Читать книгу Feuerblüte II - Катя Брандис - Страница 7
Retter in Not
ОглавлениеAlena gönnte sich und den anderen keine Pause. Sie mussten bis zum Turm und darüber hinaus, bevor die Nacht einbrach. Zum Glück kamen sie erstaunlich gut voran. Sie ließen den Turm hinter sich und kletterten in die flache Felsenlandschaft jenseits davon. Der Fels war von Höhlen durchzogen, die sich als Übernachtungsplätze eigneten.
„Schaut mal, hier können wir uns verschanzen!“, rief Jelica begeistert und kroch in eine Höhle hinein. Alena hielt ihr Schwert bereit ? in Höhlen konnte allerlei Viehzeug lauern. Sie merkte, dass der Smaragd am Griff wieder schwächer leuchtete. Es wollte, dass ich über die Grenze gehe, dachte sie. Ich habe Recht gehabt, das war mein Schicksal.
Cchraskar gab nach kurzem Wittern Entwarnung. Sie hatten Glück, die Höhle war leer. Der Boden war von trockenem Sand bedeckt. „Ich hole schon mal Felsbrocken, mit denen wir den Eingang blockieren können“, sagte Kilian und Alena begleitete ihn, um ihm zu helfen. Als die Sonne unterging, hatten sie den Eingang verbarrikadiert. Keinen Moment zu früh, kurz darauf begann draußen das Kratzen und Scharren. Doch die Wesen schafften es nicht durch die Barriere.
„Möget ihrr an eurem eigenen Sabber ersssticken!“, fauchte Cchraskar mit diebischem Vergnügen durch das kleine Luftloch.
Erleichtert wechselten sich Alena und die Geschwister mit den Wachen ab, damit keine kleine Zecken den Weg hereinkrochen, und fanden endlich etwas mehr Schlaf.
„Sieht aus, als hätten wir den schwierigsten Teil hinter uns“, sagte Alena am nächsten Nachmittag, als der Turm hinter ihnen nur noch ein winziger Fleck am Horizont war. Sie freute sich, dass zur Abwechslung alles gut klappte.
Kurz darauf fanden sie in einer Senke zwischen den Felsen die Skelette.
„Was ist denn hier passiert?“, fragte Kilian entgeistert.
Alena untersuchte die Knochen. Es waren drei Dutzend Skelette von Menschen und Halbmenschen. Sie waren von der Sonne weiß gebleicht und bereits brüchig. Schwer zu sagen, wie lange sie schon hier lagen. Wahrscheinlich etwa fünfzig Winter. „Hm, ich fürchte, ich weiß noch nicht mal, was das gewesen ist“, meinte Alena und deutete auf zwei der Skelette. Eins war klein und vierpfötig, hatte aber einen recht menschlich wirkenden Schädel. Ein anderes war größer als jeder Halbmensch, den sie je gesehen hatte, die Knochen waren wuchtig und die Krallen an den Pfoten beeindruckend.
„Ich glaube, der Kleine war ein Dachsmensch“, sagte Kilian. „Sie können kaum sprechen und sollen nicht sonderlich intelligent sein. Man sieht sie selten, weil sie in Alaak tief unter der Erde leben.“
„Woher weißt du dann, dass es sie gibt?“ Jelica zog die Augenbrauen hoch. „Sag bloß, du hast schon mal einen gesehen.“
„Äh, nein. Habe ich gelesen“, gab Kilian zu.
„Das anderrre ist ein Bärenmensch“, knurrte Cchraskar. „Gibt nur wenige von ihnen, wenige. Sie leben in den Grenzland-Bergen.“
„Stimmt, ihr habt recht“, meinte Alena, nachdem sie im Geist die seltenen Halbmenschenarten dieser Gegend durchgegangen war. Gepardenmenschen gab es nur im Grenzland zwischen Tassos und Nerada, es lebten nur noch wenige von ihnen. Sie würden vermutlich – wie die Kobramenschen ? bald aussterben. Die anderen seltenen Arten lebten weit weg von hier in Nerada oder Vanamee.
