Читать книгу Feuerblüte II - Катя Брандис - Страница 4
Jede Hand zählt
ОглавлениеAuf dem Dorfplatz war es schon voll, die Fackeln erhellten eine unruhige Menschenmenge. Alena konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals alle Bewohner von Gilmor versammelt gesehen hätte. Sie, Jelica und Kilian quetschten sich so weit nach vorne, wie sie es schafften. Alena hielt Ausschau nach ihrem Vater, sah ihn aber nicht.
In der Mitte des Platzes stand ein Bote, er sah verschwitzt und übernächtigt aus. In der Dunkelheit konnte Alena die Säulenbeine und die riesige keilförmige Schnauze des Dhatlas erkennen, mit dem er hergekommen war.
„Was ist denn nun passiert?“, rief jemand ungeduldig und die Menge lärmte zustimmend.
Erschöpft hob der Bote die Hand, bat um Ruhe. „In Alaak ist die Grenze zwischen Daresh und Draußen zusammengebrochen. Wahrscheinlich hat einer der Türme versagt. Jede Nacht kommen von drüben tödliche Wesen, die keiner von uns je zuvor gesehen hat …“
Schockiertes Schweigen herrschte auf dem Dorfplatz. Alena wagte kaum zu atmen. Alaak, die Provinz der Erd-Gilde, war nicht weit weg von hier, nur eine Tagesreise. Von dort waren es noch mal zehn Tagesreisen bis zur Außengrenze von Daresh. Was für Biester waren das, beim Feuergeist, und würden sie es schaffen, so weit ins Binnenland vorzudringen?
„Die Regentin hat schon all ihre Soldaten zur Grenze entsandt“, fuhr der Bote fort und musste einen Moment innehalten, bevor er die Kraft fand, fortzufahren. „Aber das genügt nicht. Der Rat bittet euch um Hilfe! Jede Hand zählt.“
„Wie sehen die Wesen denn aus?“, rief jemand.
Das Gesicht des Boten verzerrte sich. „Wie lebende massige Steine, aber Steine, die Mensch und Tier zerfleischen können. Eins der Dörfer in Grenznähe haben sie in einer einzigen Nacht ausgelöscht, es gab keine Überlebenden.“
„Eins ist sicher ? die Erd-Gilde wird’s nicht schaffen, mit den Biestern fertig zu werden“, flüsterte Jelica Alena ins Ohr.
Alena nickte. Im Gegensatz zur Feuer-Gilde waren die Erd-Leute friedlich, die meisten trugen nicht einmal Waffen.
„Vor allem brauchen wir Feuermeister“, erklärte der Bote. „Vielleicht gelingt es uns, den Turm neu zu beleben.“
Kilian schüttelte fassungslos den Kopf. „Hat der Kerl zu viel Beljas gekaut? Wenn die Türme vom Alten Volk gebaut worden sind, dann verstehen wir sie ja nicht einmal. Wie sollen wir sie dann reparieren?“
„Wir müssen es jedenfalls irgendwie hinkriegen“, sagte Alena. „Oder hast du Lust auf eine Herde blutdurstiger Wesen in eurem Erzlager?“
„Wir haben kein Erzlager“, zischte Kilian zurück.
„Dann halt in eurer Küche!“
Ein paar Leute beschwerten sich, sie sollten still sein. Alena und die anderen wandten sich wieder dem Boten zu, der gerade erklärte, an welcher Stelle die Wesen durchgebrochen waren und was die Truppe der Regentin inzwischen über sie herausgefunden hatte. „Feuer scheint ihnen nicht zu schaden, doch sie mögen Licht nicht. Man kann sie mit einem Schwert verletzen, aber nur sehr schwer töten. Wir haben gefällte Bäume als Barrieren verwendet, das hält sie etwas auf, wenn auch nicht lange. Sie fressen sich überall durch. Und sie ermüden nicht, sie folgen ihrem Opfer einfach so lange, bis es nicht mehr kann, und töten es …“
Ein paar Meter weiter leuchtete das helle Haar von Zarko aus der Menge. Er streifte sie mit einem kalten Blick. „Na, ist euch der Mut schon durchgerostet?“
„Zarko, kümmer dich um deine eigenen Klingen, ja?“, fauchte Jelica.
Hm, dachte Alena. Seit Kilian und Jelica nicht mehr zu Zarkos Gefolgsleuten zählen, ist die Stimmung zwischen ihnen deutlich abgekühlt!
