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Der Sturz
ОглавлениеMit jener Frau am Pult hatte es ganz und gar nichts Besonderes auf sich. Sie war ebenso Durchschnitt und wurde genauso wenig vom Höheren bedacht wie die Verliebte. Hinzu kam gar eine Reihe wenig einladender Eigenschaften, wie zum Beispiel die Gefallsucht. Selbst an schon recht kühlen Herbsttagen trug sie Kleider mit dünnen Schulterriemchen, die viel von ihrer nicht mehr taufrischen Haut zur Ansicht brachten. Sie wurde auf tragische Weise älter, indem sie das Älterwerden wohl bemerkte, es aber nicht wahrhaben wollte. Voll Schmerz hatte auch die Verliebte das Groteske dieses Älterwerdens bemerkt. Am liebsten hätte sie die Geliebte behutsam zur Seite genommen und sie auf das Gewagte ihrer Garderobe hingewiesen, doch das war unmöglich. Als sich einmal eine Kollegin den Rat erlaubte, ihre Schulter zu bedecken, sah die Geliebte darin eine weibische Eifersüchtelei, die ihr nur bestätigte, dass sie sich in diesem Aufzug noch blicken lassen konnte.
Es lag etwas Mitleiderregendes in dieser Gefallsucht, zudem brachte das Kokettieren jener Frau einen Umgang mit dem Menschlichen hervor, der vor allem aus Scharwenzeln, Schmeicheln und Eitelkeiten bestand. Vorn am Pult zählte nicht das wissenschaftliche Wort, das war sowieso nur Nippes, Kram und sperriges Zeug, mit dem man sich abgab, um zu zeigen, dass man seinen Kopf nicht umsonst mit sich herumtrug; worauf es ankam, waren der Augenaufschlag, der Sitz der Haare, dessen Farbstoff bei ihr schon aus der Tube kam, und das Einstreuen kleiner, privater Episoden in den Lehrvortrag. Durch diese Koketterie und die freizügige Darstellung ihrer Person fühlte sich mancher Student ermutigt, nun ebenfalls aus seinem Leben zu plaudern, musste aber feststellen, dass seine intimen Vorkommnisse bei der Frau am Pult wenig beliebt waren. Der Student habe da wohl etwas falsch verstanden und sei nicht ganz im Bilde, wenn er glaube, er könne so mit ihr schwatzen. Die Betretenheit des so Zurechtgewiesenen war groß. Sie war eine Frau, die hofiert und bewundert werden wollte, aber in respektvollem Abstand. Die Verliebte ahnte von diesen bedrückenden Eigenschaften mehr, als ihr lieb war. Ein Grund dafür, dass sie bisher nicht die Nähe zu jener gesucht hatte, war eine dunkle Ahnung, nur ihrer Eitelkeit schmeicheln zu dürfen und von ihr fallen gelassen zu werden, sobald diese befriedigt war, oder, noch schlimmer, dass sie von ihr einfach mit totem Blick übersehen wurde, weil ihr das Männliche fehlte. Ihre Geliebte lebte nämlich in der guten Ordnung der Dinge, wo sich das Männliche und das Weibliche stets passend ineinanderfügten.
Die Liste derer, die eine Kostprobe ihres Scharwenzelns und bei Annäherung eine kalte Dusche erhalten hatten, war umfangreich. Trotz ihres Alters mit ihrer fehlenden Frische besaß sie noch Reizvolles. Obenherum war sie von angenehmer Fülle und Weichheit, ihr Hals, zwar etwas zu lang, war makellos und auf bewundernswerte Weise fast ohne Fältchen. Ihr Hinterteil, nicht flach und breit, sondern ansehnlich kräftig nach außen gebogen und so eine Rundung beschreibend, die sich in einer engen Hose gut sichtbar wölbte, formte ihre sonst schlanke Gestalt mit ein wenig Üppigkeit aus, die ihr gut stand und ihr etwas Verschwenderisches und Auffälliges verlieh. Ihre Motorik hingegen erinnerte an ein schutzbedürftiges Reh. Der Verliebten waren einmal Tränen der Rührung aus den Augen geflossen, und sie hatte einen wehmütigen Schmerz in der Herzgegend verspürt, als sie zusah, wie jene mit ihren schwachen Armen versucht hatte, eine verklemmte Tür aufzustemmen. Der Anblick war bezaubernd gewesen.
Als sie aus ihrem tiefen Schlaf erwachte, wurde ihre Hoffnung enttäuscht, dass sich unterdessen etwas von allein entheddert haben könnte. Ihre Stirn wurde heiß, und sie fand, dass es besser war, kurz entschlossen und tätig in Erscheinung zu treten, als weiter nachzudenken. Sie hatte die ferne Geliebte lange nicht gesehen und ihr Herz hatte deshalb schon einige Male trotzig-traurig ausgesetzt. Da sie diese Liebe wollte − zumindest gestand sie sich ein, sie ein ganz klein bisschen zu wollen und eine vorübergehende Verwirrung der Gefühlslage als gegeben und unvermeidlich zu akzeptieren –, schien es an der Zeit, die Geliebte aufzusuchen. Sie wusste nicht, was sich während ihrer Abwesenheit alles in der Hochschule ereignet hatte. So fürchtete sie, der Frau könnte etwas zugestoßen sein, gelbstichig in den Augen und nicht ganz auf der Höhe, wie sie war. Während sie sich, zum Beispiel, horizontal in ihrem Bett befand und die unechte Geliebte sich mit ihr unterhalten musste, litt die echte Geliebte in Wahrheit vielleicht große Qualen. Ihr fiel ein, wie schwer sich jene Frau mit jeder körperlichen Anstrengung tat. Ihr Büro lag erhöht und war nur durch eine steile Treppe erreichbar. Der Verliebten war es nicht entgangen, wie mühselig und heftig atmend die Geliebte die Stufen stets erklommen hatte. Und schon einmal, so erinnerte sie sich, waren ihre Vorlesungen wegen Erkrankung ausgefallen. Nie war es etwas Ernstes gewesen, das eine Mal plagte sie eine Erkältung mit Kopfschmerzen und Übelkeit, das andere Mal war es die Leber, die rebellierte. Trotzdem legte sich ihre Besorgnis nicht. Sie hatte ganz vergessen, wie wenig Zeit ihnen beiden blieb. Früher oder später würde sie allein bleiben; mochte ihr Herz noch so traurig-trotzig klopfen, die Geliebte würde davon nicht mehr zum Leben erwachen − sie war zu spät geboren oder die Geliebte zu früh. Verwirrt fiel sie in die Horizontale, rappelte sich aber gleich wieder auf und band sich die Turnschuhe zu.