„Wonach sieht das für euch aus? Insgesamt, meine ich?“, fragte Kilian.
Alena richtete sich auf und blickte sich unruhig um. „Nach einer gescheiterten Expedition. Wahrscheinlich sind sie hier in einen Hinterhalt geraten. Cchraskar, irgendein Anzeichen für Gefahr?“
„Nein. Allerdings folgt uns ein Menssch, folgt uns, seit wir die Grenze überschritten haben.“
Sie starrten ihn an. „Klingenbruch, wieso sagst du das erst jetzt?“, stöhnte Kilian.
„Es ist nur der Kerrl mit dem dunklen Umhang – ich glaube nicht, dass er gefährlich ist“, brummte Cchraskar und kratzte sich mit einer Vorderpfote hinter dem Ohr. „Jetzt versteckt er sich gerade hinter einem Felsen.“
„Er ist immer noch in unserer Nähe?“ Jelica war verblüfft.
Alena nickte. „Ja, schon seit der Schänke, glaube ich. Mir wäre wohler, wenn ich wüsste, was er vorhat.“
„Vielleicht will er uns ausrauben“, schlug Kilian vor.
„Haha“, sagte Jelica und zupfte an ihren Augenbrauen, so wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte. „Das hätte er schon längst tun können. Wahrscheinlich braucht er keine abgewetzten Reiseausrüstungen und hässliche, schartige Lehrlingsschwerter.“
„Vergiss nicht Alenas Smaragdschwert – das ist einiges wert …“
„Er müsste schon sehr dumm sein, um das klauen zu wollen!“
„Stimmt“, gab Kilian zu. „Vielleicht ist es gar kein Räuber. Sondern Zarko, der auf die richtige Gelegenheit wartet, uns eins auszuwischen.“
„Der ist viel zu langsam für Messerkunstücke“, wandte Alena ein und blickte besorgt Richtung Horizont. Die Sonne stand schon sehr niedrig. „Los, lasst uns hier irgendwo eine Stelle suchen, wo wir zeckenfrei übernachten können.“
Sie wollte aus dieser Senke weg. Es war kein besonders angenehmes Gefühl, an einem Ort zu stehen, an dem schon einmal eine Gruppe aus Daresh überfallen worden war.
In der nächsten Senke war der Boden nicht so steinig, sondern viel glatter. Fast genau in der Mitte lag eine altertümliche, fast von Sand zugewehte Tasche, aus der eine Schriftrolle ragte. „He, das sieht interessant aus!“, rief Kilian und lief darauf zu; Jelica, Alena und Cchraskar folgten ihm.
Das war, wie sich herausstellen sollte, keine gute Idee.
***
Als Jorak das Geräusch hörte, wusste er, dass etwas ganz fürchterlich schief lief. Es war ein Knirschen, das durch seinen ganzen Körper vibrierte. Jorak presste die Hände auf die Ohren. Aber das widerliche Plapp, das danach kam, hörte er trotzdem.
Es klang wie eine zuschnappende Falle.
Wie haben diese vier eigentlich so lange ohne einen Vollzeit-Beschützer überlebt?, fragte sich Jorak und spähte hinter seinem Felsen hervor. Was er sah, erschreckte ihn bis ins Mark. Die Senke, in die Alena und ihre Freunde hinabgelaufen waren, gab es nicht mehr. Dort wölbte sich nun eine kuppelförmige, rötlich-braune Membran. Sie sah aus, als gehörte sie zu einer Art von Pflanze, die er nicht unbedingt näher kennen lernen wollte. Die sich geschlossen hatte wie eine Faust, als sie Beute im Inneren spürte.
„Ach du große Wolkenschnecke“, murmelte Jorak und kroch hinter seinem Felsen hervor. Er war den Tränen nahe. Wo war Alena? Etwa da drin? „Diese verdammte Tasche war ein Köder. Und ich wette, die Skelette sind das, was nach dem Verdauungsvorgang übrig bleibt.“
Es war niemand da, der ein Interesse daran hatte, mit ihm zu wetten.
