälliges zu bemerken. Sie nahm die Bettdecke in die Hände, schüttelte sie mehrmals kräftig und warf sie über die Kranke. Auch die Art des Wurfs unterschied sich nicht von den Vortagen. Sie hatte die Angewohnheit, das Deckbett so weit zu werfen, dass die Gestürzte ganz darunter verschwand. Trotzdem blieb sie misstrauisch und vermutete, dass die Schwester besonders ausgebufft war. Sie wusste aus Erfahrung, dass sittsame Menschen – der Schwester hing ein kleines Kreuz auf der Brust und die Haare waren streng gekämmt – ein großes Talent für Verstellung und Scheinheiligkeit besaßen. Wollte sie wieder ruhig schlafen und vor allem die Anwesenheit der Schwester ohne Scham ertragen, dann musste sie den passenden Aufhänger finden, um zu erfahren, woran sie war. Sie überlegte, auf welche Weise sie der Schwester ihre Gedanken entlocken könnte. Das quietschende Bett stellte einen unmittelbaren Bezug her und war trotzdem als Thema sehr allgemein und unverfänglich. Die Gestürzte wollte bei der Erwähnung der Worte Bett und quietschend genau auf das Gesicht der Schwester achten. Würde die erröten oder unsicher werden oder gar einen Stock herausholen, um sie zu züchtigen, dann gab es keinen Zweifel mehr: Sie war ertappt worden und musste sich für alle Zeit schämen. Sie rappelte sich hoch, brachte sich in eine stabile Sitzposition, faltete die Hände über den Bauch und begann zu sprechen. Im Prinzip fühle sie sich ganz wohl hier, erläuterte sie, nirgendwo schneie man so plötzlich herein und werfe derart präzise die Decken über die Patienten. Nur in einem Punkt mache sie sich allerdings Sorgen. Neben den Bettlägerigen und Steifen, die sich nur unter Zuhilfenahme fremder Arme und Beine bewegen konnten, gebe es auch die relativ Mobilen, deren Beweglichkeit sich schon durch häufiges Drehen und Wenden im Bett bemerkbar mache. Selbst bei großer Vorsicht ließe sich ein Quietschen dabei nicht verhindern. Das könne jedoch zu der Schlussfolgerung führen, diese Kranken befänden sich bereits auf dem Weg der Besserung und benutzten das Bett neben der Genesung noch für andere Dinge. In ihrem Fall, zum Beispiel, könne eine solche Annahme schlimme Folgen haben, da ihre Füße noch halb starr wären und sie sich nicht wohl befinde. Darauf verstummte die Gestürzte, entfaltete ihre Hände und blickte gespannt zu der Schwester. Die jedoch hatte bei keinem der entscheidenden Wörter mit der Wimper gezuckt. Erleichtert atmete sie auf und war sich nun sicher, dass die Schwester nicht einmal wusste, wie sie das Ding zwischen ihren Beinen nennen sollte. Als die Tür geschlossen wurde und die Gestürzte wieder allein war, bemerkte sie, dass sich durch den abrupten Abbruch eine Verspannung im Unterleib eingestellt hatte. Erst am späten Abend, nachdem die Hand zum zweiten Mal in den Slip gelangt war, wurde es da unten angenehm locker und selbst der noch halb verbeulte Kopf fühlte sich wohl.
