Читать книгу Tagtraumglück - Katrin Sell - Страница 8
Abschüttelungsversuche
ОглавлениеAn den folgenden drei Tagen hielt sie sich im Bett auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete die Decke, an der ein kleiner schwarzer Lampenschirm hing. Der erste Tag stand ganz unter dem Zeichen der Verarbeitung des erlebten Geschehens. Häufig nahm sie das kostbare Tuch zu Hilfe, um sich genau an alles zu erinnern. Sie wusste noch nicht, welchen Platz dieser Schatz in ihrem Leben einnehmen sollte; aber es musste ein sehr besonderer sein, jederzeit griffbereit und doch für andere nicht sichtbar. Zurzeit lag das Tuch unter ihrem Kopfkissen, von wo sie es des Öfteren hervorholte und es sich auf die Augen und auch schon mal dicht an den Unterleib legte. Jedes Mal duftete es anders, und es schien ihr Geheimnisse zu beherbergen, die sich ihr bald öffnen würden. Dabei schwebte ein Wort vor ihr her; es flog federleicht, nahm einen eleganten Bogen, als die Wand nahte, glitt hinauf und hinab und landete, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, sacht auf ihrer Stirn. Dort brannte sich das Wort ein, wurde heiß und floss über ihren ganzen Körper. Sie holte das Tuch hervor und roch daran. Das Wort hing in klaren Lettern vor ihrem geistigen Auge. Sie erhob sich und betrachtete das Stück Stoff eingehend, von dem magische Kräfte auszugehen schienen, denn jene Frau war nicht mehr einfach die Frau am Pult, sondern wurde die Geliebte. Ebendieses Wort stand in beschwingten Schriftzeichen vor ihr. Sie rieb sich mit den Fingern nachdenklich die Stirn und begriff auf einmal, dass, wenn jene eine Geliebte für sie wurde, sie eine Verliebte war. Das Tuch war ihr nicht geheuer. Sie hatte es ergattert, was sie nicht als besonderes Kunststück ansah, da es direkt vor ihren Füßen gelegen hatte. Es hatte sich ihr quasi angeboten, oder hatte es jene gar extra für sie fallen gelassen? Die Vorstellung beunruhigte sie. Am Ende war sie nicht so unbeobachtet gewesen, wie sie gedacht hatte. Sie roch noch einmal an dem Tuch, ein schwerer, blumiger Duft stieg ihr in die Nase, der sie ganz benebelte. Unwillig knüllte sie das Ding zusammen und warf den Fetzen in die Ecke. Das Wort „Geliebte“ sollte ihr nie mehr über die Lippen kommen.
Im Grunde hatte sie an der Hochschule nicht viel von jener gesehen, gestand sie sich ein, nachdem sie die letzten Ereignisse gründlich durchdacht hatte. Sie wusste nicht einmal, ob jene ihre weißen, flachen Schuhe getragen hatte. Fragen bohrten. Sie stellte zahlreiche Betrachtungen hinsichtlich ihres Lebenswandels an, und erkannte, dass sie das ein oder andere Mal den Bogen reichlich überspannt hatte. So war zum Beispiel das mutwillige Verwechseln der Namen ihrer Beischläfer, trotz der Absicht, damit ihre mütterlichen Instinkte zu bezwingen, grausam und unangebracht gewesen. Sie hätte die Rohheit ihres Handelns bemerken müssen. Zu ihrer großen Beunruhigung fiel die Häufigkeit solcher Lieblosigkeiten nicht gering aus. War sie durch ihre mütterlichen Instinkte von großer Wärme, konnte das Flatterhafte, mit dem sie ihr Leben bisher betrieben hatte, für den anderen verletzend sein. Nie hatte sie sich darum gekümmert, was aus einem Beischläfer wurde, nachdem sie ihm, sich träge schlafend stellend, die Tür gewiesen hatte. Im Sinne einer höheren Gerechtigkeit glaubte sie, eine solche Liebe, wie die zu jener Frau, verdient zu haben. Das war die Strafe für begangene Grausamkeiten.