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Das Erwachen

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Sie erwachte mit einem leichten Frösteln. Am Morgen war es schon kühl und die Sonne stieg nicht mehr allzu hoch den Himmel hinauf. In diese Zeit fiel ein Ereignis, das trotz seiner alljährlichen Wiederholung nicht ohne Bedeutung für sie war. Mit achtundzwanzig Jahren hatte sie noch nicht die Befürchtungen des Älterwerdens, trotzdem fühlte sie eine eigenartige Stimmung des Verlusts und des Unvollkommenen, die sich noch verstärkte, als sie sich die Decke über den Kopf zog. In den letzten Jahren waren ihre Liebschaften nicht allzu üppig verlaufen. Kleine Ereignisse hatte es viele gegeben, manche waren nicht übel gewesen – sie hatte die Stunden, als hätte sie unendlich viele davon, sorglos auf den Kopf gehauen –, doch bei allem hatte ihr die rechte Laune gefehlt. Oft fühlte sie sich übersättigt, als hätte sie zu viel Süßes verschluckt. Wenn sie von solch einem Abenteuer nach Hause kam, legte sie sich sofort hin, schloss die Augen und dachte nach, warum sie so lau und leer blieb.

Dass das Herz stets in seinem Häuschen blieb, war nicht seine Art. Sie versuchte, ihm eine reiche Auswahl zu verschaffen, wofür sie sich häufig ins Getümmel warf. Sie fand, es wurde Zeit für ein einziges großes Ereignis. Ihr Herz sollte wieder zu klopfen beginnen; sie wusste kaum noch, wann sie das letzte Mal entflammt gewesen war, und dachte zugleich daran, dass solch ein Ereignis auch unabsehbare Folgen haben könnte. So war es möglich, sich am Ende nicht mehr wiederzuerkennen, vielleicht sogar eine Verwandlung zu erleben, hervorgerufen durch einen großen Schmerz, der sie für immer von allem Leben abtrennte und sie in ein Unglück stürzte. Aber selbst dafür fühlte sie sich bereit. Ein großes Unglück, das hatte sie zwar noch nicht selbst erfahren, aber davon gehört, dass es von manchen im Nachhinein als ein nützliches Ereignis betrachtet wurde. Einige behaupteten sogar, sie hätten dadurch erst das echte Leben kennengelernt, hätten Erkenntnisse gewonnen, die groß und bedeutungsvoll waren, sodass alles Vorherige dagegen verschwand; und was vor allem überzeugend war: Die einmal Verunglückten schienen seltsamerweise glücklicher zu sein. Bei ihnen, so nahm sie an, hatte sich nicht nur ein Unheil ereignet, das verging und vergessen wurde; es wurde vielmehr prägend, die Betroffenen hatten endlich eine Biografie, die ihnen eine gewisse Einmaligkeit und Autorität verlieh. Es kam ihr so vor, als ob das gute Leben sie verdarb und nicht das zum Vorschein brachte, was sie in sich schlummern glaubte. Sie konnte mit Schönheit wenig anfangen, sie war da wie eine kleine Wolke am Himmel. Fast schien es ihr, dass diejenigen, deren Dasein eine große Mühsal war, eine Aufgabe hatten, die bedeutungsvoll war. Sie mussten etwas bewältigen, ihr Tag besaß einen Sinn, und in ihrem Leben gab es verschiedene Herausforderungen, die sie sich nicht aus Mutwillen suchten, sondern die ihnen auferlegt waren und die sich einsehbar und griffig gaben. Sich selbst sah sie davon weit entfernt. Bei ihr stand am Anfang die Behaglichkeit, eine wie auch immer geartete Vollendung.

