Читать книгу Pin ins Herz - Katrin Wiedmaier - Страница 6
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Kapitel 3
Das Klingeln meines Festnetztelefons dringt langsam aber unaufhörlich in mein Bewusstsein. Mein Versuch, dieses lästige, aufdringliche Geräusch auszublenden, scheitert kläglich. Langsam öffne ich die Augen, hebe vorsichtig den Kopf und schiele zum Wecker. 9.30 Uhr, Shit, ich habe schon wieder verschlafen, und dieses Mal aber richtig. Als ich hektisch aus dem Bett springen will, macht sich ein schwaches Klopfen im hinteren Teil meines Kopfes bemerkbar. Gleichzeitig holt mich der gestrige Tag wieder ein. Das Positive daran: Heute ist Samstag, also nicht ins Büro. Das Negative daran: Ich werde bald überhaupt nicht mehr ins Büro gehen, nicht mehr dürfen. Niedergeschlagen lasse ich mich zurück aufs Kissen sinken und ziehe mir die Decke über den Kopf. So ein Mist, warum ausgerechnet ich? Ja klar, Sozialplan und so, aber das ist doch ungerecht. Für mich persönlich jedenfalls. Ich bin eine gute Texterin, mein Job macht mir Spaß, ich kenne die Leute seit Jahren und sie sind mir alle mehr oder weniger ans Herz gewachsen. Das Telefon ist endlich still, welch Erleichterung, ich fühle mich gerade auch noch nicht in der Lage, aufzustehen und nachzusehen, wer mich da geweckt hat. Genauer gesagt ist mir das sowas von egal, so wichtig kann es ja wohl nicht sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Chef anruft und sagt, es war alles ein großer Irrtum, denn das wäre der einzige Anruf, der mir heute nicht egal wäre. Und allen anderen kann ich ja sagen, dass ich einkaufen war, in der Stadt oder so. Doch so einfach soll es heute wohl nicht sein, erneutes schrillen des Telefons unterbricht jäh meine Gedanken. Herrje, war dieser Klingelton schon immer so unangenehm penetrant? Ok, ist ja gut. Schicksalsergeben quäle ich mich aus dem Bett, streife mir im Laufen das nächst liegende Shirt über und schleiche die Holzwendeltreppe nach unten. Was wäre ich heute froh über ein richtiges Geländer, an dem ich mich abstützen könnte. Die dicken Seile schwingen hin und her und sind nicht gerade förderlich für meinen ohnehin labilen Kreislauf. Auf dem Weg in die Küche schnappe ich mir das blöde Ding, spreche ein genervtes «Ja» in den Hörer und steuere zielstrebig die Kaffeemaschine an. Blöderweise ist der Timer am Wochenende nicht aktiviert, weil ich immer zu unterschiedlichen Zeiten aufstehe. Während ich also den Telefonhöher zwischen Schulter und Ohr geklemmt habe und umständlich die Kaffeemaschine auf ihren Job vorbereite, vernehme ich die Stimme meiner Mutter.
«Hallo meine Kleine, wie geht’s dir? Wo bist du denn? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.»
Das Einzige, was ich mit meinem vernebelten Hirn an Gedanken hinbekomme, ist 1. Was ist das für eine blöde Frage, wo soll ich denn sein? Ich bin doch jetzt am Telefon, oder nicht? Und 2. Sie weiß es, na toll! Da hatte sie jetzt mindestens schon zwei Stunden Zeit, sich eine Rede zu überlegen, wie sie mich aufmuntern kann. Heute scheint mein Glückstag zu werden. Ich füge mich meinem Schicksal, immerhin mit dem ersten Kaffee des Tages, an dem ich mir prompt die Zunge verbrenne.
«Hallo Mama, mir geht’s gut, ich habe nur lange geschlafen, weil es gestern spät geworden ist. Da kam so eine Schnulze im Fernsehen, genau das richtige, um mich abzulenken.»
Meine Mutter wettert los und ich verstehe Wortfetzen wie «ungerecht», «immer das Gleiche», «ausnutzen» und dann «es wird sich was Neues ergeben. Du wirst sehen, du bist doch noch jung und in deinem Job bist du auch richtig gut. Steck den Kopf nicht in den Sand und komm doch mal vorbei, dann reden wir und überlegen gemeinsam, wie es weitergeht.»
«Ja klar», höre ich mich selbst in den Hörer nuscheln, «ich muss jetzt erst einmal unter die Dusche, bis später.» Und schon lege ich den Hörer auf. Erschöpft und niedergeschlagen schleiche ich mit meinem Kaffee in der Hand zur Couch, setze mich hin und lege die Füße auf den Tisch. Ich habe nicht wirklich vor, meine Mutter heute zu besuchen.