„Ich wette, ihr seht die Grenze nicht mal von weitem“, flüsterte Zarko grinsend.
Alena zuckte die Schultern und beachtete ihn nicht mehr. Wieder schaute sie sich nach ihrem Vater um. Wo blieb er? Es konnte nicht sein, dass er von diesem Aufruhr nichts mitbekommen hatte! Auch Zarko hatte bemerkt, dass ihr Vater fehlte. „Na, traut er sich nicht her?“ Sein Grinsen wurde noch breiter.
Alena kniff leicht die Augen zusammen und blickte ihn ein paar Sekunden lang intensiv an, ohne zu blinzeln. Zarko wurde blass und wandte sich ab. Wirkt immer, dachte Alena zufrieden. Rena hatte ihr das beigebracht und erzählt, dass ihre Mutter Alix – die seit langem tot war – diesen „Raubtierblick“ gerne eingesetzt hatte. Rena selbst konnte ihn nicht nutzen. Sie war einfach zu nett, und das merkte man.
Ein Mann drängte sich durch die Menge. Alenas Herz machte einen Satz, als sie ihren Vater erkannte. Sie wollte ihm etwas zurufen … doch als sie sah, dass er zwischen den Menschen hinaustrat und auf den Boten zuging, vergaß sie es. Was hatte ihr Pa vor? Er war sehr förmlich gekleidet und trug seine Kampftracht. Es wurde still auf dem Dorfplatz, viele Augen folgten ihm.
„Ich weiß vielleicht, wie wir den Turm wieder in Gang bekommen“, sagte ihr Vater und seine klare, feste Stimme war überall auf dem Platz zu verstehen.
Der Bote musterte ihn erstaunt. „Wer seid Ihr?“
„Tavian ke Tassos“, antwortete ihr Vater, und Alena konnte sehen, dass der Bote sofort auf der Hut war. Eins war klar, er kannte die alten Geschichten.
„Dem Propheten des Phönix ist es damals geglückt, über die Grenze zu kommen und einen der Türme zu nutzen“, fuhr Tavian nüchtern fort. „Er hat mir etwas von dem erzählt, was er über sie herausgefunden hat. Deshalb weiß ich wahrscheinlich mehr darüber als jeder andere Mensch auf Daresh. Ich stelle mich Euch zur Verfügung.“
Der Bote hatte sich schnell von seiner Überraschung erholt. „Dann würde ich vorschlagen, dass Ihr noch heute Nacht abreist. Ich bin froh, dass Ihr helfen könnt.“
„Bleibt abzuwarten“, meinte Tavian grimmig. „Aber ich werde mein Bestes tun.“
Alenas Gefühle waren in Aufruhr. Ihr Pa würde nicht nur an der Grenze kämpfen, er würde jenseits von Daresh mit den Türmen helfen! Sie war stolz auf ihn und hatte gleichzeitig Angst. Es war gefährlich, was er vorhatte. Aber sie würde in trotzdem begleiten. Der Gedanke, die Grenze zu überschreiten, ließ ihr Herz schneller schlagen.
„Na also“, flüsterte sie Jelica zu. „Jetzt sehe ich doch noch, was auf der anderen Seite ist. Was ist, seid ihr dabei?“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dein Vater erlaubt, dass du mitgehst … und unsere Eltern werden ganz sicher etwas dagegen haben, dass wir mitgehen!“
Einen Moment lang war Alena besorgt. Doch dann legte sie die Hand an den Griff des Smaragdschwerts und erinnerte sich daran, dass sie ihre Feuerprobe bereits bestanden hatte. „Eigentlich kann mir mein Vater nichts mehr verbieten, schließlich bin ich schon Meisterin. Und eure Eltern … na ja, vielleicht schafft ihr es ja, sie zu überreden.“
Inzwischen hatten die Menschen begonnen unruhig zu tuscheln. Der Bote besann sich wieder auf seine Pflichten. „Jeder, der helfen möchte, begibt sich an die Stelle, wo die Grenze beschädigt ist“, rief er. „Dort organisiert der Rat der vier Gilden die Verteidigung. Es gibt Sammelpunkte in Fintar, Rellenjo und Girar, dort meldet ihr euch beim zuständigen Kommandanten der Freiwilligentruppen …“
Irgendjemand hatte ein zweites Dhatla gebracht, voll aufgezäumt schabte es mit den Grabkrallen auf dem Boden herum. Dunkel erhob sich sein riesiger gepanzerter Körper auf dem Dorfplatz.