Er zog sein Schwert und versuchte die Membran aufzuschlitzen. Ging nicht, zu zäh. Er überlegte, ob er eine Steinlawine organisieren sollte – darin hatte er schließlich schon Übung –, entschied sich aber dagegen. Lawinen hatten die unangenehme Nebenwirkung, dass sie alles zerquetschten, was unter sie geriet. Also Alena und ihre Freunde gleich mit.
Die Sonne geht bald unter, schoss es Jorak durch den Kopf. Ich muss mich beeilen mit dem Nachdenken. Außerdem ersticken sie sonst da drinnen.
Er schloss einen Moment lang die Augen und zwang sich, die Verzweiflung an den Rand seines Bewusstseins zu schieben. Ihm fiel trotzdem nichts ein. Bis er die erste große Steinzecke des Abends auf sich zukommen sah. Sie fressen sich überall durch, erinnerte er sich. Wer innerhalb von zehnmal zehn Atemzügen einen Baum durchnagen kann, für den ist das hier auch kein Problem.
Jetzt kam es nur darauf an, die Steinzecke für diese Art von Nahrung zu interessieren. Bisher zeigte das Biest nicht viel Lust, die Pflanze zu probieren. Wenn sie gut schmecken würde, wäre sie auch schon vor langer Zeit gefressen worden, folgerte Jorak. Ich fürchte, ich habe nur einen einzigen Köder …
Er setzte einen Fuß auf die Kuppel. Es wabbelte ein bisschen und roch wie in der Sonne gut durchgebackenes Leder. Die Kuppel war steil, aber sie hatte genug Unebenheiten, um sich vorsichtig daran hochziehen zu können. Jorak krallte die Finger in die Oberfläche, schob sich nach oben, suchte einen neuen Halt, kroch weiter, immer ein Stückchen höher. Das schien der Pflanze nicht sonderlich zu gefallen, sie zuckte jedes Mal. Recht geschah es ihr.
Am Fuß der Kuppel hatte sich inzwischen ein halbes Dutzend Zecken versammelt. Jorak versuchte nicht darüber nachzudenken, wie er und die anderen eigentlich nach vollbrachter Befreiung entkommen sollten. Gierig tasteten die Mäuler der Zecken nach ihm – und wandten sich der Aufgabe zu, an den Leckerbissen heranzukommen.
Jorak hatte Recht gehabt. Sie schafften auch die Fallenpflanze in zehnmal zehn Atemzügen. Schon das erste Loch in der Membran machte einen Unterschied. Leider den, dass die Kuppel ein Stück in sich zusammensackte. Die Steinzecken waren jetzt nur noch drei Menschenlängen von ihm entfernt, und die ersten probierten, ob die Membran ihren Beinen schon besseren Halt bot. Das war nicht der Fall. Also kauten sie weiter.
Und jetzt die Abschluss-Akrobatik, dachte Jorak. Er robbte erst zur einen Seite der nur noch halb aufgeblasenen Kuppel, drehte dann um, so schnell er konnte, und arbeitete sich zur anderen Seite vor. Das gab ihm drei oder vier Atemzüge Vorsprung. Er warf sich auf den Boden und spähte durch eins der Löcher in der Pflanzenmembran. Glück gehabt – sie lebten alle vier noch, lagen nur ziemlich benommen da.
„Schnell! Raus!“, brüllte er sie an – und fühlte, wie ein schrecklicher Schmerz ihn durchzuckte.
Er schrie auf, ließ den Rand der Membran fallen und fuhr herum. Eine der großen Steinzecken kauerte halb über ihm. Sie hatte ihn am Bein erwischt und hielt ihn mit den Zähnen fest.
Jorak wurde klar, dass er diesmal zu viel gewagt hatte. Jetzt musste er den Preis dafür zahlen.
***
Alena hockte am Eingang der Höhle, den sie verbarrikadiert hatten, und spähte durch das Luftloch nach draußen. Sie wartete auf den Sonnenaufgang und versuchte nachzudenken, während die anderen erschöpft schliefen. Was war eigentlich passiert? Diese Tasche. Sie waren in die Senke gelaufen … dann der Schock, hochgerissen zu werden, ein betäubender Gestank, dann nichts mehr. Als sie aufgewacht war, hatte sie jemand angeschrien. Der Mann mit dem dunklen Umhang. Aber dann war auch er weg gewesen. Mit Mühe und Not hatten sie es geschafft, sich in diese Höhle zu retten.