Ich fühle, ja was fühle ich eigentlich? Langsam kriecht alles wieder in mein Bewusstsein wie eine listige Schlange. War das erst gestern? Kommt mir schon viel länger vor. Ich würde bald arbeitslos sein. Gekündigt aufgrund von Sparmaßnahmen. Wie und wo sollte ich bitte in vier Wochen einen neuen Job herbekommen? Doch mich überkommt nicht etwa Panik oder Existenzängste oder Angst vor der Zukunft. So etwas fühle ich heute komischerweise nicht. Klar, mich beschleicht ein ungutes Gefühl und ich kann nicht sagen, dass es mir gut geht, ein bisschen kratzt das Ganze schon an meinem Ego. Bisher war ich immer ganz froh, die normale Kündigungsfrist in meinem Vertrag zu haben, und nicht etwa drei Monate wie viele meiner Kollegen. Jetzt weiß ich aber gerade nicht, wie ich die verbleibenden vier Wochen überstehen soll! Ironie des Schicksals. Ich kann mir nicht vorstellen, so zu tun, als wäre alles normal. Mir fallen die Optionen ein, die meine Kollegin erwähnt hat. Ich kann ja entweder meinen Resturlaub nehmen, was die vier verbleibenden Wochen erheblich verkürzt. Oder aber ich lasse ihn mir ausbezahlen. Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker tendiert mein Bauchgefühl zur zweiten Option. Geld ist immer gut und die vier Wochen schaffe ich es auch noch irgendwie, den Kopf nicht in den Sand zu stecken. Ich überlege hin und her, hoch und runter, und ohne äußeren Einfluss, den ich seit gestern konsequent vermeide, reift in mir ein Gedanke. Was, wenn ich die unfreiwillige Auszeit nutze und einfach das tue, wovon ich schon so lange träume? Ich muss nur meine Sachen packen und dann geht es los. Ins Ausland. Als Aussteiger quasi, ein Jahr lang. Wohin ich am liebsten wollte, war für mich keine lange Überlegung. Spanien. Ich kenne dieses Land von unzähligen Urlauben mit der Familie, und da wir immer im Sommer dort waren, habe ich vermutlich nur schöne Erinnerungen daran. Stundenlang haben wir die kunstvollsten Sandburgen gebaut, mit Muscheln verziert und was wir sonst noch so im Sand gefunden hatten. Der Spaß im Wasser, Wellenreiten auf der Luftmatratze, schnorcheln nach den schönsten Muscheln. Die Palmen sind mir noch besonders in Erinnerung, kleine, unscheinbare mit hellgrünen Wedeln, große, majestätisch in den blauen Himmel ragende Palmen mit dunkelgrünen Palmwedeln und einem verdorrten Stamm, der aussieht, als wäre er kaputt, aber lediglich eine natürliche Laune der Natur darstellt. Ja, das sollte es sein, die Sonne scheint bei Tag und Nacht ... Leise vor mich hin summend schenke ich mir noch einen Kaffee ein, bevor ich meiner Freundin die längst überfällige SMS schreibe.
«Hey Süße, ruf mich doch mal bitte an, wenn du Zeit hast. Gibt Neues! Drück dich, Emmi.»
Es dauert zwei weitere Kaffee Latte, bis endlich mein Telefon klingelt. Ich werde von einer Vorfreude erfasst, denn die Kündigung ist momentan weit im Hintergrund. Ich kann es kaum erwarten, ihr von meinen Plänen zu erzählen. Was gäbe ich jetzt für die gute alte Telefonschnur, die den Hörer mit dem Apparat verbindet! Zur Beruhigung könnte ich mir diese nämlich um meine Finger wickeln.
«Hey Sweety, was los? Ist es wegen heut Abend? Du, ich habe heute Morgen beim Einkaufen zufällig Liv getroffen und sie möchte sich uns anschließen und heut Abend mit auf Kneipentour gehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.»
Oh, das habe ich in all der Aufregung total vergessen, wir sind ja für den Abend verabredet. Es passt mir ganz gut, dass Liv mitgehen will, dann kann ich einen weiteren Abend alleine zu Hause verbringen. Mir ist immer noch nicht nach Gesellschaft und schwächt etwas mein schlechtes Gewissen ab, dass ich mal wieder absage.
Dann wieder Lizzie: »Oder ist etwas anderes? Süße, du sagst ja gar nichts, was ist los? Ist etwas passiert?» Ich muss wirklich vor mich hin schmunzeln, denn das ist so typisch für Lizzie. Sie quatscht jeden gegen die Wand, ohne Punkt und Komma und ohne das Gespür für die Situation und Stimmung der Menschen. Und dann ist sie endlich ruhig und ich kann ihr erzählen, was gestern passiert ist und von meinen Plänen mit Spanien. Dann passierte es. Der dicke Klos im Hals platzt, ich heule los wie ein Schlosshund. Ich kann mich nicht mehr verständlich artikulieren und höre nur noch, wie Lizzie sagt, ich solle mich doch bitte beruhigen, sie wäre gleich da.