Der Weg zur Hochschule wurde ihr lang, und als sie die Schule betrat, kam ihr die bekannte Atmosphäre entgegen, die trotz aller Vertrautheit nichts Vertrauliches mehr für sie besaß. In ihrer Vorstellung hatte sich die Schule in einen romantischen Ort verwandelt, an dem sie unentwegt mit der Geliebten plaudern konnte. Wo aber, fragte sie sich jetzt, sollte sie ihrem übervollen Herzen Luft machen? Etwa zwischen den Gängen da oder auf der Damentoilette? Und wie überhaupt jene Frau einzeln antreffen, ohne dass ihr jemand unverhofft in die Quere kam? Ihr Mut sank und mit ihm ihr Kopf, sodass sie die Frau am Pult nicht gleich bemerkte, die sich mit ein paar Käsebrötchen und einer Tasse Tee aus der Kantine versorgt hatte und dabei war, die beschwerliche Treppe hinaufzusteigen. Erst als sie auf den letzten Stufen und schon fast ihren Augen entschwunden war, sah sie ihre Geliebte. „Da bist du ja!“, wollte sie freudig ausrufen, besann sich aber. Jene Frau lebte tatsächlich noch und war nicht tot, sondern schritt sogar recht munter mit Käsebrötchen und Teetasse die oberste Stufe hinauf. Ein Schwall der Erleichterung trug die Verliebte in den Vorlesungssaal. Dieser war bereits gut gefüllt, und sie fand nur noch einen Platz in den mittleren Bankreihen. Neben ihr saß der Schwätzer, der die Nähe der Geliebten schon einige Male gesucht hatte. Sein Gesicht war rund und glatt, wie das eines wohlgenährten Babys, und mit seinen graugrünen Augen beobachtete er die Verliebte, die sich auf der Hochschulbank einrichtete. Sie erwiderte seinen Blick und fand, dass seine Locken hübsch herabfielen. Aber er gehörte weder zu den Stämmigen noch zu den Schlaksigen, sondern war etwas Undefinierbares dazwischen, das sie noch nie sonderlich interessiert hatte. Er sah ihr in die Augen und hielt ihr seine Hand hin.
„Ich heiße Tobias.“
„Nadja.“
Darauf schaute sie zum Podium und wartete auf den Moment, in dem ihre Geliebte erscheinen würde. Gleich würde sie kommen, Brötchen und Teetasse beiseite stellen, ihren Hefter aufschlagen und augenblicklich zu jener Frau werden, die sie so liebte. Sie fand das Leben aufregend, fast zu aufregend, denn ihr Herz hämmerte verdächtig. Nach tagelanger Sehnsucht und Versuchen des Abschüttelns, denen die Geliebte standhaft getrotzt hatte, war sie nun in greifbare Nähe gerückt. Es bedurfte nur eines Rufs zum Pult oder einer auffälligen Bewegung, wie zum Beispiel eines übermäßigen Streckens der Gliedmaßen, und schon würden sich die Augen der Geliebten auf sie richten. Sie blickte sich um und erst jetzt drang in ihr Bewusstsein vor, dass sie sich weder in der Horizontale befand noch träumte, sondern sich in der Wirklichkeit aufhielt, mit anderen Worten: im echten Leben, das sich auf Gängen und Toiletten abspielte oder gleich neben ihr, wo der Gelockte mit erwartungsvollem Blick auf das leere Podium schaute. Sie hatte sich in der Zeit ihrer Abwesenheit von den Menschen entwöhnt und betrachtet den Rummel mit weltfremden Augen. Jene Frau war zwar nicht erkrankt und stand auch nicht mit einem Bein im Grab, wie sie befürchtet hatte, es konnten aber Dinge geschehen sein, die sie träumend verschlafen hatte, Dinge also, die sich ohne ihr Zutun und ihr Wissen ereignet hatten und ganz gut ohne sie auskamen. Sie erkannte mit Erschrecken, dass sie sich nicht nur im realen Leben aufhielt, sondern dass die vergangene Wirklichkeit auch ohne sie stattgefunden hatte. Die Tatsache, dass Wirklichkeit nicht nur dort stattfand, wo sie sich gerade aufhielt, sondern ebenso da herrschte, wo sie sich gerade nicht aufhielt, löste bei ihr ein Gefühl der Verzagtheit aus. Die Welt teilte sich für sie in zwei Wirklichkeiten: In der einen lebte sie ganz allein, da gab es ihre Fantasien, ihre Wahrheiten und eine himmlische Freiheit, die sie als eine angeborene Gabe ansah; und es gab die andere Wirklichkeit, die Welt der Frau am Pult, die sie kaum kannte, von der sie aber fürchtete, dass sie unerreichbar bliebe. Ein leiser Seufzer drang aus ihrem Mund, der auch ihrem Nachbar nicht entging. Er wandte seinen Blick vom leeren Podium ab und schaute sie an. Sogleich begann er ein Gespräch, das man seiner etwas behäbigen Gestalt nicht zugetraut hätte. An sich mochte sie Menschen, die sorglos drauflos plapperten, doch nun, da sie mutlos war und mit hängendem Kopf dasaß, ging ihr das Geschwätz auf die Nerven. Aus Höflichkeit nickte sie ein paarmal, hatte aber eher Lust, ihm die Zunge herauszustrecken. Plötzlich hielt er inne. Die Tür hatte sich geöffnet, und herein trat jene Frau mit angebissenem Käsebrötchen und Teetasse. Es wurde still im Saal, und die Verliebte hob scheu ihren Kopf. Da war sie! Es durchrieselte sie kalt. Jene stellte nach einer kurzen Begrüßung die Tasse neben das Pult, schlug den Hefter auf und begann ohne Umschweife. Die ersten zehn Minuten gingen in wissenschaftlichem Ernst vorüber. Die Frau dozierte aus dem Hefter heraus, sprach schnell und übersprudelnd und verschärfte ihren Blick auf das Wissenschaftliche, indem sie die von der Nase rutschende Brille hochschob. Sie gab eine gute Figur ab, besaß Witz und Schmackes in ihren Formulierungen − bis das gefallsüchtige Weib wie ein Gewitter aus ihr herausbrach. Mit einem koketten Augenaufschlag hob sie ihren Blick, nahm die Brille ab, sodass das Wissenschaftliche vor ihr verschwamm und unleserlich wurde. Was folgte, waren Schilderungen kleinerer Begebenheiten, denen die Studentenschaft ebenso gebannt lauschte wie dem Wissenschaftlichen. Diesmal wurden, wie so oft, Ereignisse aus ihrem Eheleben zum Vortrag gebracht.
„Mein Mann“, begann sie, „ist kein sehr kameradschaftlicher Typ.“ Dabei stellte sie das eine Bein seitlich nach vorn, sodass ihr Fuß zur Ansicht kam. „Während ich“ – eine leichte Bewegung in der Hüfte – „in der Küche stehe und das Abendbrot zubereite, hält er sich bequem im Wohnzimmer auf und sieht bereits fern.“
Der Bezug zur Wissenschaft baumelte bei solchen Ausführungen ziemlich frei in der Luft; doch jene sah darin eine Veranschaulichung und Aufweichung der sonst so spröden Wissenschaft, mit der sie einem vorschnellen Ermüden der Zuhörerschaft vorzubeugen versuchte. Der Erfolg, den diese Exempel bei der Studentenschaft hatten, gab ihr Recht. Die Ohren der Zuhörer öffneten sich mehr als sonst, und nachlässige Sitzpositionen veränderten sich zu aufrechten Haltungen, wenn sie mit Hüftschwung aus ihrem Eheleben zu erzählen begann. Am Schluss musste sie dann den seidenen Faden, an dem alles hing, wieder zu einem Bogen spannen, der zur Wissenschaft zurückführte, was sie auf griffige Weise zu tun verstand. Was dieser Zeit mit der Verliebten geschah, die geradeaus zum Pult starrte und jene scharf ins Visier nahm, war eine Überraschung. Für sie hatte sich die Geliebte in ihrer Abwesenheit stark verändert, denn sie glich jener Person, mit der sie so oft bis in die Morgenstunden geplaudert hatte, kaum; eigentlich waren es nur die weißen, flachen Schuhe und die blaue Hose der Frau, die ein vertrautes Bild hervorriefen. Mit Bestürzung blickte sie auf die Dozierende, dass sie es war, die ihr Herz aus der Verkühlung geholt haben sollte. Und später, als sich jene einer weiteren Veranschaulichung der spröden Wissenschaft zuwandte, zweifelte sie gar, ob es die Geliebte überhaupt gab. Die Welt schien ihr eine einzige große Einbildung zu sein, in der es keine Wirklichkeit gab und schon gar nicht zwei davon; alles, was man sah, wie der seitlich vorangestellte Fuß der Geliebten, war nur Täuschung.