Eins ist klar, dachte Alena. Wir sind in die Falle gegangen. Und der Fremde hat uns mal wieder rausgeholt.
Trotzdem – das ergab alles keinen Sinn. Sie begriff es nicht, wollte es nicht begreifen.
Alena war froh, als das erste Tageslicht durch das Luftloch schimmerte. Sofort machte sie sich daran, die Felsbrocken abzutragen, die sie vor den Eingang gewälzt hatten. Das Poltern weckte die anderen.
„Mir tut alles weh“, stöhnte Kilian. „Wir sollten vorsichtiger sein, wenn wir weiterreisen.“
„Das sagt der Richtige! Wenn ich mich genau erinnere, warst du’s, der voll auf diesen Köder angesprungen ist.“ Jelica gähnte. „Das Ding muss dich gekannt haben, die Schriftrolle war ja wie für dich gemacht. He, Cchraskar, leg dich woanders hin, ich glaube, du hast Flöhe!“
„Klar, hab ich“, maunzte Cchraskar stolz.
Kilian setzte sich auf und schaute zu Alena hinüber. „Was hast du vor? Wozu die Eile?“
„Wir müssen uns draußen umschauen.“ Alena wuchtete einen Brocken beiseite. Jetzt war das Loch groß genug zum Durchklettern. „Ich will wissen, was aus dem Mann im dunklen Umhang geworden ist.“
Jelica kramte auf der Suche nach etwas Essbaren in ihrem Gepäck herum. „Was schon? Er wird sich irgendwo verschanzt haben, so wie wir. Du wirst sehen, wenn wir uns auf den Weg machen, wird er uns wieder folgen. Warum auch immer.“
Da war sich Alena nicht so sicher. Die Art, wie der Fremde plötzlich verschwunden war, machte ihr Sorgen. „Ich glaube, er ist verletzt worden. Ich reise erst weiter, wenn ich weiß, ob er in Ordnung ist.“
Es war unheimlich, wieder dorthin zurückzukehren, wo der Kampf stattgefunden hatte. Beeindruckt hob Kilian die angefressenen Reste der Fallenpflanze hoch und ließ sie ächzend fallen. „Das wiegt einiges! Scheint nur aus Muskeln zu bestehen.“
„Pass auf, vielleicht lebt das Ding noch“, warnte Jelica und hob ihr Gepäck auf, das wild verstreut in der Gegend herumlag.
Cchraskar biss versuchsweise in ein schlaffes Stück Pflanze. Nichts zuckte mehr. „Das ist richtig tot und das ist gut so, gut.“
Alena fand die Stelle, an der sie gestern unter der Kuppel herausgekrochen waren. Und dort entdeckte sie Blutspuren. Ich hatte Recht, er ist verletzt, dachte sie betroffen. Hoffentlich ist er nicht zu schwach gewesen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Als die anderen das Blut sahen, begriffen sie endlich, wie ernst die Sache war. Sie machten sich in grimmigem Schweigen daran, den Spuren zu folgen. Wenn er tot ist, ist das unsere Schuld, dachte Alena mit einem scheußlichen Gefühl in der Magengrube.
„Vielleicht ist er heute Nacht irgendwo verblutet“, sagte Kilian und sprach damit genau das aus, was Alena ebenfalls befürchtete.
Jelica verzog das Gesicht. „Ich fürchte eher, die Steinzecken haben nichts von ihm übrig gelassen.“
Alena schwieg und folgte den Spuren, bis sie zu einer Höhle kamen. Erleichtert sah sie, dass Steine den Eingang verschlossen. Er hatte es also noch geschafft, seinen Unterschlupf zu sichern. Aber was würden sie dort drinnen finden?