Alena sah, dass ihr Vater zu ihr herüberkam. Dann stand er vor ihr, er roch nach Rauch und heißem Metall, dem unverwechselbaren Geruch der Schmiede. „Du bleibst hier ? ich möchte nicht, dass du gegen diese Biester kämpfst“, sagte er hastig und umarmte sie rasch. „In der Schmiede stehen noch zwei Meisterschwerter, die dringend fertig werden müssen – in ein paar Tagen kommt ein Kurier, der sie holt. Ich verlasse mich auf dich, Alena! Mach dir keine Sorgen, vielleicht bin ich schon in ein paar Wochen wieder da …“
„Aber …“, bekam Alena nur heraus.
Ihr Vater hörte sie nicht mehr. Er wechselte ein paar Worte mit dem Boten, dann zog er sich am Schuppenpanzer des Dhatlas hoch, das einem Meister aus dem Dorf gehörte. Die Erde bebte, als das Dhatla sich in Bewegung setzte und an ihnen vorbeistampfte. Der Bote ritt in der Gegenrichtung davon, aufs nächste Dorf zu.
Auf dem Dorfplatz, der von Hunderten qualmender Fackeln erleuchtet wurde, liefen aufgeregte Menschen umher, eilten die Bewohner von Gilmor laut diskutierend zu ihren Häusern, Schmieden und Ställen, um zu packen und sich von ihren Angehörigen zu verabschieden.
Wütend und enttäuscht blieb Alena auf dem Platz stehen und blickte hinter den Dhatlas her, die schon fast in der Dunkelheit verschwunden waren.
„So viel zu unserem Abenteuer an der Grenze“, sagte Kilian und seufzte.
***
Das Gartenhaus von Kerrik und Lilas im Grünen Bezirk von Ekaterin war einer der wenigen Orte, an denen Jorak willkommen war. Kerrik führte Handelsexpeditionen in den Lixantha-Dschungel, in dem er aufgewachsen war und in den sich nur wenige Menschen hineinwagten. Jorak hatte vor einigen Wintern begonnen, seinem Freund dabei zu helfen – Lixantha erschreckte ihn nicht, da er es durch Kerrik als einen Ort der Wunder kennengelernt hatte. Seither waren sie nicht nur gute Freunde, sondern auch Geschäftspartner, obwohl Kerrik es geheim halten musste, dass er mit einem Gildenlosen zusammenarbeitete.
Nun saß Jorak wieder einmal mit am Tisch im Heilpflanzengarten, und sein breitschultriger blonder Kompagnon stellte eine dampfende Pfanne mit Pfeilwurzeln auf den Tisch. „Greif zu, Jorak“, sagte Lilas und bot ihm eine Schüssel mit gerösteten Farnblättern an.
Beim Essen erzählte Jorak von den Neuigkeiten, die er auf dem Markt erfahren hatte. Seine Freunde lauschten entsetzt. „Beim Erdgeist, das klingt übel“, sagte Lilas. Ihr hübsches ovales Gesicht, das von dunklem Haar umrahmt wurde, war blass geworden. „Ob wir das bewältigen können? Selbst mit der Hilfe der Feuer-Leute?“
Kerriks Gesicht war grimmig ernst. „Wir müssen jedenfalls darauf vorbereitet sein, dass sie bis hierher kommen. Gleich morgen müssen wir anfangen die Verteidigung von Ekaterin zu organisieren. Jorak, du könntest …“
„Ich werde auch an die Grenze gehen“, sagte Jorak und plötzlich war es still am Tisch im Gartenhaus.
Entgeistert starrten seine Freunde ihn an. Klar, dachte Jorak, die beiden kennen mich nicht gerade als Kämpfer. Bin ich ja auch nicht. Er konnte selbst nicht genau erklären, warum er dem Ruf folgen wollte. Vielleicht, weil er das Gefühl hatte, dass Ekaterin ihm nicht mehr viel Neues bieten konnte, dass seine Zukunft nicht hier lag. Vielleicht wegen der Rastlosigkeit, die ihn seit ein paar Wochen quälte.
