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Die Toilette

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Die leeren Gänge ließen das Hochschulgebäude unbelebt und stumm erscheinen. Doch hinter diesen Türen verbarg sich die Wissenschaft. Es wurde geschrieben, gelehrt, geplant, diskutiert, erfunden, Karrieren begannen, Entdeckungen wurden gemacht, Fortschritt lag hinter diesen Türen, von dem sie aber hinter ihrem Pfeiler weit entfernt war. Nach zwei Stunden öffneten sich endlich die Türen. Die Wissenschaft pausierte für eine Weile − und das war ihre Chance. Auch die Frau am Pult war ein Mensch, der aß und trank, verdaute und ausschied. Ganz als Letzte sah sie jene aus dem Saal kommen, allerdings nahm sie nicht den Weg zu den Toiletten, sondern Richtung Mensa und, was alles kompliziert werden ließ, ging sie weiter in Richtung Südflügel, wo noch weitere Toiletten waren. Um jene nicht aus den Augen zu verlieren, folgte sie ihr und beobachtete sie in der Mensa bei der Auswahl des Mittagsmenüs. Die Frau verhielt sich jetzt planmäßig, stellte sie erleichtert fest. Nach einem üppigen Mittagessen war der Gang zur Toilette unausweichlich. Sie behielt sie im Auge, wartete unauffällig und genehmigte sich hastig ein trockenes Brötchen. Als die Frau aufstand und ihr Geschirr wegräumte, war es Zeit, Posten zu beziehen. Sie lief zurück und versteckte sich erwartungsvoll und mit stark klopfendem Herzen hinter dem Pfeiler. Jene aber ließ auf sich warten, und es bestand die Befürchtung, dass sie doch den Weg zum Südflügel eingeschlagen hatte. Sie rannte zurück und fand jene bei der milchigen Glastür stehend, durch die sie am Morgen unverhofft gekommen war. Sie war in ein Gespräch mit einem Studenten vertieft und es war klar, dass sie danach den Weg zum Vorlesungssaal einschlagen würde.

Sie hetzte zurück, wartete, und ihr fiel dabei ein, schon oft gesehen zu haben, wie dieser Bursche mit den Korkenzieherlocken die Frau nach den Vorlesungen in Beschlag nahm. Als die Zeit sich in die Länge zog, bemerkte sie, dass auch sie ein Mensch war, der aß, trank und verdaute. Denn sie spürte plötzlich einen starken Drang im Unterleib. Vergeblich trat sie von einem Bein auf das andere. Sie blickte zu den Toiletten. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es schaffen, wieder auf Posten zu stehen, ehe jene kam. Rasch lief sie zur Toilette, blickte sich noch einmal um und verschwand. Sollte ausgerechnet jetzt jene Frau kommen und sich neben ihr auf eine Toilette setzen, dann wollte sie nicht mehr weiterleben. Sie knöpfte sich ihre Hose auf und setzte sich. Die Tür ging auf, und sie hörte Schritte. Die Nachbartoilette wurde belegt. Das war noch kein Grund zur Panik. Darauf hörte sie ein Räuspern von nebenan, dessen Klang jener Frau stimmlich sehr nahekam. Sie horchte genau, das Räuspern wiederholte sich nicht, stattdessen hörte sie ein erleichtertes Seufzen. Ihr stockte der Atem. Dieses Seufzen kannte sie. Die Frau am Pult seufzte ebenso in ihren Vorlesungen, wenn sie einen Hefter nicht gleich fand oder die Vorlesungszeit schneller vorbei war, als angenommen. Sie erhob sich vom Becken und zog sich mit zitternden Händen die Hose hoch. Die Toiletten trennte nur eine dünne Wand, die unten offen war und so einen ausreichenden Blick auf das benachbarte Becken ermöglichte. Sie kniete sich auf den Boden und streckte ihren Kopf sehr lang. Wie erwartet erblickte sie zwei Füße und eine Hose, die in ihrem heruntergelassenen Zustand jede Hose hätte sein können. Aber was sah sie da! Jene Frau hatte ihr Tuch, das schwarze mit den weißen Punkten, abgelegt. Es lag zerknüllt, aber eindeutig identifizierbar auf dem Boden. Ihre Stirn wurde heiß. Sie legte ihren Kopf auf dem kühlen Fliesenboden ab und überlegte. Jetzt hinauszugehen und sich die Hände zu waschen wäre noch im Rahmen des Plans, da auch jene kommen würde, um sich die Hände zu waschen, doch sie wusste, dass man jemanden, mit dem man gerade die Toilettenräume geteilt hatte, nicht gern in die Augen schaute.