Hastig räumten sie die Felsbrocken beiseite. Die Höhle war nicht tief, nur drei Menschenlängen, und so flach, dass man nicht darin stehen konnte. Im Tageslicht, das durch den Eingang fiel, sah Alena eine dunkle Gestalt, die mit dem Rücken zu ihnen gekrümmt auf dem Boden lag. Sie lag sehr still.
„Klingenbruch, er ist tot“, sagte Kilian.
„Ist er nicht“, erwiderte Jelica. „Er ist bewusstlos, das sieht man doch.“
Alena sagte nichts. Sie schob sich durch den Eingang, kniete sich neben den Fremden und tastete nach seinem Puls. Als sie sein Handgelenk berührte, stöhnte er und bewegte schwach den Kopf. Er lebte! Anscheinend war er nur geschwächt, vielleicht waren die Bisse der Steinzecken giftig.
Alena atmete tief durch. Sie war froh, dass sie für ihre Meisterprüfung so viel Heilkunde gepaukt hatte. Vorsichtig prüfte sie, wo der Fremde verletzt war. Sah aus, als hätte ihn eins der Biester über dem Knie und dann noch mal weniger tief am linken Oberarm erwischt. An beiden Stellen schnitt sie den blutigen Stoff seiner Tunika weg – he, er trug ja drei Schichten Kleidung übereinander! ? und wusch die Wunden mit Pfeilwurzel-Sud aus, damit sie sich nicht entzündeten. Gut dass er so weggetreten war, sonst hätten sie ihn spätestens jetzt festhalten müssen. Ihr fiel auf, wie dünn er war. Hatte er in den letzten Monaten zu wenig gegessen?
Jelica hatte inzwischen eine Fackel angezündet und leuchtete ihr. Alena wusste selbst nicht, warum sie vermied, dem Mann ins Gesicht zu blicken. Erst als sie seine Wunden verarztet und den letzten Verband festgesteckt hatte, dachte sie: Gut. Jetzt will ich’s wissen. Langsam schlug sie die Kapuze des Umhangs zurück.
Sie erkannte ihn sofort. Es war ja noch nicht lange her, dass sie sich kennengelernt hatten. Mit gemischten Gefühlen blickte sie ihn an und auf einen Schlag war alles wieder da, als wäre es gestern gewesen. Alles, was sie letzten Winter in der Stadt der Farben erlebt hatte.
„Und, kennst du ihn?“, fragte Jelica gespannt.
„Ja“, sagte Alena kurz. „Er heißt Jorak. Ein Gildenloser aus Ekaterin. Der beste Freund von Kerrik, einem unserer Verbündeten gegen den Heiler vom Berge.“
„Ja, und weiter?“
„Nichts weiter“, fauchte Alena, plötzlich wütend. „Ich weiß nicht, was er hier macht. Wahrscheinlich ist er dem Ruf gefolgt und hat mich unterwegs gesehen.“
Sie merkte, dass Kilian und Jelica sich mit hochgezogenen Augenbrauen anblickten. Jetzt werden sie wissen wollen, warum er dann so entschlossen war, unerkannt zu bleiben, und warum er uns bis über die Grenze hinaus gefolgt ist, dachte Alena. Woher zum Klingenbruch soll ich das wissen? Das sollen sie ihn am besten selbst fragen, wenn er aufwacht! Genau genommen würde mich das auch mal interessieren!
Alena versuchte den Jorak, den sie im letzten Winter kennen gelernt hatte, mit dem Fremden in Einklang zu bringen, der sie schon zweimal gewitzt und mutig aus äußerst üblen Situationen herausgeholt hatte. Langsam verklang ihr Ärger. Warum konnte sie ihn eigentlich nicht leiden? Er war ziemlich unverschämt gewesen, damals im Schwarzen Bezirk von Ekaterin. Sie konnte sich noch gut darin erinnern, wie er sie ständig angestarrt hatte und wie frech er bei seinem Besuch im Versteck jede ihrer Bemerkungen gekontert hatte. Ja, und? War das so schlimm? Eigentlich waren sie quitt. Sie war auch nicht besonders nett zu ihm gewesen, obwohl er auf ihrer Seite gekämpft hatte und sie es ohne ihn nie geschafft hätten, Keldos Hinweis zu entschüsseln. Dann diese Sache, als sie ihn gefragt hatte, welches Element er beherrschte, und er ohne Warnung ein Blaues Feuer gerufen hatte … vielleicht hatte er es einfach nicht richtig gelernt. Eigentlich durften Gildenlose die Formeln ja nicht benutzen.