Verwirrt richtete sie den Blick auf ihre Schuhspitzen. Nur Augenblicke später jedoch schob sich ein Vorfall dazwischen, der die Verwirrte wieder auf ihre Füße stellte und, Einbildung hin oder her, ihre Alarmglocken heftig schrillen ließ. Der Schwätzer neben ihr war, als sich die Tür geöffnet hatte und jene Frau hereingetreten war, sofort verstummt und hatte seinen Hals lang ausgestreckt. Der Verliebten war das wegen ihres verzagt gesenkten Kopfes nicht gleich aufgefallen und es wäre ihr auch nie in den Sinn gekommen, dass dieser da allen Ernstes ein Auge auf ihre Geliebte geworfen hatte. Sie bemerkte es erst, als jene ihre Anschauungsbeispiele beendet hatte und ihr Blick an dem Schwätzer hängen blieb. Die beiden blickten einander in die Augen, bis der Schwätzer über beide Ohren rot wurde und verschüchtert den Kopf senkte. Für einen Moment saß die Verliebte wie vom Donner gerührt; doch der Schwätzer ließ keinen Zweifel daran, dass auch sein Herz getroffen worden war, denn sein Kopf behielt eine verstohlene Röte und sein Blick blieb gesenkt. Die Verliebte war auf eine solche Wandlung der Dinge nicht vorbereitet; es traf sie unverhofft und dafür umso heftiger. Sie war elektrisiert und schüttelte die wie vom Donner gerührten Glieder. Mit schrägem Blick sah sie zu jener am Pult hinüber, die ihre Brille putzte, und lenkte ihn dann zu dem Schwätzer, dessen Röte langsam nachließ. Zuallererst wollte sie sich ein genaues Bild von ihrem Nebenbuhler machen. Da er praktischerweise gleich neben ihr saß, konnte dies unauffällig und sofort erfolgen. Sie fing oben an und musterte seine Locken. Bei eingehender Betrachtung kamen sie ihr ein wenig zu hübsch, zu weibisch vor, wodurch sie seinem Gesicht in ihren Augen eine konturlose Weichheit verliehen. Sie blickte weiter hinab. Seine Schultern besaßen athletische Maße und bügelten damit das charakterlose und schlaffe Gesichtchen ein wenig aus, doch darunter verengte sich sein Körper plötzlich, wurde in den Hüften äußerst schmal und dürftig, als hätte man ihn durch einen zu engen Flaschenhals gezwängt, schließlich gar fiel sein Körper immer weiter ab, sodass er seine Hose nicht trug, sondern sie an ihm hing und die Verliebte sich fragte, ob er überhaupt etwas in der Hose hatte. Alles in allem fing sein Körper hoffnungsvoll an, endete dann aber mit einer glatten Enttäuschung.
Nach der Begutachtung, die sie zu dem eindeutigen Ergebnis brachte, dass der Schwätzer keine Gefahr für sie darstellen würde – denn unmöglich könnte sein pummeliges Gesicht und sein magerer Hoseninhalt ihrer hohen, schlanken Gestalt etwas entgegensetzen –, lehnte sie sich zurück und verschränkte die Arme.
Die Vorstellung, dass ein anderer ihre Geliebte ebenso begehrte, ließ ihre Fantasie erblühen, und die ihr eben noch so fragwürdige und fremde Frau wurde zu einem außergewöhnlichen Geschöpf, dessen weiß beschuhter Fuß frei zur Ansicht stand und von der Verliebten bereitwillig beschaut wurde. Erstmals träumte sie nicht mehr allein zu Hause und horizontal von der Frau, sondern in deren direkter Anwesenheit, mehr noch, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Auch die Träume selbst waren nicht mehr mit den vorhergehenden zu vergleichen. Bisher hatte sie nur mit der Geliebten geplaudert und war an ihren Lieblingsorten spazieren gegangen; das alles war harmlos gewesen und nur von dem Wunsch getragen, die ferne Geliebte möglichst dicht bei sich zu haben.
Nun jedoch, im Angesicht jener Frau, spürte sie zum ersten Mal Pikantes. Allem voran stellte sie einen Kuss, den sie den dozierenden Lippen der Geliebten zuwarf. Kurz darauf stand diese bereits unbekleidet hinter ihrem Pult. Die Verliebte ging mit langsamem, aber festem Schritt auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Sehr bedächtig neigte sie ihren Kopf, legte ihn der Geliebten auf die Schulter und verharrte eine Weile, bis sie wie eine Sterbende, die all ihre Kräften verlassen hatten, vor ihr auf die Knie sank und ihren seitlich vorangestellten nackten Fuß küsste. Die Geliebte am Pult und rührte sich nicht. Vermutlich erschauerte sie gerade. Ermutigt von ihrer duldsamen Haltung löste die Verliebte die Lippen vom Fuß der Geliebten und fuhr mit der Zungenspitze über deren Waden bis hoch zwischen die Schenkel. Hier hielt sie inne. Auf ihren Lippen fühlte sie einen stark hämmernden Pulsschlag und wusste nicht, ob er von ihr oder von ihrer Geliebten stammte. Beide schlossen die Augen und sogen den rauschhaften Moment ganz in sich ein. Die Geliebte verströmte einen angenehmen Duft zwischen ihren Schenkeln, den die Verliebte tief in sich aufnahm, um ihn als kostbare Erinnerung für immer zu bewahren. Auf ihren Lippen spürte sie indes eine zunehmende Feuchtigkeit, die nur von der Geliebten herrühren konnte, die bereits mit nach hinten geworfenem Kopf ein Bild vollkommener Hingabe bot.
An dieser schönen Stelle erwachte die Träumende abrupt und ein wohliges Stöhnen entrann ihren Lippen. Rasch war die Frau am Pult wieder bekleidet und gerade dabei, weitere Anschauungsbeispiele zur Aufweichung der spröden Wissenschaft zu geben. Die Verliebte sah sich erschrocken, mit weit geöffneten Augen auf den Hochschulbänken um. Zu ihrem Glück hatte niemand den Kuss zwischen die Schenkel jener Frau bemerkt, nicht einmal der Schwätzer neben ihr. Sie atmete erleichtert auf und versuchte, sich zu konzentrieren. Dazu setzte sie sich aufrecht hin und lauschte den Worten der Frau am Pult. Dank der Anschauungsbeispiele hatte sie schon vieles aus dem Privatleben der Frau erfahren und schon einige Male versucht, sich ein Bild davon zu machen. In ihrer Vorstellung wollte sie jene nicht als tätige Hausfrau und leidendes Eheweib sehen, und erst recht nicht gehörte sie allabendlich vor den Fernsehapparat. Ihre Geliebte war gebildet, einfallsreich, witzig und rundum ein Mensch, der seine privatesten Stunden nur auf besondere Weise verbringen konnte. Allerdings hegte sie schon längst den Verdacht, dass es mit dem Wind, den die Geliebte um sich machte, in Wirklichkeit nicht viel auf sich hatte. Und in der Tat war jene Frau am Pult in die Welt, die sie repräsentierte, nicht durch hervorragende Geisteskraft gekommen, sondern hatte all ihre Kräfte zusammennehmen, Fleiß, Ehrgeiz und Verbissenheit ständig parat haben müssen, um schließlich als kleiner Stern am akademischen Himmel glänzen zu können. Die Verliebte störte so viel Gewöhnlichkeit nicht, vielmehr wunderte sie sich, warum jene Frau, die so viel tat, um geistreich zu erscheinen, durch ihre Anschauungsbeispiele die gute Tarnung auf derart läppische Weise verspielte. Die Verliebte fand, dass sie mit ihrem Hintern genau das wieder einriss, was sie sich mühevoll aufgebaut hatte.