Jetzt hieß es das Beste aus der Situation machen, ermahnte sie sich, vor allem, sich still zu verhalten, damit jene nicht bemerkte, dass sich jemand neben ihr befand. Sie schaute zu, wie sich die Hose auf der Nachbartoilette wieder entfaltete, hörte die Spülung und das Entriegeln des Türschlosses und schließlich die Schritte zum Waschbecken. Das wäre ihr Moment gewesen! Ihr Kopf sank erneut auf den Fliesenboden und ihr leerer Blick ging zum Toilettenbecken, auf dem jene gerade noch gesessen hatte. Dann bemerkte sie etwas, das ihren Blick sofort belebte und sie für den verpatzen Auftritt entschädigte: Die Frau am Pult hatte ihr schwarzes Tuch mit den weißen Punkten liegen gelassen, es lag unweit des Toilettenbeckens und konnte mit einem Griff von ihr mühelos erreicht werden. Ihr war, als hätte das Schicksal doch ein gnädiges Auge auf sie geworfen. Sie langte durch den Spalt und angelte sich das kostbare Souvenir. Vor Aufregung und Freude verspürte sie einen erneuten Drang im Unterleib. Rasch stopfte sie das Tuch in die Hosentasche und verhielt sich still. Spätestens, wenn jene in den Spiegel schaute, musste sie das Fehlen des Tuchs bemerken. Sie hörte auch schon Schritte, die sich wieder in Richtung Toilette bewegten. Jene schaute sich um. Ihr stockte erneut der Atem. Sollte sich die andere jetzt bücken, war sie für immer verloren. Die Frau bückte sich aber nicht, sondern verschwand mit einem Seufzer. Als die Tür ins Schloss fiel, erhob sie sich erleichtert. Bei so viel Abenteuer und Aufregung wurde ihr ganz übel. Sie konnte kaum glauben, was eben geschehen war. Zum Beweis zog sie das Tuch aus der Hosentasche und roch an der fantastischen Beute. Plan hin oder her, sie hatte etwas viel Besseres, wie sie fand. Dieses Tuch gab ihr die Sicherheit zurück. Sie wollte für heute Schluss machen, denn das alles bot Stoff für tagelange Aufenthalte im Bett.

Die Vorlesung hatte bereits begonnen. Sie lief die leeren Gänge entlang, über die große schwarz-weiße Marmorhaupttreppe hinweg, bis sie stehen blieb und überlegend zurückschaute. Es wurde gelehrt, diskutiert und geschrieben, da wollte auch sie nicht fehlen. Sie ging zurück und öffnete die Tür des Vorlesungssaals. Obwohl sie alle Blicke trafen, und besonders der von jener am Pult, die Unterbrechungen ganz und gar nicht schätzte, hielt sie ihren Kopf sehr hoch und quetschte sich umständlich zu einer der vordersten Reihen durch. Dort legte sie ihre Mappe ab, schraubte ihren Füller auf und hustete stark. Jene war nicht in unmittelbarer Nähe, aber immerhin in der Nähe. Sie fand, dass alles noch an diesem Tag zu einem guten Ende gekommen war und dass es der Fehler der meisten Menschen war, sich entweder auf den Zufall zu verlassen oder auf einen Plan. Aber nur beides, Zufall und Plan, ergab den Erfolg. Dabei griff sie nach dem schwarzen Tuch mit den weißen Punkten in ihrer Tasche und schrieb vergnügt die Worte der Wissenschaft in ihren Hefter.

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