„Gut“, sagte Alena und seufzte. „Am besten wir kundschaften gleich aus, wo wir hier Wasser und etwas zu Essen herkriegen. Ich fürchte, wir werden noch eine Weile bleiben müssen.“
***
Im Inneren des Turms herrschte ein grünes Dämmerlicht, wie in den Tiefen eines Waldes. Aber es kam Tavian schwächer vor als früher. Die Luft roch abgestanden und tot.
„Wir werden Fackeln brauchen“, sagte er, nahm eine der vorbereiteten Stäbe aus seiner Tasche und murmelte eine Formel, die Feuer aus der Luft rief.
Das Licht erhellte eine breite steinerne Rampe, die spiralförmig nach oben führte. Auch an diese Rampe erinnerte sich Tavian. Alles, was für sie in den nächsten Tagen wichtig war, würden sie tief unter der Erde in den Energiekammern finden. Aber auch er war neugierig, wie es in den Räumen oben aussah. Er war mit Cano in einem anderen Turm gewesen, der in der Nähe von Tassos lag – dieser hier war ihm neu.
Die Räume wirkten, als seien sie erst vor kurzem verlassen worden. Nur dass eine fingerdicke Staubschicht alles überzog. Überall lagen eigenartige Gegenstände herum, die von den Alten zurückgelassen worden waren. Fasziniert berührte Sukie ein silbriges Objekt, das unablässig seine Form veränderte und in ihrer Hand langsam von einer Kugel zu einer Pyramide wurde. „Ich wüsste zu gerne, wie man so was schmiedet …“
„Wahrscheinlich unter ganz hohem Druck“, meinte Cleon und nahm ihr das Objekt, das sich gerade zu einer Doppelspindel wandelte, aus der Hand. „Ich werde daheim mal damit experimentieren.“ Er steckte das Ding in seine Tasche und ignorierte Sukies verdutzten Blick.
Tavian dachte gar nicht daran, Cleon zu warnen. Er lächelte nur, als er das reißende Geräusch nachgebender Nähte hörte ? das Objekt war gerade um das Dreifache gewachsen und hatte Cleons Tasche gesprengt. Fluchend machte sich Cleon daran, seine Besitztümer vom Boden aufzusammeln.
Im nächsten Raum fanden sie Becher und Teller vor – und in der Mitte einen kleinen Brunnen, aus dem Wasser sickerte. Schnell prüfte Tavian nach, ob in den Wandfächern noch immer Nahrung wuchs, so wie früher. Ja, es waren mehr als zehn Pakete da. Er wusste, dass der Schrank sich von selbst wieder auffüllen würde, sobald sie die Vorräte aufgegessen hatten. Cano hatte diesen Fraß gehasst, aber Tavian hatte der Geschmack nie etwas ausgemacht. „Dem Feuergeist sei Dank – sieht aus, als wäre unsere Versorgung gesichert.“
Mika Indro sah zufrieden aus. „Gut. Sonst hätten wir eine Staffel zur Grenze einrichten müssen.“
Tavian nickte. Sie hatten mit Absicht weder Verbindungslinien arrangiert noch Helfer mitgenommen. Für das, was sie tun mussten, war es eher schädlich, wenn sich zu viele Menschen im Turm drängten. Besser, sie hatten so wenig Ablenkung wie möglich.
Mika Indro beschäftigte sich mit einem bauchigen Gefäß, das außen kleine farbige Flächen hatte. Als er die Flächen berührte, ertönte ein leises Zischen. Indro verzog das Gesicht. „Klingenbruch, das stinkt ja bestialisch. Vielleicht war’s mal so eine Art Duftwasser, aber das ist lange her …“
Lella sagte gar nichts. Sie zockelte nur hinter ihnen her und schaute sich um. Tavian hätte gerne gewusst, was ihr durch den Kopf ging.