„Sie haben gesagt, jede Hand zählt“, meinte Jorak mit einem schiefen Grinsen. „Vielleicht haben sie einfach nur vergessen zu erwähnen, dass damit keine Gildenlosen gemeint sind.“
„Wahrscheinlich.“ Kerrik sah ihn nachdenklich an.
„Außerdem will ich weg aus Ekaterin“, gestand Jorak und wartete, wie sein bester Freund darauf reagieren würde.
„Ach so“, meinte Kerrik nur und fragte nicht nach dem Grund.
Schweigend aßen sie weiter und die unausgesprochenen Worte hingen wie Geister in der Luft zwischen ihnen. Ja, auch wegen dir will ich weg, dachte Jorak. Vielleicht wäre es besser gewesen, es zu sagen. Aber Jorak wollte Lilas nicht wehtun, indem er sie an Alena erinnerte. Sie und Kerrik hatten es gerade erst geschafft, ihre Liebe wieder zu heilen. Jetzt all das aufzuwühlen, was im Winter geschehen war, klang nicht nach einer guten Idee.
„Brauchst du noch etwas für die Reise? Können wir dir irgendwie helfen?“ Lilas legte ihm die Hand auf den Arm.
Jorak schüttelte verlegen den Kopf. „Ich schlage mich schon durch.“
„Immerhin hat er’s schon ein Dutzend Mal geschafft, Lixantha zu überleben – dann wird das an der Grenze auch irgendwie klappen“, knurrte Kerrik. „Die letzte Expedition in den Dschungel ist wirklich gut gelaufen, eigentlich könnte Jorak die Händler längst alleine führen …“
„Das hat nichts damit zu tun“, erwiderte Lilas gereizt. „Im Dschungel konntest du ihm zeigen, worauf er achten muss. Jenseits der Sieben Türme kennt sich keiner von euch beiden aus!“
Kerriks Blick verdüsterte sich. „Stimmt. Pass einfach auf dich auf, Jo. Lass dich nicht fressen.“
„Ich versuch’s, das kannst du mir glauben.“
„Jedenfalls zahle ich dir schon mal deinen Anteil aus der letzten Expedition aus, auch wenn mir die Händler das Geld noch schuldig sind.“ Kerrik ging seine Börse holen und zählte zwanzig Tarba auf den Tisch. Jorak blickte nachdenklich auf die matt glänzenden dreieckigen Münzen, nickte dann und steckte sie ein. Das war eine Menge Geld, und Jorak wusste, dass Kerrik ihm mehr gegeben hatte, als ihm eigentlich zustand. Aber es wäre nicht klug gewesen, abzulehnen. Er wusste, er musste mehr als die Hälfte davon für ein paar ordentliche Waffen ausgeben. Wenn man den Gerüchten glauben konnte, würde er mit dem Messer nicht viel ausrichten können gegen die Wesen, die nördlich von hier über die Grenze kamen.
„Vielleicht kannst du uns ja mal eine Nachricht schicken“, sagte Kerrik.
„Und ihr mir auch.“ Jorak grinste. „Sonst komme ich zurück und stelle fest, dass Ekaterin gar nicht mehr da ist.“
Lilas lächelte etwas gezwungen. Sie kam mit seinem schwarzen Humor nicht besonders gut klar, und es tat Jorak leid, dass er sich den Witz nicht verkniffen hatte. Er umarmte sie und Kerrik, dann machte er sich auf den Weg. Obwohl er merkte, dass Kerrik und Lilas ihm nachsahen, drehte sich nicht mehr um. Die beiden sollten nicht merken, wie schwer ihm der Abschied fiel.
***
Du bleibst hier ? ich möchte nicht, dass du gegen diese Biester kämpfst. Immer wieder echote es in ihrem Kopf. Alena spürte, wie Wut auf ihren Vater in ihr hochbrodelte. Wie hatte er so was sagen können? Wieso hatte er sie nicht mal gefragt, was sie tun wollte? Die paar Atemzüge dafür hätte er sich nehmen können! Er hatte ihr einfach seine Wünsche aufgedrückt. Bedeutete es gar nichts, dass sie Meisterin war und damit ganz offiziell erwachsen?
Ich verlasse mich auf dich, Alena!