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, zog sie sich die Decke über den Kopf. Dunkle Punkte bewegten sich vor ihren Augen, und sie wurde in eine Welt getragen, die sie die unheimliche nannte. Dort kannte sie sich gut aus. Schon als Kind hatte sie, zwar nur für Minuten, manchmal gar für Sekunden, eine Panik verspürt, die sie aus allem herausschleuderte und sie in eine Welt versetzte, die einem tiefen Schlund glich, in dem sie ganz verschwinden konnte. Das Gefühl, einfach zu vergehen und nicht mehr auf dieser Welt zu sein, hatte sie immer in regelrechtes Grauen gestürzt. Sie sträubte sich gegen die Vorstellung, nicht mehr vorhanden zu sein und dass es etwas gab, das die Macht hatte, sie aus allem herauszunehmen und über ihr Schicksal zu bestimmen. Als Kind ging sie in solchen Momenten zu ihrer Mutter. Deren Wärme beruhigte ihre Ängste, und sie fühlte Trost, der sie mit der Mutter eins werden ließ. Später kamen diese Zustände seltener vor und verschwanden sogar vorübergehend, als sie zum ersten Mal den Stämmigen umarmte und, sich schlafend stellend, seinem Atem lauschte.
In den letzten Jahren hatte sie im Traum manchmal einen tiefen Abgrund gesehen. Jetzt schloss sie die Fenster, dunkelte die Räume ab, legte sich bewegungslos auf den Rücken und wartete ab, bis sich die Schwere verzog und der Abgrund sich schloss. In dieser Stimmung, in der sie nichts mit sich anfangen konnte, außer still zu liegen, kamen ihr Zweifel, ob ihr zynisches Verhalten gegenüber dem Menschlichen und das eingetretene Ereignis wirklich in einem Sinnzusammenhang standen. Denn wenn dem so war, bedeutete es, dass die höhere Gerechtigkeit ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie wollte das nicht sofort abstreiten, betrachtete diesen Einfall aber mit Skepsis, da sie bei Lichte besehen nichts Hervorragendes an sich finden konnte und sogar glaubte, dass in ihrem Fall das Höhere schlief. Sie rieb sich die Augen; und eine Erschöpfung war ihr anzumerken, die die Ereignisse der letzten Wochen mit sich gebracht hatten. Alles war in Aufruhr und sträubte sich.
Dass sie die schmerzhafte Grübelei nicht aufgab, lag an den Umständen dieser Liebe selbst. Wäre alles nach ihrem Geschmack verlaufen und sie befände sich am rechten Ufer mit ihrer Liebe, dann hätte sie, wie selbstverständlich, das Ereignis fraglos hingenommen und ihrem günstigen Schicksal in einer freien Minute ein fröhliches „Hallo“ und „Dankeschön“ zugerufen. Für diese Liebe jedoch musste eine Erklärung her. Denn ein Verhängnis geschah in ihren Augen nicht grundlos, wie das Glück, das immer unverdientermaßen kam; vielmehr musste es Ziel und Ursache haben, weil das Ereignis sonst nicht zu fassen war. War es erst einmal erklärt, so gab es auch ein Mittel dagegen.