Und eine halbe Stunde später ist sie dann da. Allein Ihr Anblick veranlasst mich erneut zu einem oscarreifen Tränenausbruch und wir stehen geschlagene fünf Minuten da und umarmen uns, oder vielmehr klammere ich mich an sie wie eine Ertrinkende. Wie ich diese Frau liebe, als Mensch, als Freundin, ihre bloße Anwesenheit reicht aus, damit ich mich weniger schlecht fühle. Plötzlich kommt mir meine Idee mit der Auslandsreise so absurd vor. Was soll ich ohne Lizzie in der Ferne tun? Ich würde sie lange nicht sehen, könnte nicht mal so eben eine SMS schreiben, wie wir es täglich mehrfach tun. Wir könnten nicht abends miteinander quatschen, auf meinem Balkon bei einer Flasche Rotwein über Gott und die Welt philosophieren. Nein, was immer ich mir durch diese Reise erhofft habe, der Preis dafür war zu hoch. Das, was ich zurücklassen würde, zu kostbar. Wie erwartet beschimpft Lizzie meine Situation erst mal ausgiebig, danach sprudelt sie jedoch Alternativen aus und am Ende kommt sie zu dem Schluss, den ich soeben verworfen habe.
«Das ist deine Chance, du musst nach Spanien. Natürlich können wir uns dann erst mal nicht mehr jeden Tag sehen, aber ich kann dich doch im Sommer besuchen kommen und im Herbst. Weihnachten kommst du dann her. Ostern besuche ich dich wieder und schon ist das Jahr vorbei. Das sollte dann auch genügen, oder?»
Sie findet ihre Idee scheinbar genial, denn sie setzt ein zufriedenes Lächeln auf. Ich meine, wie sie das so an den jährlichen Ereignissen festmacht, hört es sich irgendwie an, als wäre das Jahr gar nichts und ich im Nu wieder zu Hause. Aber ich merke, wie Ärger in mir hochsteigt. Ich starre sie ungläubig an, will sie anschreien, ob sie mich loswerden will. Gut, das letzte halbe Jahr war ich wohl wirklich keine gute Gesellschaft, aber jetzt so? Das Einzige, was erneut aus mir rauskommt, ist ein Tränenausbruch.
Mit erstickter Stimme und vorwurfsvollem Blick sehe ich sie fragend an.
«Willst du mich loswerden?»
Ihr Blick genügt mir schon.
«Du dummes Huhn, davon kann jetzt wirklich keine Rede sein, aber ich denke einfach, es wird dir guttun, den ganzen Mist hinter dir zu lassen, um dann neu zu starten.»
Der grenzenlose Optimismus meiner Freundin lässt die Tränen schließlich versiegen und ich sage das Einzige, was ich in dem Moment zu denken in der Lage bin.
«Du hast recht, ich lebe jetzt meinen Traum, was habe ich schon zu verlieren?»
Allerdings klingt meine Stimme überzeugter, als ich es wirklich bin.
«Ich habe etwas Geld auf der Seite, und es ist wirklich ein Traum von mir.» Zaghaft frage ich sie: «Hilfst du mir bei den Vorbereitungen?»
Sie lacht mich mit ihrem offenen Lachen an und ihre Stimme klingt euphorisch.
«Aber klar, wir sorgen dafür, dass du eine richtig tolle Zeit hast, the time of your life.» Ihre Stimme klingt plötzlich sehr ernst.
«Und wehe, du hast danach noch Liebeskummer, dann kriegen wir richtig Ärger», dabei pikst sie mir mit ihrem Zeigefinger mehrmals in die Brust.
Ich verdreh die Augen und streck ihr die Zunge raus. «Hey, ich habe es ja kapiert, jetzt nimm mal bitte deinen Finger da weg, sonst tust du dir noch weh.» Ich bekomme ein schiefes Grinsen zustande. Sie lässt an ihrer Feststellung jedoch nicht den geringsten Zweifel aufkommen und hebt zur Bestätigung erneut ihren Zeigefinger.
«Ich nehme an, du möchtest heute Abend nicht mit uns weg?»
Erleichtert schüttel ich den Kopf. Ich bin ihr so dankbar, dass sie mich nicht, wie in letzter Zeit so oft, bittet, doch mitzugehen und über meinen Schatten zu springen und diese ganzen Einwände. Nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hat, dass ich mir einen schönen Film anschauen und nicht mehr weinen würde, geht sie dann auch.
Am Nachmittag fahre ich meinen Rechner hoch und gebe in der Suchmaschine «Nordspanien, ein schöner Ort, um günstig zu leben» ein. Ich erhalte einige Vorschläge, bleibe jedoch an einem gleich hängen. Ein kleines Dörfchen ca. 60 km hinter der spanischen Grenze namens Cadaqués. Auf dem Foto im Internet ragen hinter einer halbrunden Bucht weiße Häuser empor. Besonders beeindruckt mich jedoch die Geschichte dieses Ortes. Künstlern wie Salvator Dali diente diese malerische Kulisse immerhin als Inspirationsquelle für ihre Künste, gar nicht weit gab es sogar ein Theater-Museum Dali. Über eine recht schmale Straße in den Bergen erreichte man dieses Dörfchen und hatte einen tollen Blick, bei dem sich die komplette Größe ermessen ließ.
Ich träume mich in die kleine Bucht. Und schon geht’s mir etwas besser.