Alena verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die schräge metallene Decke ihres Zimmers. Sie tastete sich an den Gedanken heran, wie es wäre, über die Grenze zu gehen und einfach weiterzuziehen, das Land dahinter zu erkunden. Hinein ins Unbekannte. Dinge sehen, die noch nie jemand gesehen hatte. Durch Gegenden reisen, in denen seit Tausenden von Wintern kein Bewohner Dareshs mehr gewesen war. Es würde gefährlich werden, selbst für eine Schwertkämpferin wie sie und mit einem Begleiter wie Cchraskar. Würde sie das schaffen, ging das überhaupt? Was war, wenn sie drüben in Schwierigkeiten geriet? Dann könnte niemand ihr helfen und niemand würde je erfahren, was mit ihr geschehen war …
Sie nahm einen Schluck Cayoral direkt aus der Kanne, die ihr Vater am Nachmittag aufgebrüht hatte. Dabei verschüttete sie ein paar Tropfen, und erschrocken sah sie, dass ihre Hände zitterten.
Du hast Angst, wurde es Alena klar. Und trotzdem willst du dorthin. Unbedingt. Was ist eigentlich mit dir los? Alle werden dich für verrückt halten. Und Pa wird schrecklich wütend auf dich sein.
Du bleibst hier ? ich möchte nicht, dass du gegen diese Biester kämpfst.
Immerhin: Davon, dass ich nicht über die Grenze gehen soll, hat er nichts gesagt, dachte Alena trotzig. Außerdem habe ich nichts versprochen. Er hat mich nicht gefragt und ich habe nicht Ja gesagt.
Sie brauchte jemanden, der ihr einen Rat geben konnte. Vielleicht war dieser Jemand nicht einmal ein lebendes Wesen. Nachdenklich zog Alena ihr Schwert. Ob es ihr noch einmal einen Traum schicken konnte? Sie strich mit den Fingern über den großen Smaragd, der im Griff eingebettet war. Bei ihrem Kampf gegen den Weißen Panther hatte ihr Schwert ihr durch Träume geholfen, ihr einen Weg gezeigt, wie sie mit dem Dämon fertig werden konnte …
Alena legte die Hand um den Ledergriff ihres Schwerts und zwang sich, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, zur Ruhe zu kommen. Sie musste einschlafen! Doch die Nachricht vom Fall der Grenze, die Aufregung, ließ sich nicht so leicht verdrängen. Es schien ewig zu dauern, bis ihre Augenlider schwer wurden, bis sie es schaffte, wegzudämmern …
Wirbelnder Nebel. Alena sieht kaum die Hand vor dem Gesicht. Nervös bleibt sie stehen, blickt sich um, versucht im weißen Nirgendwo etwas zu erkennen. Schritt für Schritt wagt sie sich hinein ins Unbekannte. Doch auf einmal kann sie es kaum mehr erwarten, anzukommen. Freude durchpulst sie. Sie beginnt zu rennen, obwohl sie nicht sieht wohin. Der Nebel lichtet sich etwas, gerade genug, dass Alena eine eigenartige Landschaft dahinter ahnen kann, und eine schlanke Gestalt, die sich gegen den hellen Himmel abzeichnet …
Mit einem Ruck erwachte Alena. Der Cayoral, den sie vorhin verschüttet hatte, war noch nicht getrocknet; sie konnte kaum mehr als ein paar Momente geschlafen haben. Langsam löste sie die Finger vom Griff ihres Smaragdschwerts. Ein Echo der Freude, die sie vorhin gespürt hatte, kehrte zurück, als sie an den Traum dachte. Jetzt war sie sicher, dass sie jenseits der Grenze etwas Wunderbares finden konnte. Etwas, das ihr Leben verändern würde.
Sie musste aufbrechen – sobald wie möglich.
Doch ein nagendes schlechtes Gefühl in ihrem Inneren blieb. Es fühlte sich nicht gut an, einfach so zu gehen. Sie wünschte, sie hätte sich richtig von ihrem Vater verabschieden können. Ich brauche mal wieder ein Ritual, dachte Alena. Ein Abschiedsritual. Aber nicht jetzt. Kurz bevor ich gehe.
Sie begann die Sachen zusammenzusuchen, die sie für die Reise brauchte. Auch als sie hörte, wie jemand die Pyramide betrat, Schritte im Gang wahrnahm, packte sie weiter. Sie wusste längst, wer das war. Jelicas Schritte waren leichtfüßig und übermütig, Kilians ein wenig schüchtern, gleichmäßig. Alena wandte sich erst um, als sie Jelicas Stimme hörte.