Doch sie wusste, dass mit der Welt etwas nicht stimmte. Ihre Stimmungsschwankungen, die plötzlichen melancholischen Abstürze zeigten ihr, dass es noch etwas anderes gab, dass die Welt des Überflusses und des Wohlstands, in die sie hineingeboren worden war, derart irrational war, wie sie es sich selbst nicht besser hätte ausdenken können. Sie hatte bei aller Süße des Wohlergehens immer eine qualvolle Unerfülltheit gegenüber der Welt gefühlt, die in unerklärlichem Widerspruch zu ihrem eigenen Gesättigtsein stand. Ihr Leben war weich, aber um sie herum, wenn sie in die Welt schaute, gab es so viele Grausamkeiten, die ihr Schmerz verursachten, sie unruhig machten und sie eine Wirklichkeit ahnen ließen, die ihr noch wenig bekannt war. Wenn sie an die Welt mit ihren Schlechtigkeiten dachte − und sie dachte in letzter Zeit immer häufiger daran − ,kam ihr das eigene Leben dumm vor, und vor allem sie selbst kam sich dumm vor, wie ein dickes Kind, das man vollgestopft hatte.

Sie hob ihre glatte Stirn. Denn während sie das Wort „Unglück“, noch abstrakt in seinem Ausmaß, bedachte, beschlich sie eine gewisse Beklemmung. Da sie noch nicht viel erfahren hatte und ihr Leben sich in kleinen Episoden beschreiben ließ, von denen einige allenfalls als unliebsam zu bezeichnen waren, fürchtete sie, dem ersehnten Ansturm nicht gewachsen zu sein. Neben jenen Unglücklichen, die davonkamen, gab es auch andere, denen zu viel aufgebürdet wurde, die hoffnungslos versanken und sich nur auf eins verlassen konnten: den mitleidigen Blick der anderen. Sie erkannte die Gefahr darin, etwas zu wollen, das sie aus dem Einerlei riss; denn es bestand die Möglichkeit, dass sie versagen und sich nichts mehr wünschen würde, als wieder in das alte Leben zurückzukehren. Vor langer Zeit war sie solch einem begegnet, der in seinem Unglück hockte wie in einem Einweckglas, der angesetzt hatte zum großen Sprung, sich jedoch stieß, fiel und nur noch ein Zuschauer des Lebens war. Sie schob diesen Gedanken fort und war sich sicher, zu denjenigen zu gehören, die, sollten sie fallen, wieder aufstanden.

Am liebsten war ihr natürlich eine Herausforderung, die sie grenzenlos zu den Gipfeln hob. Die Liebe sollte sie jenseits all ihrer bisherigen Erfahrungen bringen, die sie als mickrig ansah, als wäre sie von etwas Wichtigem ausgeschlossen gewesen. Wenn etwas Großes geschehen sollte, und groß musste es unbedingt sein, konnte es sich nur in der schwindelnden Höhe der Gefühle abspielen, im Auf und Ab einer großen Emotion. Sie war es, die sie nicht nur forttragen konnte von einem Leben, das ihr bereits vorbereitet erschien, ehe es begann; sie war es auch, die einzig in der Lage war, ihr einen Berg Aufgaben zu verschaffen, die sinnvoll waren. Musste sie mit den Gefühlen ringen, so konnte es nicht anders sein, als ringe sie mit den Elementen selbst. Denn die Gefühle waren in ihren Augen unkontrolliert und bildeten sich in einer Tiefe heraus, in die hineinzuschauen den Menschen nicht gestattet war. Die meisten hatten daher auch Angst vor ihnen, strengten dafür umso mehr ihren Kopf an, andere, die sich aus Furcht vor dem Ungewissen nie welche gestatteten, taten sie als lächerlich und nicht der Rede wert ab: Sie hingegen empfand sie als wahr und einzigartig, als etwas, das sich nicht greifen ließ, sich der Logik entzog und heimtückisch sein konnte. Gerade wenn man glaubte, der Schlüpfrigkeit eines wabernden Gefühls entkommen zu sein, konnte es sich heiß im Körper ausbreiten und selbst den größten Gedankenturm zum Einsturz bringen. Diese Gewalt reizte sie, und sie war in ihrer überwältigenden Form nur in der reinen, übergroßen Liebe zu finden.

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