Sie ging einige Zeit nicht zur Hochschule, sodass sich keine weiteren Vorfälle ereignen konnten. Auch sprach sie mit niemandem über das Ereignis. In dieser Verfassung durchlebte sie eine Reihe von Tagen. Als sie sich erhob, überkam sie eine leichte Übelkeit im Magen, und in den Knien stellte sich Schwäche ein. Bei aller Anfälligkeit für das Wehleidige, wollte sie ihrem Befinden keinerlei Bedeutung geben und die Beeinträchtigung in Grenzen halten. Allerdings wurde ihre gesundheitliche Schwächung ohnehin bald an den Rand gedrängt, und zwar durch eine unverhoffte Aufwallung verliebter Gefühle. Denn trotz der unglücklichen Konstellation ihrer Liebe war sie eine Verliebte, bei der sich ähnliche Symptome wie bei glücklich Liebenden zeigten. Hatte sie vorher nicht aus dem Bett gefunden, weil sie nach Ursache und Sinn suchte, so legte sie sich nun wieder hinein, weil es ihr das Angenehmste war, sich dort den Wallungen des Gefühls hinzugeben. Vor ihren Augen erschien das Gesicht ihrer Geliebten. Sie beschaute das Weibliche im Geiste genau und erinnerte sich, wie sie beim Heben ihres Kopfes von der Hochschulbank dem Blick der Geliebten nachgefolgt war. Bereits da hatte sie einen kränklichen gelblichen Schimmer in deren Augen bemerkt, der ihr jetzt klar ins Bewusstsein kam. Ihre Geliebte musste vor einiger Zeit eine schwere Krankheit durchlitten haben, da der Schimmer noch so deutlich in ihren Augen lag. Überhaupt kam sie ihr gesundheitlich recht angeschlagen vor. Tatsächlich hatte der Körper jener Frau in den sechs Jahrzehnten seines Daseins, vor allem durch hektische Beanspruchung und nachlässige Ernährung, gelitten. Ihm fehlte das Taufrische und Propere; und die Geliebte war nicht zu ihrem Vorteil gealtert, was in Anbetracht ihrer schnelllebigen Lebensart auch kaum möglich gewesen wäre. Was ihm fehlte, war die Hübschheit, die er vor Jahren einmal besessen hatte. Diese äußerlichen Mängel störten die verliebt Träumende jedoch nicht, denn für sie besaß die Geliebte genug Anziehendes, wenn die ihre Stimme erklingen ließ, die einen rauen Unterton hatte, sich aber auch sanft erheben konnte. Sie träumte sich die Geliebte nahe heran und prüfte mit der Berührung ihrer Hand, dass es sie auch wirklich gab, während die Geliebte stillhielt und sich von allen Seiten eingehend betrachten ließ. Die Tage der euphorischen Stimmung vergingen im Gegensatz zu den nachdenklichen zügig. Die Geliebte nahe bei sich spürend, musste die Verliebte sie überallhin mitnehmen. Sie begann sogar, mit ihr zu sprechen. Häufig endeten ihre gemeinsamen Ausflüge und Plaudereien erst in den frühen Morgenstunden, und beide fielen einander müde in die Arme.
Mit aufkommender Nüchternheit fand sie solch Träumerei nicht hilfreich dabei, ihre Liebe abzuschütteln. Denn sie war ein Unfall, ein Missverständnis, eine gehörige Strafe, die sie trotz ihrer Unvollkommenheit nicht verdient zu haben glaubte. Sie ermahnte sich, wach zu bleiben, den Realitäten klar und entschlossen ins Auge zu schauen und sich nicht mehr den Verlockungen einer warmen und weichen Geliebten hinzugeben. Dass sie derart streng mit sich umging, war nur mit dem Eintreten des großen Ereignisses zu erklären. Früher hatte sie einen lockeren Umgang mit sich gehabt, hatte Ausreden erfunden, wenn die Schlaffheit eines ihrer Vorhaben über den Haufen warf. (So sah sie einen großen Genuss darin, sich an einem Montagmorgen an ein Flussufer zu setzen, wenn alle anderen arbeiteten, und redete sich ein, dann arbeiten zu wollen, wenn alle anderen schliefen.) Nun aber spürte sie, dass das Lockere und Leichte fehl am Platze war. Das Ereignis wog schwer. Um erst einmal Abstand zur Geliebten zu gewinnen und alles Verliebt-Träumerische zu vermeiden, verbot sie sich den Anblick jener Frau bis auf weiteres. Gleich darauf kam ihr die Idee, sich die Geliebte mit ein wenig Ablenkung und Zerstreuung zumindest eine Zeit lang vom Hals zu halten. Bisher waren ihre Fähigkeiten zur Ablenkung hervorragend gewesen. Der kleinste Vorfall konnte genügen, um