„Du gehst also trotzdem.“ Jelica lehnte im Türrahmen. „Überrascht mich ehrlich gesagt nicht. Aber was ist mit den Schwertern, die du fertig schmieden sollst?“
Alena ließ sich nicht beim Packen stören. Eine zweite Tunika zum Wechseln, Schleifstein, Verbandszeug – jetzt brauchte sie nur noch Proviant. „Ich arbeite heute die Nacht durch. Meinetwegen auch noch den ganzen Tag morgen. Aber dann mache ich mich auf den Weg.“
„Allein? Zu Fuß?“ Kilian sah beeindruckt, aber auch ein bisschen besorgt aus. Er hockte sich auf eine Werkbank und stützte sich mit den Armen nach hinten ab.
„Nicht allein“, sagte Alena, hob den Kopf und sog die Luft ein. Sie musste lächeln. Es war nicht schwer zu merken, dass ihr bester Freund in der Nähe war, dazu roch er zu stark nach Raubtier. „Cchraskar, ich finde es ganz schön albern, dass du dich versteckst!“
„Vorrsicht ist bessser als blaue Fleccken, Feuerblüte.“ Das haarige Gesicht des Iltismenschen lugte hinter der Tür hervor. Als Cchraskar grinste, kamen seine Fangzähne prächtig zur Geltung. „Die mögen micch nicht hier im Dorrf.“
„Warum hast du Meister Palek auch den Torquil-Braten geklaut, den er zum Dörren rausgehängt hatte?“ Alena schüttelte den Kopf. „Das war nicht gerade schlau! Er konnte sich denken, wer’s war.“
Kilian und Jelica beobachteten Alenes besten Freund mit großen Augen. Obwohl sie Cchraskar schon ein paarmal gesehen hatten, faszinierte er sie noch immer. Man sah nicht oft Halbmenschen in den Siedlungen, meistens blieben sie unter sich und scherten sich nicht um die „Dörflinge“ – denen sie Spitznamen gaben, die oft weniger schmeichelhaft waren als Alenas Name „Feuerblüte“.
„Habt ihr gefragt, ob ihr mitkommen dürft?“, fragte Alena die Geschwister.
Kilian blickte zur Seite, sein Mund war verkniffen. „Ja. Keine Chance, wie ich’s mir schon gedacht habe.“
„Schade“, meinte Alena und versuchte, nicht zu zeigen, wie enttäuscht sie war. Es wäre eine nette Abwechslung gewesen, menschliche Gesellschaft zu haben.
Jelica blickte sie neugierig an. „Was genau hast du vor? Wirst du mitkämpfen?“
„Nein.“ Alena zurrte den Ledergurt um ihr Gepäck fest. „Nur wenn mir eins von den Viechern über den Weg läuft. Eigentlich will ich über die Grenze. Dass einer der Türme zusammengebrochen ist, ist eine Chance, wie es sie nur einmal im Leben gibt. Ja, ich weiß, das ist irgendwie egoistisch. Alle anderen verteidigen Daresh, nur ich nicht. Aber ich muss es einfach tun.“
„Suchst du nach dem Schatz?“ Kilian sah sehnsüchtig aus.
„Vielleicht – wenn ich gerade Zeit habe“, antwortete Alena. Der Schatz war ihr nicht besonders wichtig. Tavian und sie waren nicht arm. Wozu sollten sie noch mehr Besitz horten? Alena hatte kein Interesse daran, in einem Palast zu leben oder ein eigenes Dhatla zu reiten. Nur dass man sich in Atakán angeblich Liebesglück herbeiwürfeln konnte, klang interessant. Sie musste wieder an Kerrik denken, an sein sonnenfarbenes Haar und seine ruhige Kraft. Vergiss es, dachte sie streng. Vergiss ihn endlich, Rostfraß und Asche!
„Ach verdammt“, rief Kilian. „Ich komme mit!“
Jelica fuhr herum. „Ich glaube, der Gedanke an diese dreimal verfluchten Würfel von Atakán hat dir das Hirn geröstet!“
„Es geht mir nicht nur um den Schatz.“ Kilian blickte ärgerlich und ein wenig schuldbewusst drein. „Diese Biester einfach an der Grenze zurückzuschlagen reicht nicht. Wir sollten herausfinden, wo sie herkommen und ob dort drüben vielleicht noch Schlimmeres lauert. Ich wette, sie werden uns noch dankbar sein dafür, dass wir uns nach drüben gewagt haben!“
Gute Idee, dachte Alena anerkennend. Die muss ich mir merken, falls irgendjemand auf die Idee kommt, mir Vorwürfe zu machen.