Sie durchsuchten den Turm bis zur Spitze. Oben war eine kleine Luke, durch die man aufs Dach steigen konnte, wenn man schwindelfrei oder sehr verzweifelt war. „Die Aussicht ist bestimmt grandios, aber da rauszuklettern traue ich höchstens jemanden von der Luft-Gilde zu“, seufzte Sukie. „Mag jemand raus? Nein? Na, dann können wir ja den Keller untersuchen …“
Sie brauchten eine halbe Ewigkeit, um hinabzusteigen zu den Energieräumen. Der Turm war förmlich gespiegelt, er reichte genauso weit in den Boden hinein, wie er aufragte. Dort, weit unter der Erde, standen sie staunend vor den riesigen steinernen Kammern, deren Wände mit alten Schriftzeichen bedeckt waren. Sie waren leer. Bis auf eine kopfgroße hellgelbe Kugel, die auf dem Boden der einen Kammer glühte.
Beunruhigt blickte sich Tavian um. „Normalerweise ist in der einen Kammer ein riesiger Flammenwirbel – und in der zweiten ein schwarzes Gegenstück dazu. Der erste liefert die pure Energie, der zweite die magische Essenz der Grenze … oder wie auch immer man das nennen soll.“
„O je. Sieht so aus, als wäre das alles, was übrig ist.“ Mika Indro näherte sich der Kugel vorsichtig, beugte sich zu ihr hinunter und ließ die Hände einen Fingerbreit von der Oberfläche entfernt darüber gleiten. „Eine Glut der fünften Stufe, gespeist aus sich selbst. Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wie wir daraus wieder diesen roten Wirbel machen sollen, den Ihr beschrieben habt, Tavian. Ganz zu schweigen von dem schwarzen.“
Da haben wir was gemeinsam, dachte Tavian.
An diesem Tag taten sie nicht mehr viel. Sie suchten sich ihre Schlafquartiere in den tiefsten Wohnräumen, damit sie es nicht so weit bis zu den Energiekammern hatten. Cleon und Mika Indro brauchten allein zehnmal zehn Atemzüge, bis sie sich auf eine Etage geeinigt hatten, und als sie am nächsten Morgen aufgewacht waren, verbrachten sie noch einmal die dreifache Zeit damit, sich Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Nur gut, dass hier genug Platz ist, um sich aus dem Weg zu gehen, dachte Tavian, holte sich ein Nahrungspaket und suchte die verborgene Tür nach draußen.
Er setzte sich an den Fuß des Turmes, lehnte sich mit dem Rücken gegen die glatte Wand und streckte die Beine aus. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er genoss ihre Wärme, die trockene Wüstenluft und die Stille. Es war gut, einen Moment lang alleine zu sein. Doch dann hörte er Steine kollern – noch jemand kam. Vielleicht Lella, dachte er verdrossen. Um über alte Zeiten zu sprechen.
Aber es war Sukie. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne. „Sie streiten immer noch – bin gespannt, wann ihnen die Luft ausgeht“, meinte sie und setzte sich neben ihn. Dann sagte sie nichts mehr, knabberte einfach an ihrem Proviant und blinzelte ins Licht.
Tavian brauchte eine Weile, bis er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Sie aßen schweigend, bis er es schließlich nicht mehr aushielt. „Warum hast du dich gerade hierher gesetzt?“
„Stört’s dich?“ Sukie nahm einen Schluck aus ihrem Wasserbeutel. „Ich kann auch wieder gehen. Aber ich fand, du bist von denen da die angenehmste Gesellschaft.“
Tavian musste grinsen. Sie konnte nicht wissen, dass er zur Schwermut neigte und manchmal ausgesprochen schlechte Gesellschaft war. Na ja, sie würden so viel zu tun haben, dass er in nächster Zeit vielleicht nicht dazu kam, an Alix zu denken.
„Nein“, sagte er. „Nein, es stört mich nicht.“