Erneut richtete sie einen sehr freien Blick auf das Podium, der lange an den Lippen der Frau verweilte. Nichts war ihr mehr zweifelhaft. Jene war schön. Die Kleidungsstücke lösten sich erneut von der Geliebten und ihre Zunge geriet zwischen deren Schenkel, wobei sich ein heftiges Ziehen im Unterleib der Verliebten einstellte. Ihre Liebe, die sie rein vor sich hergetragen hatte, war ein Stück tiefer gerutscht. Sie hatte so etwas geahnt, als sie das erste Mal träumerisch die Augen geschlossen hatte. Der einmal in den Gang gekommene Unterleib ließ sich nicht einfach beruhigen. Sie legte ihre Stirn auf die Tischplatte und schaute zu ihren Füßen hinab. Das Zwicken und Zwacken in ihrem Inneren verstärkte sich, und etwas zog sich krampfhaft zusammen. Sie drückte ihre Arme gegen den Leib, presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch ein leichtes Zucken verspürte und eine Entspannung eintrat, die ihre untere Hälfte leicht und schwerelos machte. Der kurze Sturm hatte sich gelegt. Trotz der signalisierten Entwarnung behielt sie die Stirn auf der Tischplatte und schaute erst auf, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Der Schwätzer hatte seine Augen auf sie gerichtet. Ihre ungewöhnliche Sitzhaltung − Stirn auf Tischplatte − veranlasste ihn, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, auch fand er, dass sie recht blass und mitgenommen aussah. Berührt von so viel Freundlichkeit − schon lange hatte sich niemand mehr nach ihrer Gesundheit erkundigt −, wurde sie weich und gab bereitwillig Auskunft. Sie erzählte von ihrem monatlichen Leiden, das sie dieses Mal besonders stark heimsuche und ihr ein heftiges Ziehen im Unterleib beschere. Der Schwätzer nickte teilnahmsvoll und begann von einer Freundin zu erzählen, die durch ihre starken Blutungen ganz anämisch geworden sei. Das Geplapper drang wohltuend an ihre Ohren und lenkte sie von ihren unangenehmen Empfindungen ab. Sie fand auch, dass seine Locken frisch auf seine Schultern herabfielen. Sehr lange hätte sie dem Geplapper noch zuhören können, vor allem erfahren wollen, was aus ihm und seiner anämischen Freundin geworden war, doch beide spürten einen Blick auf sich gerichtet, der vom Podium kam. Dort stand jene Frau und tippte mit dem seitlich vorangestellten Fuß verärgert auf den Boden. Ihre dozierende Stimme war verstummt, sodass eine ungewohnte Stille im Saal herrschte und alle Köpfe sich den beiden zuwandten. Sie erröteten gleichzeitig, doch nicht wegen der sich vorstreckenden Köpfe, sondern weil es ihr Blick war, der sich abwechselnd in beide Augenpaare bohrte. Die Verliebte erschauerte. Es war wirklich jene am Pult, die sie da anschaute, und es bedurfte tatsächlich nur einer auffälligen Bewegung, wie das Strecken der Glieder oder Geplapper, und schon richteten sich die Augen der Frau auf sie.
Sie kannte diese gelbstichigen Augen und hatte manchmal, wenn sie dahinschmelzend allein im Bett lag, das Gefühl gehabt, dass die Augen jener Frau am Pult die Fähigkeit besaßen, über die Entfernung hinweg zu ihr zu dringen und auf wundersame Weise das Übermaß ihrer Gefühle zu erahnen. Deshalb sahen die Augen ihrer Geliebten nicht nur, sondern sie erkannten. Die Verliebte war sich sicher, dass die Frau am Pult ihre horizontal verbrachten Stunden sah, ihre Grübeleien, das vor Sehnsucht trotzig aussetzende Herz, ihre durchplauderten Nächte, und auch von der Begierde wusste, die gerade über sie gekommen war. Zu ihrer Enttäuschung jedoch ließ jene nur einen strengen Blick auf ihr ruhen, einen durch und durch pädagogischen Blick, der nur zum Schluss mit einer kleinen Nachdenklichkeit endete, die darin bestand, dass sie versuchte, sich an den Namen der Studentin zu erinnern. Erst als sie sich abwandte und den Blick auf die Wissenschaft mit ihren Brillengläsern verschärfte, dämmerte es in ihrem Hinterkopf, dass sie dazu nur an etwas Russisches denken musste.
Sobald die Frau am Pult mit der Wissenschaft fortfuhr, wandte sich auch die studentische Zuhörerschaft wieder dem Podium zu. Die Geliebte unternahm in dieser Vorlesung noch einen letzten Ausflug in ihre häusliche Alltäglichkeit, für den die Verliebte aber kein Ohr mehr hatte. Nachdem sie der Musterung der Frau standgehalten hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie bemerkte ihren Irrtum: Jene war ahnungslos. Übergangslos hatte sie ihren strengen Blick der Wissenschaft zugewandt und war sogar mit Schmackes und Wortwitz zu ihrer Hochform zurückgekehrt. Vergeblich hatte die Verliebte nach einer Verwirrung, einem Erröten oder wenigstens nach einem leicht-nervösen Augenaufschlag gesucht, als sich ihre Blicke getroffen hatten. Prüfend schaute sie zu dem Schwätzer hinüber. Er hatte nach dem Blickkontakt mit jener seinen Füller aufgeschraubt und vermerkte die Worte, die von deren Lippen kamen, in seinem Hefter. Auf seinem Gesicht lag noch eine leichte Röte, aber seine Körperhaltung zeigte Entspannung und Zufriedenheit bis zu den Wollstrümpfen. Sie vermutete, dass das Aug-in-Aug mit jener bei ihm einen gegenteiligen Verlauf genommen haben musste. Vielleicht hatten sich die beiden sogar zugezwinkert, und nach diesem Abenteuer saß er nun locker im Stuhl. Demnach hatte der strenge Blick allein ihr gegolten, und für sie blieb nur die Pädagogik.
Schmerzlich fiel ihr ein, dass sie das Allerwichtigste an ihm schlicht übersehen hatte. Sein Körper verengte sich zwar, als wäre er durch einen zu dünnen Flaschenhals gezogen worden, und die Hose hing an ihm, als wäre nichts darin, aber er besaß das Männliche, sodass seine Hose bei aller Dürftigkeit doch das zu bieten hatte, was jene bevorzugte. Vor ihren Augen begann es zu flimmern und ein Wort bewegte sich vor ihr her, das ihr sehr gefiel. Um das Wort ganz auskosten zu können, wiederholte sie es im Geiste mehrmals. „Schleimscheißer. Du bist ein Schleimscheißer.“ Danach war ihr wohler. Mitten in ihre Erleichterung hinein beendete jene Frau am Pult ihre Vorlesung. Der Schwätzer neben ihr schraubte seinen Füller zu, und die Frau vorn schloss den Hefter und nahm die rutschende Brille von der Nase. Augenblicke später, die Verliebte hatte sich noch nicht von der Hochschulbank erhoben, lenkte der Schwätzer seinen Schritt zum Podium hin, wo die Frau gerade den letzten Bissen des hart gewordenen Käsebrötchens aß. Der Schwätzer verstand es, sofort ein Gespräch anzuknüpfen. Jene ließ sich willig von seinen Worten besäuseln und legte nur hier und da zwischen Kauen und Schlucken ein Wörtchen ein. Der Schleimscheißer könne nur Zeug reden, vermutete die Verliebte, etwas, das sie der Geliebten nie anbieten würde, sicherlich Studentenkram, Quatsch also, sodass man sich fragen musste, warum ihre Geliebte da überhaupt zuhörte. Sie wollte aufstehen und dem Schwätzer in die Parade fahren, als sich zwei Trinen mit rot gefärbten Zöpfen und gepufften, langen Leinenhosen der Geliebten näherten. Die beiden belegten jene in sorgloser Unverfrorenheit mit Beschlag, worauf selbst der Schwätzer verstummte. Die Verliebte beobachtete den Vorgang voller Freude. Der Schwätzer erholte sich indes rasch von seiner Verstummung und begann mit einer der Trinen zu plaudern, während die Geliebte die andere mit wissenschaftlichen Vokabeln unterhielt. Aus der Entfernung verstand die Verliebte nur einiges, bekam aber mit, dass die vier in einen Disput gerieten.