Die nächsten Tage im Krankenbett vergingen rasch. In den frühen Morgenstunden, noch bevor die Mutter kam, und am Abend landete die Hand unten und bald wusste die Verliebte, wie sie auf dem kürzesten Weg zum Höhepunkt kam. Die Befriedigung stellte sich rasch ein, hielt aber nicht allzu lange vor. Nach einer Weile nahm sie einen leichten Kopfdruck sowie das Gefühl trockener und spröder Lippen wahr. Letzteres ließ sich mit einer leichten Zungenbewegung beheben, schlimmer war der Kopfdruck, der sogar am Tage, wenn die schweigsame Mutter an ihrem Bett saß, weiter anhielt. Sie ließ vorerst die Finger von sich. Die Nachdenklichkeit der Mutter hatte sich in den letzten Tagen noch vergrößert, auch wenn sie versuchte, heiter zu wirken, und mit den Beinen schlenkerte. Die Gestürzte nahm ihre Hände. Die Mutter behielt ihre Gedanken für sich und sprach stattdessen von einer großen, anstrengenden Reise, die ihr bevorstand. Die Kranke schloss die Augen. Der mütterliche Veilchen-und-Lavendel-Duft stieg ihr in die Nase. Während die Mutter redete, probierte sie einige Male das Öffnen und Schließen der Augen, und jedes Mal war die Mutter da; doch als sie die Augen gerade wieder aufschlagen wollte, traute sie ihren Ohren nicht.
„Ich muss weg“, sprach die Mutter in knappem Ton, aber entschlossen. Für die Gestürzte war es unmöglich, dass das die Worte der Mutter sein sollten! Ihre wirkliche Mutter saß noch als Engel an ihrem Bett! Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Kein Zweifel, es war die Mutter, und sie sprach von Abschied. Sie wollte den Mund öffnen und der Mutter sagen, dass ihr Verweilen am Krankenbett schon lange nicht mehr nötig sei und sie, wie immer, ungestört ihren Geschäften nachgehen soll, doch nur ein armseliges Schluchzen kam heraus, und die Mutter verschwamm hinter Tränen. Die Gestürzte vergrub den Kopf im Schoß der Mutter, die ein so hemmungsloses Weinen noch nicht bei ihr erlebt hatte. Sie hob den Kopf der Kranken an und sah ihr in die Augen. Etwas stimmte nicht mit ihr, da war sie sich sicher. Für die Mutter war der Unfall zwar nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, aber auch nicht tragisch. Sie war die Treppe heruntergefallen, nun ja, so etwas kam vor. Die Kranke las die Gedanken der Mutter deutlich in deren Augen. Das war stark, rumorte es in ihr. Den Hals hätte sie sich brechen können. Sie begann erneut zu weinen und erweichte schließlich das Herz der Mutter.
„Ja, ich bleib noch, aber nur ein paar Tage.“
Die Gestürzte hob den Kopf und der Sturm der Tränen ließ nach.
„Geh ruhig“, meinte sie großzügig und ergänzte, dass sie ja nur ein ganz klein bisschen die Treppe heruntergefallen war.
Die Mutter saß noch bis zum späten Abend das Laken der Kranken platt und versprach, am nächsten Tag wiederzukommen. Die Gestürzte war froh und hatte zugleich ein schlechtes Gewissen.
Nach ein paar Tagen ging die Mutter wirklich und versprach, nach ihrer Reise wieder am Krankenbett zu erscheinen. Daraufhin verschwand sie durch die Tür, wobei ihr Kleid von einem leichten Luftzug bewegt wurde. Die Gestürzte blickte lange auf die geschlossene Tür. Ihr gemeinsames Band hing zurzeit recht schlaff. Sie fühlte in ihrem Herzen eine Leere und eine aufsteigende Angst, die sich mit einer bedrohlichen Ahnung vermischten. Im Traum sah sie die Mutter in einer steilen Kurve mit ihrem Auto verunglückt. Die Straße war einsam und mitten in einem steinigen Wald gelegen. Es regnete stark, und ein Gewitter schickte Blitze auf die Felsen nahe der Straße. Die Mutter war halb bekleidet, über ihre blasse Haut rann Blut, und ein Arm hing leblos aus der Autotür. Sie war tot. Das Bild der toten Mutter geisterte tagelang durch ihr Gehirn. Doch schon oft, versuchte sie sich zu trösten, hatte sie Unheil geahnt und sich ausgemalt, auf welchem Wege sie davon erfahren würde. Nachher hatte sie stets zugeben müssen, dass es die Angst war, die ihr Bilder schickte, die sich noch nie bewahrheitet hatten.