Doch Jelica schienen Kilians Worte eher noch wütender zu machen. Sie stieß sich vom Türrahmen ab und blitzte ihren Bruder an. „Und was ist, wenn sie den Turm reparieren, bevor ihr zurückkommt?“
„Das werden sie nicht so bald hinkriegen“, sagte Alena und entschuldigte sich in Gedanken bei ihrem Vater dafür.
„Keine Sorge, ich passe sccchon auf sie auf“, behauptete Cchraskar und sträubte wichtigtuerisch sein Fell, sodass er viel größer wirkte, als er war.
„Na gut“, meinte Jelica plötzlich. „Ich komme auch mit.“
Alena war verblüfft. Doch als sie sah, wie Jelica Kilian anblickte, begriff sie. Sie brachte es nicht fertig, ihren Bruder allein gehen zu lassen. Ihren kleinen Bruder, der inzwischen größer war als sie.
***
Zwei Tage später, als die neuen Meisterschwerter fertig zum Abholen bereitlagen, stand Alena noch vor dem Morgengrauen auf. Obwohl sie fast die ganze Nacht durchgearbeitet und sich nur kurz hingelegt hatte, war sie nicht müde. Wieder einmal war sie dankbar dafür, dass Feuer-Leute in Zeiten der Gefahr wenig Schlaf brauchten.
Ernst und konzentriert legte Alena die schwarze Tracht an, die die Feuer-Gilde zum Kampf trug. Dann wanderte sie zu einem Hügel in der Nähe, von dem aus man das ganze Dorf überblicken konnte. Dort setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden. Schweigend, das blanke Schwert auf den Knien, wartete sie auf den Sonnenaufgang. Es war ein herrlicher Anblick, als die ersten hellen Strahlen die Spitzen der Pyramiden wie mit flüssigem Gold überzogen.
Alena war feierlich zumute. Sie stand auf und verbeugte sich leicht, so wie es vor einem rituellen Kampf üblich war. „Es war eine gute Zeit in Gilmor“, sagte sie und versuchte ihre Stimme fest und sicher klingen zu lassen.
Sich von der Schmiede zu verabschieden, in der sie aufgewachsen war, fiel ihr schwerer. Alena sah sich ein letztes Mal darin um. Das Feuer in der Esse war ausgegangen und die beiden Ambosse kauerten schwer und klobig auf dem Boden. Hier und dort standen halb fertige Schwerter herum, der ungeschliffene Stahl noch dunkelgrau und voller kleiner Dellen, sodass die Klingen aussahen wie aus Stein gehauen. Es roch nach kaltem Rauch und Asche. Nur wenn das große Schmiedefeuer brannte, war dieser Ort wirklich lebendig.
Sie wickelte das Messer mit dem Griff aus Schlangenbaumholz – ihre Meisterarbeit ? in ein weiches Tuch und ließ es mitten auf dem großen Tisch. Dort würde ihr Vater es sofort sehen. Es war gleich nach dem Smaragdschwert das Wertvollste, was sie besaß.
Dafür suchte sie sich aus seinen Dingen etwas aus, das sie mit ihm verband und bei sich tragen konnte. Sie entschied sich für eine kleine Schriftrolle mit einem seiner Gedichte, das sie besonders mochte, und verwahrte sie sorgfältig in einer Innentasche ihrer Tracht. Eine gute Wahl, dachte Alena. Gedichte sind ein Stück Seele des Menschen, der es geschrieben hat …
Alena war nicht nach Reden zumute, als sie mit Kilian und Jelica nach Norden aufbrach, und die Geschwister schienen es zu spüren, denn sie waren genauso einsilbig. So lange sie noch in der Nähe des Dorfs waren, gingen sie abseits der Wege. Hier in der Gegend riskierten sie jemanden zu treffen, der sie kannte – und der wusste, dass ihnen ganz bestimmt niemand erlaubt hatte dem Ruf zu folgen. Alena hatte keine Lust, Fragen beantworten zu müssen.