ein Buch wieder zuzuschlagen und die Lektüre auf morgen zu vertagen, woraufhin sie meist bis übermorgen liegen blieb oder ganz vergessen wurde. Derart gut in Übung, wollte sie diesen Vorteil nutzen und sich ein wenig amüsieren. Die Abwechslung, die sich ihr böte, würde ihre heilsame Wirkung nicht verfehlen. Allerdings bemerkte sie sofort, wie rasch sie die Strenge gegen sich selbst gelockert hatte. Denn sie tat damit das, was sie am besten konnte, was ihr aber bereits Überdruss bereitet hatte, sodass sie sich nach anderem zu sehnen begann. Zudem machte sie eine Entdeckung, die verwirrend war: Seit dem Eintreten des Ereignisses hatte sie sich von allem zurückgezogen, was für einen lebhaften Menschen ungewöhnlich war. Ohne dass sie es bisher selbst bemerkt hatte, kam ihr der Sinn des menschlichen Miteinanders fragwürdig vor, sobald die Geliebte darin fehlte. Als sie das erkannte, gab sie das Vorhaben auf, die Frau am Pult mit etwas Zerstreuung aus dem Kopf zu bekommen. Denn das Einzelne zeichnete sich, wie ihre Liebe, durch eine besondere Form und Wirkung aus, das hatte sie bereits bei dem Stämmig-Behaarten erfahren müssen. Damals hatte sie das Rare in seiner ganz eignen Art und Weise noch nicht begriffen und nur das Abgeschmackte in seiner Beliebigkeit erkannt; jetzt hingegen hatte sie das Rare in seiner Ungewöhnlichkeit verstanden und wusste: Es war durch nichts ersetzen.
Es dauerte Tage, ehe ihr ein neuer Gedanke kam, mit dem sie den nächsten Versuch zur Abschüttlung ihres Liebesunfalls wagen wollte. Der Plan war einfach. Schon oft war es geschehen, dass das Bild jener Frau unvermittelt vor ihr auftauchte. Doch war es nicht sie selbst, die die Geliebte zu sich holte, sondern ihr stark angeschlagenes Herz. Worauf es pochte, war unüberhörbar: Die Geliebte sollte nicht länger fernbleiben. Dass ihr Herz dies forderte und sie die Geliebte im Geiste zu streicheln und zu küssen begann, hinterließ bei ihr jedes Mal ein sehnsüchtiges, schmerzhaftes Gefühl, da jene zwar klar vor sie hintrat, aber bei aller Nähe doch nicht mehr war als eine blutleere Hülle und ein matter, unvollkommener Abklatsch der echten. Der Drang nach Erfüllung konnte quälend groß werden, sodass sie fürchtete, ihr Herz könnte aus Trotz einfach aufhören zu schlagen. Ihr nächster Versuch bestand nun darin, dem angeschlagenen Herzen die Aussichtslosigkeit ihrer Liebe deutlich zu zeigen. Darum nannte sie die „Geliebte“ nicht mehr Geliebte, sondern „ferne Geliebte“ oder „sehr, sehr ferne Geliebte“, oder „die gänzlich Ferne“ oder gar „die für immer Unerreichbare“ und „die aus den Wolken Gefallene“. Damit wollte sie ihrem Herzen klarmachen, dass jene Frau am Pult weit Besseres zu tun hatte, als auf ein angeschlagenes Herz Rücksicht zu nehmen. Tatsächlich setzte daraufhin eine Lauheit des Gefühls ein und ließ sie an den Erfolg ihres Abschüttlungsversuches glauben. Sie fühlte sich schlapp und leer, hatte kalte Hände und Füße und spürte leichten Schwindel, woraufhin sie sich hinlegte und die graue Decke betrachtete. Wie viele Tage sie ruhte und ihr Herz schlaff in den Seilen hing, wusste sie nicht. Jetzt, da die Lauheit des Gefühls Einzug gehalten hatte, schien es ihr, als hätte das große Ereignis nicht einmal stattgefunden. Wo sonst ihr aufflammendes Gefühl hockte, war alles still und unbelebt. Dennoch wollte sie der plötzlichen Lauheit des Gefühls nicht trauen. Der Sturm war zwar zu einem Lüftchen geworden, doch konnte das Lüftchen auch die Ruhe vor einem erneuten Sturm sein. Bei aller Tücke ihres Plans zweifelte sie, ob er tückisch genug war, ihr Herz ein für alle Mal zu verschrecken und das Vernünftige und Gescheite hervortreten zu lassen. Wäre das aber der Fall, dann war diese Liebe von Anfang an auch nur klein und mickrig gewesen. Das unbefriedigende Gefühl der Halbheit stellte sich bei diesem Gedanken wieder ein. Darum blieben die Tage der plötzlichen Lauheit unfroh und Langeweile machte sich breit, die sie zu vertreiben suchte, indem sie an die Erledigung einiger Dinge ging.