Als sich das Quartett zum Ausgang begab, blieb sie sitzen. Es wurde still im Saal und ihr klopfendes Herz, das in der Gegenwart jener Frau in ein starkes Hämmern gefallen war, fand bald seinen gewohnten Schlag wieder. Ruhig schöpfte sie Atem und schaute auf die verlassenen Bänke. Die Wirklichkeit, die vor kurzem noch um sie herum stattgefunden hatte, hielt sich nun in anderen Gegenden auf; sie war irgendwo da draußen, von wo noch einige Laute zu ihr drangen. Die Verliebte war froh, mit sich allein zu sein. Die wenigen Stunden in der Nähe der Frau hatten ihr zugesetzt. Ihr Kopf begann zu schmerzen, und obwohl das Herz wieder ordentlich schlug, bekam sie Augenflimmern, und unter ihren Füßen schwankte es. Sie merkte noch, wie sie wegsank, aber den harten Aufprall ihrer Stirn auf der Tischplatte spürte sie nicht mehr. Eine Ohnmacht hatte sie heimgesucht, die die äußere Wirklichkeit ausblendete. Ihr Bewusstsein verflüchtigte sich, sodass ihre eigene stattfindende Realität nicht mehr als das Nichts war. Ihr Dasein begann sich in eine Dimension zu erstrecken, die tief nach unten in ihr Inneres führte. Nach dem Fall versank die Verliebte in einen tiefen Schlaf, von dem sie erst Stunden später wieder erwachte.
Sie hob die Stirn von der Tischplatte und rieb sich die wunde Stelle, die der Aufprall hinterlassen hatte. Verwundert blickte sie um sich und nahm ihre Anwesenheit auf der Hochschulbank wahr. Das aus dem Nichts wiedergewonnene Bewusstsein arbeitete noch unklar und lag noch neben Raum und Zeit. Dann erinnerte sie sich an ihren Namen, und gleich darauf kam ihr der Zustand ihres Herzens zu Bewusstsein, mit allen seinen dazugehörigen Verwicklungen. Sie fühlte sich einem leeren Gefäß ähnlich, das sich nur mit der Geliebten füllen durfte. Sie, die Geliebte, schien zu ihrem eigentlichen Ich zu werden, denn nicht anders konnte sie es sich erklären, dass sich ihr Bewusstsein, das sich gerade aus dem Nichts erhoben hatte, so rasch mit der Geliebten auffüllen konnte. Sie erkannte, wie es um sie stand, erhob sich und trat auf den Gang hinaus, auf dem sich aber nicht die vermutete Wirklichkeit einstellte. Sie war auch hier allein, und kein Laut drang an ihr Ohr. Das studentische Leben hatte sich während ihres Schlafs verflüchtigt. Ratlos und mit einem Anflug hysterischer Verzweiflung machte sie sich klar, dass auch jene Frau sich verflüchtigt haben musste und vermutlich schon auf dem heimischen Sofa saß. Sie rannte den Gang entlang und wünschte sich, irgendetwas möge ihre Geliebte davon abgehalten haben, nach Hause zu gehen. Als sie vor dem Ausgang angelangte, schaute auf die große Uhr, die über der Tür hing. Es war bereits acht Uhr abends. Die Verliebte hatte mehr als fünf Stunden geschlafen. Die Wirkung war niederschmetternd. Die Frau konnte nicht mehr da sein. Mutlos trottete sie die leeren Gänge entlang. Nichts würde sie mehr haben als ihre eigene Wirklichkeit. Aber wozu? Wozu sollte sie nach Hause gehen, sich hinsetzen oder hinlegen? Nichts gab es wirklich, höchstens sie selbst. Sie blieb vor einem Fenster stehen und blickte hinaus. Der Himmel zeigte sich spätherbstlich. „Du“, sprach sie, „du ziehst vorbei, und ich?“ Der Himmel antwortete ihr auf eine Weise, wie sie nur die Verliebte verstehen konnte. Denn als sie das „und ich“ aussprach, war es ihr, als träfe sie ein Strahl zwischen die Augen. Sie senkte schmerzvoll geblendet den Blick. Als sie wieder aufschaute, sah sie nichts mehr. Kein Strahl, kein Glanz, nur ein herbstlicher Sternenhimmel, der sich wenig um sie kümmerte. Für sie aber war etwas Besonderes geschehen, ein himmlisches Zwinkern hatte stattgefunden, das nur ihr galt. Die lebensechte Geliebte war nicht einfach nach Hause gegangen, eben das sagte ihr doch der Himmel. Kurz darauf kamen ihr allerdings Zweifel, ob der Himmel das meinte, was sie verstand. Denn wenn alles eine Bestimmung hatte − so begriff sie das himmlische Zwinkern − , musste jene Frau, berührt von einer übermächtigen Gewalt, noch an der Hochschule sein und darauf warten, dass sich endlich jener Moment einstellen würde, für den sie vorgesehen war. Würde sie jedoch die Geliebte heute nicht mehr finden, wäre diese einfach ahnungslos und hätte, die Verliebte vergessend, bereits auf dem Sofa Platz genommen, dann war alles ein Chaos, und es stand fest, dass es nichts Schicksalhaftes und Bedeutsames gab. Sie fühlte einen großen, erhabenen Moment. So sehr sie sich auch schüttelte, sich mit ihren Füßen auf die Erde stellte, sich zur Nüchternheit zwang, wurde sie doch von einem unwiderstehlichen Drang gepackt, es mit allen Verrücktheiten der Welt aufzunehmen; selbst vor dem Abwegigen und Lächerlichen wollte sie keine Angst mehr haben und erst wieder vernünftig sein, wenn sie ganz sicher war, dass es nichts Himmlisches und Absurdes gab. Denn ihr Leben in Logik, Wahrheit und Ordnung zu verbringen und den Regeln der Welt folgen, obwohl es auf der anderen Seite eine Wahrheit gab, die ganz unlogisch und irrational war, hätte sie sich nie verziehen. Für sie war klar: Sollte es eine Welt jenseits des Rationalen und Realen geben, musste sie sich ihr stellen und dem großen, unerklärlichen Phänomen zeigen, dass sie an sie glaubte.