Es war eine gute Zeit, um durch Tassos zu wandern. Jetzt, im Frühling, heizte sich der schwarze Sand zwar tagsüber auf, aber frühmorgens war die Luft noch frisch und kühl. Alena war froh, dass sie den warmen Umhang mitgenommen hatte, der einst ihrer Mutter Alix gehört hatte. Ihre Sandalen knirschten auf dem harten Vulkangestein und Alena hörte das Tappen von Cchraskars Pfoten neben sich. Ab und zu zertrat sie versehentlich die Blüten eines Wüstenveilchens und ein schwacher süßlicher Geruch zog durch die Luft.
„Bähhh“, meckerte Ccchraskar. „Das verstopft einem jarr die Nase wie eine Pfütze Düftwasser!“
Alena hörte ihm kaum zu. Sie fühlte sich unsicher. Eigentlich wusste sie nicht gerade viel über Kilian und Jelica. Es war gar nicht so lange her, dass sie ihr die Messer ins Gesicht gehalten hatten, weil sie Zarkos Getreue waren und Zarko mit Alena abrechnen wollte. Und jetzt reisten sie zusammen. Alena fragte sich, ob sie sich auf die beiden verlassen konnte. Ihr Gefühl sagte Ja. Sie hatte die beiden von Anfang an gemocht, auch wenn sie als Zarkos Gefährten um ein Haar mit ihr gekämpft hätten. Vielleicht musste man manchmal auf seinen Instinkt hören … und alles andere auf sich zukommen lassen.
Am nächsten Tag erreichten sie Alaak und stießen auf die große Handelsstraße. So voll hatte Alena sie noch nie gesehen. Tausende von Menschen aller Gilden strebten nach Norden – aber es gab auch viele Flüchtlinge, die sich mit ihren Habseligkeiten nach Süden davonmachten, plärrende Kinder an den Händen und Säuglinge in geflochtenen Tragtaschen auf dem Rücken. Selbst ohne ihre Amulette zu sehen erkannte Alena an ihren großen dunklen Augen und kräftigen Fingern, dass sie zur Erd-Gilde gehörten. Von Rena wusste sie, dass die meisten Erd-Menschen unterirdisch lebten und Tunnel gruben.
„Ganz schön was los hier“, sagte Kilian beeindruckt. „Der Ruf hat sich schnell verbreitet …“
Alena und die anderen gingen am Rand der Straße, um nicht versehentlich von einem der Dhatlas niedergetrampelt zu werden, die die Straße entlangschlurften. Heller Staub lag in der Luft und setzte sich in Alenas Nasenlöchern fest. Das Quietschen von Karrenrädern, das Schleifen von Grabkrallen und die Rufe von Menschen klangen ihnen in den Ohren.
„Ich würde vorschlagen, wir lagern heute Nacht irgendwo in den Wäldern, ein ganzes Stück weg von der Straße“, schlug Alena vor und hielt sich die Nase zu, als ein Dhatla neben ihr einen riesigen, dampfenden Haufen auf die fest gestampfte Erde setzte. „Da ist es ruhiger!“
„Ja, schlafen wir uns noch mal richtig aus“, meinte Jelica und nahm einen Schluck aus ihrem ledernen Trinkbeutel. „Bevor wir zu nah an der Grenze sind. Hat der Bote nicht gesagt, dass die Wesen nachts auf Jagd gehen?“
„Doch. Wir müssen bald anfangen, tagsüber zu schlafen und nachts zu wandern. Ich will nicht im Schlaf von so einem Biest überrascht werden.“ Alena war das ganz recht, sie war sowieso ein Nachtmensch.
Kilian wirkte nachdenklich und wurde immer stiller. Schließlich fragte ihn Alena vorsichtig: „Alles klar mit dir?“
„Inzwischen wissen unsere Eltern, dass wir weg sind. Aber ich glaube, die werden uns nicht suchen können. In diesem Getümmel – keine Chance.“
„Das stimmt“, sagte Alena – und wurde nun selbst schweigsam. Nach mir sucht keiner, dachte sie. Ihr Vater wusste nicht, dass sie die Schmiede im Stich gelassen hatte, Rena und Tjeri hatten keine Ahnung, was Alena vorhatte, und sonst interessierte sich niemand dafür, was sie tat und wo sie war.
Es war ein berauschendes Gefühl, dass sie nun wieder selbst über ihr Schicksal bestimmte. Aber Angst machte es ihr auch.