Das tagelange Im-Bett-Liegen hatte Spuren hinterlassen. Ihr Haushalt, der stets Anzeichen der Vernachlässigung zeigte, begann völlig zu verwahrlosen, und es schien notwendig, hin und wieder vor die Tür zu treten. Außerdem war es an der Zeit, sich wieder einmal bei der Mutter zu melden. Die Erkundigungen der Mutter nach ihr erfolgten häufig zum ungeeigneten Zeitpunkt, waren dafür aber frei von aufdringlicher Neugier. Zudem wurde sie zärtlich geliebt, was eine Fürsorge mit einschloss, die ihrem leichtfertigen Lebenswandel ungewollt unter die Arme griff. Als bemittelte Frau ließ die Mutter monatlich reichlich Geld auf das Konto ihrer Tochter fließen, was es dieser erlaubte, die Nase hier und da hineinzustecken. Dass der Geldhahn einmal abgedreht würde, war nicht abzusehen. In letzter Zeit kam es jedoch vor, dass sie beim Ausgeben des mütterlichen Geldes das Gewissen zwickte. Obwohl es nicht besonders heftig auf sich aufmerksam machte, führte das Zwicken dazu, dass sie die sonst so locker sitzenden Scheine des Öfteren in der Tasche behielt. Diese Maßnahme verminderte ihr Unbehagen, änderte aber nichts daran, dass sie mit achtundzwanzig Jahren der Mutter auf der Tasche lag. Sie selbst sah darin eine Verwöhnung und, wenn sie erst spät am Morgen aus den Federn fand und den Tag vertrödelte, sogar eine falsche Großzügigkeit. Für die Mutter war sie jedoch das Kind, welches sich zwar spät entschloss, etwas zu werden, aus dem aber noch alles werden konnte. Manchmal hatte sie sich schon vorgenommen, die Mutter von diesem Irrtum zu befreien und ihr zu gestehen, dass sie für das Geschäftige und Ambitionierte nicht geschaffen war. Doch die Verschiedenheit zwischen Mutter und Tochter führte nie zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Als Tochter verfügte sie über Eigenschaften, die die Mutter im Mann suchte. Sie erinnerte sich, dass die Mutter, wenn sie von ihren weiten Reisen zurückkam, häufig Bekanntschaften geschlossen hatte, die in ihrer Ähnlichkeit verblüfften. All ihre Männer redeten wenig, waren etwas langsam in ihren Bewegungen, mochten das Behagliche und lagen gern im Bett. Andererseits wiesen Mutter und Tochter auch einige Ähnlichkeiten auf: Gleich ihrer Tochter zeigte die Mutter einen häuslichen Instinkt gegenüber dem Männlichen, nur dass sie diesen nie bezwingen wollte; ihm stattdessen freien Lauf lassend, servierte sie ihrem Beischläfer am nächsten Morgen den Kaffee und sah in dieser Fürsorge eine Dankbarkeit, die ihr als Beglückte angemessen erschien. Die Namen ihrer Beischläfer mutwillig zu verwechseln, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Es bedurfte sogar einer Schonung des Mannes und besonderer Zuneigung am Morgen, denn als Frau hatte sie empfangen, ihr floss zu, was dieser gab.