Sofort machte sich die Verliebte auf die Suche nach der Geliebten. Die Schule hatte neben dem Hauptausgang noch drei weitere, kleinere Ausgänge, durch die die Geliebte jederzeit entschlüpfen konnte. Zudem lagen die Türen in einer Entfernung zueinander, die die Verliebte erst würde überbrücken müssen, sodass die Frau durch eine der verbliebenen Türen verschwinden konnte. Dass ihr jene doch noch entwischen würde, war wahrscheinlich und auch wieder nicht; denn sollte sie das Zwinkern des Himmels richtig verstanden haben, brauchte sie sich nur an eine beliebige Stelle zu begeben, wie zum Beispiel den Kaffeeautomaten vor der Glastür, und ihre Geliebte musste wohl oder übel, schicksalhaft und himmlisch geleitet, die Glastür öffnen. Sie fand, dass ihr Plan Raffinesse besaß, damit würde sie das himmlische Zwinkern auf die Probe stellen und wüsste auch gleich, ob man an höherer Stelle ein Auge auf sie geworfen hatte. Der Platz am Kaffeeautomaten kam ihr zwar für ein Vorhaben, das romantisch und bedeutsam werden sollte, wenig passend vor, doch verband sie mit ihm die Erinnerung an ihr erstes unvermutetes Treffen, das ihr jetzt wie eine Probe für den anstehenden großen Auftritt vorkam. Die Verliebte lehnte sich, nachdem sie ihre Tasche neben den Automaten gestellt hatte, mit der Schulter dagegen und wartete. Durch das milchige Glas würde sie das Herannahen einer Person bereits auf mehrere Meter Entfernung bemerken, sodass sich nichts plötzlich ereignen konnte, wie an jenem Morgen. Zugleich hoffte sie, dass die zwei Wirklichkeiten, die ihre und die jener Frau, sich bald zu einer einzigen zusammenfügen würden, damit sie Hand in Hand mit der Geliebten darin spazieren gehen könnte. Es verging jedoch eine Stunde, ohne dass etwas geschah. Der Blick der Verliebten blieb während dieser Zeit unverwandt auf die kleine weiße Klinke der Glastür gerichtet. Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie den kommenden Auftritt noch einmal im Geiste durchging. Vor allem der Anfang war wichtig, ermahnte sie sich. Sie musste schnell erfassen, inwieweit die Frau selbst um den bedeutsamen Moment wusste. War dies der Fall, brauchte sie nichts weiter zu erklären, vielleicht nahm jene sogar von ganz allein ihre Hand und führte sie durch eine neue stattfindende Wirklichkeit. Wusste die Frau aber nichts und hatte Teetasse und Käsebrötchen mit dabei, so musste sie einen Schritt auf die Frau zu machen, sich ihr in den Weg stellen und die Worte sagen, die ihr jetzt noch nicht einfielen. Bei diesen Gedanken fing ihre angelehnte Schulter zu schmerzen an, und der starre Blick auf die Türklinke ermüdete ihre Augen.
Gegen die aufkommende Müdigkeit nahm sie sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten. Während sie trank, fiel Dunkelheit in die Gänge der Hochschule. Das akademische Leben hatte sich nach acht Uhr abends in den Südflügel zurückgezogen, wo es sich bald gänzlich zerstreute. Das Licht wurde ausgeschaltet, und die Verliebte stand im Dunkel. Der Mond zeigte sich am Himmel, und es war ein sehr kleiner Mond. Sein Licht war weder glänzend, noch zwinkerte er, und die Verliebte konnte selbst bei wachsamstem Blick durch das milchige Glas der Tür nichts mehr erkennen. Sie suchte einen Schalter und musste dafür die Tür unbeaufsichtigt lassen. Vorsichtig tastete sie sich nach vorn. Die bei Tageslicht ohnehin schummrigen Gänge waren finster, und zu ihrer Enttäuschung befanden sich dort keine eigenen Schalter. Ihre Augen gewöhnten sich kaum an die Dunkelheit, und sie hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Mit einem Mal verlor sie völlig die Orientierung und glaubte, vor einer Treppe zu stehen, was ihr aber später, als sie glaubte, vor keiner Treppe zu stehen, zum Verhängnis wurde. Sie verlor den Halt, als ihr Fuß nicht wie erwartet den Boden erreichte. Der Sturz erfolgte von der großen Marmorhaupttreppe, die bis auf wenige Meter an den Eingang heranreichte. Sie fiel halsbrecherisch. Mehrere Male stieß sie sich den Hinterkopf, stauchte sich die Glieder und kam erst kurz vor Ende der Treppe mit einem Kinnaufschlag auf dem kalten Marmorboden zum Stillstand. Einen Augenblick lang blieb sie regungslos und ihr Bewusstsein wäre beinahe wieder ins Nichts gefallen. Langsam begriff sie, was geschehen war: dass sie den Halt verloren hatte und gestürzt war, von dort oben die Treppe hinunter, und deshalb hier lag. Sie untersuchte ihre Glieder. Knie und Beine schmerzten und ihre Fußgelenke blieben unbeweglich. Auf allen vieren kroch sie um zu einer blickgeschützten Ecke, um ihren Körper weiter in Augenschein zu nehmen. Das wenige Licht, das vom Fenster ins Innere drang, genügte, um ihren Körper betrachten zu können. Ihr erster Blick galt den starren Füßen. Sie steckten noch in ihren Schuhen und trugen die Strümpfe, die sie sich am Morgen übergezogen hatte. Die einzige Auffälligkeit an ihnen war ihre ungewöhnliche Stellung zueinander. Sie hoffte zu träumen, schloss die Augen, doch die Wirklichkeit, die stattfand, verschwand nicht.
Tränen kamen ihr in die Augen und tropften auf die Hose. Sie schleifte sich weiter und landete in einem kaum sichtbaren Winkel. Erleichtert, sich selbst aus dem Weg geräumt zu haben, zog sie sich hoch, lehnte ihren Rücken gegen die Wand und berührte ihr aufgeschlagenes Kinn; das Grübchen, das sich dort befand, war durch Abschürfungen unkenntlich geworden. Hinzu kamen zwei Wunden, eine saß in der Nähe der Augenbraue und die andere am Hinterkopf. An ihrem Körper hatte neben den Füßen besonders das linke Handgelenk gelitten. Es war ebenfalls unbeweglich und schmerzte beträchtlich. Der Schmerz an Schienbeinen und Kniegelenken ließ rasch nach, dafür begann es, in ihrem lädierten Kopf zu hämmern und Übelkeit stieg in ihr auf. Anfangs sah sie darin eine ganz natürliche Erscheinung, denn sie hatte seit den Morgenstunden nur starken Kaffee aus dem Automaten getrunken. Wenig später aber ließ die Stärke des Brechreizes vermuten, dass dieser mit ihrem Kopf und den sichtbar werdenden Hörnern zusammenhing. Der Sturz von der Treppe hatte die sonst gut geschützte graue Masse in Vibration versetzt. Außerdem zeichnete sich unterhalb der Treppe ein roter Fleck ab, den ihr Kinn verursacht hatte. Sie dachte an das nachtschwarze Firmament und beschloss, dem Himmel nicht mehr zu trauen. Danach schlief sie ein. Ihr Körper zuckte, als wäre er mit kleinen elektrischen Leitungen verdrahtet. Der Schlaf dauerte einige Stunden, ein unruhiger Schlaf, der manchmal nur ein leichtes Dämmern war. In einem solchen Moment fühlte sie, wie ein Regenflur aus den Wolken auf sie niederging. Unter ihren Füßen wurde der Boden weich, und Himmel und Erde vereinten sich zu einer wässrigen blauen Kugel, auf der sie den Halt verlor und im Schimmer der Masse verschwand.