Sie nahm den Telefonhörer, wählte die Nummer der Mutter, doch dann fiel ihr ein, dass der Mutter ihre veränderte Stimmung am Telefon nicht verborgen bleiben würde. Daher legte sie den Hörer wieder auf und hoffte, dass sich die Mutter von allein melden oder gleich selbst vor der Tür stehen würde. Sie blickte von ihrem Fenster aus in einen feucht-herbstlichen Himmel, der an diesem Tag eine starke Grautönung aufwies. Mit ihm kam das abstruse Gefühl, in eine große Tiefe zu stürzen; und sie wäre noch tiefer versunken, hätte sie nicht das Telefon hochgeschreckt. Sie wollte aufstehen, doch etwas hielt sie zurück. Wenn sie den Hörer abnahm und tatsächlich die mütterliche Stimme hörte, dann wäre es entschieden; sie würde ihr alles erzählen. Schon lange verspürte sie den Drang, zu reden, zweifelte jedoch, ob der mütterliche Schoß sie wirklich tröstend aufnehmen würde, wie sie es hoffte. Schlimmstenfalls könnte alles in eine andere, sogar in die entgegengesetzte Richtung laufen. Vielleicht fühlte sich die Mutter durch ihre Erzählungen vor den Kopf gestoßen, was sie unfähig machen würde, ihr den nötigen Trost zu spenden. Die Mutter war zwar von der Tochter nicht mehr allzu leicht in Schock zu versetzen, aber dies hier, die Liebe zu jener nicht mehr Taufrischen, wäre eine harte Probe. So blieb die Mutter verschont und das Telefon läutete vergeblich.
Nachdem das Läuten verstummt war, hing sie schlapp im Sessel, wo sie die Gliedmaßen von sich streckte und über die Lauheit nachsann. Sie vermutete, dass der Mensch nur bedingt für die große Aufregung geschaffen war. Zwar brachten die Gefühle, die so heftig wie kurzweilig waren, das Gleichgewicht des Menschen ins Schwanken, schafften es jedoch nicht, sein grundlegendes Naturell, das Mittelmaß und die Vernunft, aus den Fugen zu heben. Selbst bei der heftigsten Gefühlsregung funktionierte der Mensch noch und hielt sich auf diese Weise unbewusst am Leben. Dieser Gedanke hatte etwas Beruhigendes.
Sie hielt die Gliedmaßen noch eine Weile entspannt, indessen eine heftige Aufwallung verliebter Gefühle herannahte. Die ersten Anzeichen waren noch kaum spürbar. Ein schleichender Stimmungsabfall, wie sie ihn oft erlebte, wenn träge Nachdenklichkeit über sie gekommen war, verwandelte das Laue in eine Übellaunigkeit. Vormals, bei den Schlaksigen und Stämmigen, tonangebend, fürchtete sie zu verkümmern und ging sich selbst schon auf die Nerven. Zum ersten Mal entwickelte sie Regungen, die einem verzweifelten Hass zu jener Frau entsprangen. Die Lauheit der Gefühle war damit beendet; ein schlaffes Herumhängen gab es nicht mehr. Ein Schreck der Erkenntnis durchfuhr sie, der auch die letzte Schlappheit aus ihren Gliedern trieb: Im Grunde wollte sie diese Liebe doch. Während ein Teil von ihr Vorkehrungen traf, die nicht mehr ganz Taufrische abzuschütteln, zog der andere Teil die Frau am Pult zu sich heran. Rücklings ließ sie sich auf das Bett fallen und wurde sich selbst zu kompliziert. Erschöpft fiel sie in einen traumlosen Schlaf, von dem es nichts zu berichten gab, außer dass die Schlafende sich erholte, die heiße Stirn abkühlte und sie ihren Gedanken für kurze Zeit entrinnen konnte.