Sie erwachte davon, dass die große Haupttür geöffnet wurde. Schritte waren zu hören, danach das Schließen einer Tür, und kurz darauf erklang leise Radiomusik. Ihren Kopf aus dem Winkel reckend, begriff allmählich, dass sie diese Nacht überlebt hatte. Zugleich schossen ihr erneut Tränen in die Augen, da ihr Erwachen nicht in einem behaglichen Bett stattfand, wie sie insgeheim noch gehofft hatte. Für Sekunden saß sie regungslos, bis sie heftig zusammenfuhr. Die Haupttür war krachend ins Schloss gefallen und ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich in der realen Wirklichkeit befand. Dem Ersten, der sie entdeckte, wollte sie eine glaubhafte Geschichte erzählen. Jene verschwundene Frau am Pult durfte darin nicht vorkommen und erst recht nicht, dass sie stundenlang auf eine kleine weiße Türklinke gestarrt hatte. Sie dachte nach, denn die Geschichte sollte plausibel und schlicht sein; etwa in der Art, dass sie beim Blättern in den Büchern die Zeit aus den Augen verloren hatte, dann − während sie den Ausgang suchte − das Licht erloschen war, sodass sie die Orientierung verlor und stürzte. Bis auf den Anfang stimmte die Geschichte sogar. Plötzlich zuckte es in ihren Füßen. Besonders der linke schnellte mehrmals in die Höhe und beruhigte sich erst, als sie ihn festhielt. Ängstlich drückte sie sich an die Wand und schaute mit prüfendem Blick auf die ungelenkig zueinanderstehenden Füße. Von irgendwoher, dachte sie, mussten ihre Füße bewegt worden sein. Sie versuchte es selbst, aber nichts geschah, die Füße blieben starr. Nun tropfte es aus ihren Augen nicht nur, vielmehr bildete sich ein Rinnsal, das ihre Brust benetzte. Es war das Weinen einer Enttäuschten. Sie war gestürzt und hatte nirgendwo das Seil gefunden, von dem sie immer geglaubt hatte, dass es im Notfall schon irgendwo hängen würde. Und sie begriff: Auch wenn sie ihrem Leben und den Ereignissen darin keine besondere Bedeutung mehr geben und alles Höhere zukünftig meiden wollte, verhielten sich die Dinge des Daseins deshalb noch lange nicht schmerzfrei und still, und selbst die Bedeutungslosigkeit konnte in höchster Erregung heftig schmerzen, manchmal gerade deshalb, weil man den Sinn am Ende doch vermisste.
Sie fasste sich an den schwindelnden Kopf und ihr linker Fuß zuckte abermals, was die Verliebte aber kaum noch bemerkte, da sie kurzzeitig wieder in einen leichten Schlaf fiel, in dem sie zu träumen begann. Das angeschlagene Hirn schickte ihr Bilder, die zapplig und diffus waren, und erst allmählich legte sich die Konfusion und sie erkannte sehr deutlich ein Gesicht. Das Augenpaar gehörte jener Person, an deren Brust sie sich noch als Vierzehnjährige geschmiegt hatte. Im Traum sah sie die Mutter auf einem Stuhl sitzen. Sie wippte mit ihren schlanken Beinen und erzählte mit samtiger Stimme die herrlichsten Geschichten: Venedig kam darin vor, das Meer mit seinen Wellen, auf denen man gleiten konnte, ein Mann, der der schönste war, und der Mond. Die Träumende befand sich abseits und hörte den Worten der Mutter unruhig zu. Dabei spürte sie, wie ihr Kopf hochrot anschwoll, größer und größer wurde und befürchten ließ, dass er gleich platzen würde. Die Mutter hingegen schien die Veränderungen am Kopf ihres Kindes nicht zu bemerken, denn sie sprach im Plauderton weiter, von ihren großen Reisen durch die Welt und von einem Leben, das einem hübsch verpackten Geschenk glich. Kurz darauf sah sich die Träumende vor dem Briefkasten der Mutter stehend. In der geballten Faust hielt sie ihren kleinen Finger, den sie sich selbst abgetrennt hatte. Sie öffnete die Hand, griff in die Tasche, holte ein Tuch hervor, wickelte den abgetrennten Finger sorgfältig darin ein und warf ihn der Mutter in den Briefkasten.
Als sie erwachte, vergaß sie den Traum. Zurück blieb die Empfindung, soeben etwas Unangenehmes erlebt zu haben. Ihre Schmerzen wurden stärker, und ihr Mund glich einer Wüste, die nur vom salzigen Geschmack der Tränen befeuchtet wurde. Sie wischte sich über die Augen und wollte, dass man sie endlich fand. Dafür musste sie sich bemerkbar machen, etwa mit einem Ruf oder einem kurzen, kräftigen Pfiff. Sie entschied sich für den Ruf. Anfangs war nur ein Krächzen zu hören, danach sehr laut ein Ruf, der bis ans Pförtnerhäuschen drang. Es geschah jedoch nichts, sie hörte keine Schritte, und keine Hand legte sich beruhigend auf ihre Schulter. Ihre Gedanken wanderten erneut zur Mutter. Früher, wenn sie krank war oder nicht einschlafen konnte, hatte sich die Mutter nahe an ihr Bett gesetzt und wunderbare Geschichten erzählt, die sie allesamt selbst erlebt hatte. Auch heute noch glaubte sie der Mutter fast alle ihre abenteuerlichen Erlebnisse und hätte sich gern an ihre Brust geschmiegt. Dabei erinnerte sie sich an einen Vorfall aus ihrer Kindheit: Sie war vom Rodelberg des Kindergartens, der sich gleich hinter dem Haus befand, kopfüber in den verharschten Schnee gestürzt, war mit dem Kinn aufgeschlagen und hatte ihre ersten drei Milchzähne verloren. Das Blut floss in den weißen Schnee, was die Gestürzte in völlige Panik versetzte. Augenblicke später, nachdem die herbeieilenden Erzieherinnen vergeblich versucht hatten, die Schreiende zu beruhigen, trat die Mutter aus der Hintertür des Hauses und bewegte sich in Richtung Rodelberg. Sie schien urplötzlich aus dem Boden gewachsen zu sein, schritt geradewegs auf ihr schreiendes Kind zu, hob es wortlos auf, nahm es in den Arm und entschwand wieder durch die Tür des Hauses, wobei ihr Kleid von einem leichten Luftzug bewegt wurde. Die Schreiende wunderte sich im Gegensatz zu den Erzieherinnen nicht, woher die Mutter so plötzlich gekommen war; ihr erschien es selbstverständlich, dass die Mutter, den Unfall ihres Kindes ahnend, herbeigeeilt oder, besser noch, bereits vor dem Sturz in Unruhe zu ihr aufgebrochen war. Das Märchenhafte dieses Vorfalls nahm in ihren Augen, je öfter sie später daran dachte, an Bedeutsamkeit zu. Er bewies ihr, dass die Mutter nicht flunkerte, wenn sie davon sprach, sie werde immer auf sie aufpassen. Seitdem gab es in ihrem Leben etwas Märchenhaftes und Wundervolles. Als sie jetzt daran dachte, ergriff sie ein warmes Gefühl für die Mutter, und sie war wieder überzeugt, dass irgendwo ein Seil hing, das sie auffangen und sichern würde.
Erneut öffnete sich die Haupttür mit einem leichten Knarren und fiel mit einem lauten Knall ins Schloss zurück. Die Verliebte schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie hörte Schritte, die über den Marmorfußboden in Richtung Haupttreppe gingen und davor abrupt stoppten. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihr erst sonderbar erschien, im nächsten Moment aber plausibel: Die Mutter, die zum Rodelberg geeilt war, vorausschauend, wenn nicht gar vom Himmel selbst gelenkt, musste auch jetzt gespürt haben, dass ihr Kind verletzt war, in einem toten Winkel saß und ihre Hilfe brauchte. Sie wollte die Mutter mit einem lauten Ruf begrüßen, dann jedoch wurde ihr bewusst, dass derjenige, den sie gehört hatte, auffallend leise über den Marmorfußboden gegangen war. Dieses Geräusch konnte nur von einem sehr sportlichen Schuh verursacht worden sein, während sich die Mutter stets klappernd in hochhackigen Schuhen fortbewegte. Und noch eins ließ sie still verharren: Die Mutter hätte nicht den Weg zur Haupttreppe gewählt, sondern wäre gleich nach dem Eintreten abgebogen und zu ihrem Unterschlupf geeilt. Dennoch war sie neugierig geworden, wer da gekommen war, und reckte den Kopf weit nach draußen. Der Eingetretene hatte den Blutfleck unterhalb der Haupttreppe bereits bemerkt. Sie streckte ihren Kopf noch weiter vor, um genau zu sehen, wer da zusammen mit dem Pförtner vor ihrem Blutfleck stand. Als sie ihn erkannte, beschlich sie die unheimliche Ahnung, dass es doch eine höhere, strafende Gerechtigkeit geben könnte. Denn vor dem Fleck stand kein anderer als der Schleimscheißer und tippte mit der Fußspitze auf das getrocknete Blut am Ende der Marmortreppe. Bei der großen Anzahl von Studenten an der Hochschule kam es ihr unwahrscheinlich vor, dass er rein zufällig aufgetaucht war. Er musste, ebenso wie die Mutter, aus dem Boden herausgewachsen sein, aber nicht, weil er liebte.
Der Pförtner war in der Zwischenzeit mit einem Lappen herbeigeeilt und wischte den Blutfleck weg, während der Schwätzer danebenstand und mit nachdenklichem Blick zu Boden schaute. Unbehagen beschlich sie. Da wischte man ihr Blut weg, als wäre damit alles erledigt! Sie setzte noch einmal ihre Stimmbänder in Schwingung, und bis zur Haupttreppe wurde ein „Hilfe“ hörbar. Der Schwätzer und der Pförtner blickten sich suchend um. Der Hilferuf hatte sich ein wenig zwischen den Säulen verfangen und hallte zudem, sodass er gleich von mehreren Seiten zu kommen schien. Sie hob den Arm, winkte und rief: „Hierher! Hierher!“
Der Schwätzer entdeckte sie als Erster und stieß den Pförtner an. Beide sahen den Kopf der Verliebten aus dem Winkel hervorlugen. Sofort eilten sie zu ihr, blieben aber unvermittelt stehen, als sie den verbeulten Kopf der Verliebten sahen. Der Schwätzer überwand sich und sprach sie an, wobei er seine Worte deutlich formte, als hätte er eine Schwerhörige vor sich:
„Was ist passiert?“
Sogleich bereute sie ihr „Hierher! Hierher!“ und wäre lieber allein in diesem Winkel gestorben. Jetzt hatte sie den Schwätzer herbeigewinkt, der sie mitleidig anblickte und ihr den Puls fühlte. Ihr Schweigen beunruhigte die Helfer. Der Pförtner riet, sich weiter mit ihr zu unterhalten, während er nach einem Krankenwagen telefonierte. Sie schloss die Augen − das Geschwätz des Schwätzers. Als sie einen kleinen Klaps auf der Wange spürte, öffnete sie die Augen wieder. Der Schwätzer hatte sich neben ihr hingehockt und saß halb in ihrem Winkel. Er sprach kein Wort, sondern sah sie von der Seite an und senkte den Kopf. Diese Schweigsamkeit verwunderte sie. Vielleicht sah er in ihr nicht nur eine Verunglückte, sondern das Unglück überhaupt, vermutete sie. Ganz ohne Glück musste sie eines Tages stolpern und konnte noch dankbar sein, wenn sie sich bei ihrem Pech nicht gleich ganz den Hals brach. Gerade wollte sie den Mund auftun, als er noch näher rückte, sodass sie Schulter an Schulter saßen, und mit flüsternder Stimme zu erzählen begann. Er hatte Mitgefühl, so viel erkannte sie, und er wusste auch, dass er sie nicht erschrecken durfte und alles vermeiden musste, was sie an ihr Unglück erinnerte. Folglich tat er das Richtige und begann ein Märchen zu erzählen. Sie hörte zu und fand, dass er nicht nur gut plappern konnte, in seiner Stimme schwang auch ein wohliger Klang mit. Sie fühlte sich geborgen. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Kindheit und wieder zum Bett der Mutter. An den Abenden, bevor sie schlafen sollte, hatte die Mutter ihr Märchen erzählen und Geschichten erfinden müssen. Die Mutter besaß für Erfindungen eine natürliche Veranlagung, mit der sie die Geschichten spannend und überraschend hielt, und nichts daran, auch die größte Unmöglichkeit, erschien unglaubwürdig. Erst viel später kam sie dahinter, dass die Gabe der Mutter auch durch tägliche Schulung gefördert wurde. Als Vierzehnjährige hatte sie bei angelehnter Tür die Telefonate der Mutter mit angehört. Demnach musste sich die Mutter zur selben Zeit an verschiedenen Orten gleichzeitig aufgehalten haben. Damals sank die Mutter in ihren Augen, da sie die Männer so platt betrog. Später, als sie selbst in die Zeit der Lockerheit fiel, nahm diese Art der Erfindungen etwas Notwendiges und schließlich sogar etwas Menschlich-Anrührendes an, weil die Wahrheit bloß vor den Kopf gestoßen hätte.
Der Schwätzer war auf dem Höhepunkt seines Märchens angelangt. Die Mutter hatte, wenn sie ihr als Kind von Dornröschen erzählte, den Moment des Kusses immer besonders schön ausgeschmückt. Der Prinz kam nicht nur einfach, sondern schritt erhaben und stolz in der Erwartung des Kusses auf die schlafende Schöne zu, und auch der Kuss wurde eingehend beschrieben; alles endete dann mit dem Satz: „… und ihre Lippen trennten sich.“ Was danach folgte, die Freude über Dornröschens Erwachen, wurde nachlässig abgehandelt und manchmal sogar ganz vergessen. Sie war nun neugierig, was der Schwätzer aus der Lieblingsstelle der Mutter machen würde; hörte aufmerksam zu, nickte sehr zufrieden und sah auf ihre halb beweglichen Füße. Sie hatte es gewusst: Der Schwätzer war in Liebesdingen genauso dürftig, wie es schon seine Hose anzeigte. Der Prinz kam, sah, küsste − fertig!
Das Märchen war zu Ende. Er rückte von ihrer Schulter ab und sprach sie erneut an. Sie nickte mit dem Kopf, dass sie alles verstanden hätte, worauf er ihr aufmunternd zulächelte. Der Pförtner kam zurück. Erneut blicken die beiden Männer mitleidig und erschrocken auf die Verliebte. Sie wollte allein sein, doch ihre Stimmbänder blieben stumm. Mehrmals mühte sie sich, einen Ton herauszubringen, um die im Körper eingeschlossenen Worte nach außen zu bringen. Auf einmal spürte sie, wie vor ihren Augen alles trüb wurde, dann schwarz, und ihr Kopf zur Seite sank. Der Ohnmachtsanfall versetzte die beiden Helfer in noch größeres Erschrecken. Der Schwätzer klapste ihr vergeblich auf die Wange und der Pförtner lief zum Haupteingang, um nach dem Krankenwagen Ausschau zu halten. Erbrochenes lief ihr aus dem Mund. Leblos, wie sie war, wurde sie von den herbeieilenden Sanitätern auf eine Trage gelegt und durch die Haupttür in den Krankenwagen transportiert.