Читать книгу Feuerblüte II - Катя Брандис - Страница 5
Der Fremde im dunklen Umhang
ОглавлениеJoraks Geld reichte noch, um sich auf dem Weg nach Norden ein Zimmer in einem Gasthaus zu nehmen. Er brauchte lange, bis er eins gefunden hatte, in dem sie einen Gildenlosen wie ihn aufnahmen. Das Zimmer war klein und hatte keinen Kamin, aber er hatte in seinem Leben so oft auf dem Boden und in zugigen Ecken der Stadt geschlafen, dass er den ungewohnten Luxus genoss. Die wenigen Münzen, die er noch übrig hatte, reichten entweder für drei Krüge Polliak oder ein heißes Bad. Joraks innerer Schweinehund brauchte nicht lange um sich zu entscheiden.
In der Gaststube blickten sie ihn erst angewidert und misstrauisch an. Aber als sie merkten, dass er nicht auf Ärger aus war und zahlen konnte, beachteten sie ihn nicht mehr. Der Wirt, ein Mann der Luft-Gilde, war in guter Stimmung, weil er zurzeit ein volles Haus hatte. Als Jorak fragte: „Na, wie gehen die Geschäfte?“, blieb er für eine kurze Plauderei.
„Blendend“, berichtete der Wirt. „Im Moment sind viele Leute unterwegs, die dem Ruf folgen – die meisten aus Tassos, wenn mich nicht alles täuscht. Mal schauen, wie viele wieder zurückkommen!“
Jorak horchte auf. Er wusste, dass Alena im Norden von Tassos lebte, im Dorf Gilmor. Eigentlich versuchte er, nicht mehr an sie zu denken – es war sowieso aussichtslos –, aber der kleinste Anlass brachte die Sehnsucht zurück. Wieso hatte er eigentlich nie daran gedacht, dass auch sie auf dem Weg zur Grenze sein könnte?
„Es war nicht zufällig ein Mädchen der Feuer-Gilde mit schulterlangen rotbraunen Haaren dabei? Schlank, langbeinig, hübsch?“, fragte er ohne viel Hoffnung.
Erstaunt blickte ihn der Wirt an. „Moment mal, ja, so eine habe ich gestern im Ort gesehen. Eine junge Meisterin. Sie hatte ein eigenartiges Schwert, es hat einen großen Smaragd am Griff. Als ich das gesehen habe, dachte ich: Hm, mit der legst du dich besser nicht an, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Jorak war es, als bliebe sein Herz stehen. Alena. Es musste Alena sein.
„Aber hübsch … na ja …“, sagte der Wirt. „Kurven muss ein Mädel haben, sonst hat man ja nichts in der Hand!“
„Sie ist wunderschön.“ Jorak funkelte ihn an.
„Ja, ja, die Liebe.“ Der Wirt grinste.
Jorak ärgerte sich, dass er den Mund nicht gehalten hatte. „War jemand bei ihr?“, fragte er.
„Ein Iltismensch. Andere Menschen – vielleicht auch. Es war ein großes Gewimmel, ich habe nicht so genau darauf geachtet.“
Cchraskar. Jorak erinnerte sich. Der Iltismensch hieß Cchraskar. Und jetzt gab es nicht mehr den geringsten Zweifel, dass sie es war.
„Noch einen Krug Polliak gefällig?“, fragte der Wirt.
„Nein, ich danke Euch. Aber könnte mir einer von Euren Leuten ein Bad richten?“
Zehn mal zehn Atemzüge später saß Jorak in der Wanne und schrubbte sich wie ein Wilder. Er überlegte, wie er es anstellen konnte, Alena und ihre Freunde zu treffen. Eine Tagesreise Vorsprung war ganz schön viel. Und was war, wenn er sie eingeholt hatte? Sie mochte ihn ja nicht mal. Die Erinnerung daran, wie er sich mit seinem Versuch, eine Flamme zu rufen, vor ihr blamiert hatte, ließ ihn selbst nach einem halben Winter gequält aufstöhnen.
Aber da war noch eine zweite Erinnerung, die er hütete wie einen Schatz. Diesen Moment, als er nach ihrem Duell mit Cano im Palast der Trauer neben ihr gesessen hatte, als sie verletzt und bewusstlos gewesen war. Wie er ihr zärtlich Blut und Ruß aus dem Gesicht gewischt hatte. Klar, sie wusste nichts davon. Aber er würde es nie vergessen.
Auf einmal fiel ihm die Entscheidung leicht. Ja, er würde versuchen sie einzuholen. Alles Weitere musste er auf sich zukommen lassen.
***
Alena zählte nicht mehr mit, wie viele Ortschaften sie schon durchquert hatten. Sie wusste nicht mal, wie das Erd-Gilden-Dorf hieß, in dem sie gerade rasteten. Wichtig war nur, dass es eine Schänke hatte, in der sie ihre Wasserbeutel wieder auffüllen konnten. Der Gastraum des Erdhauses war so voll mit Menschen, die dem Ruf folgten, dass sie sich zunächst vergeblich nach einem Sitzplatz umsahen. Dank Cchraskar klappte es schließlich – als die Gäste ihn neben sich bemerkten, rückten sie erschrocken zur Seite und machten Platz.
Mit einem breiten Grinsen setzte sich der junge Iltismensch neben Alena und stützte sich mit den Vorderpfoten auf der Sitzbank auf. Iltismenschen waren aufgerichtet nur etwa einen Kopf kleiner als Menschen und Cchraskar konnte bequem über die Tischkante schauen.
„Ich höre mich ein bisschen um“, verkündete Jelica. Sie hatte kein Problem damit, jeden den sie trafen, anzusprechen. „Wie kommen wir zur Grenze? Ach, da wollt ihr auch hin? Habt ihr gehört, wie’s vor Ort aussieht?“, fragte sie und hatte ruck, zuck ein Gespräch angefangen. Mit einem rundlichen Kerl, der in Vanamee einen Regenfisch-Verleih hatte und eine Horde zahmer Kampfkrabben mitbrachte. Mit einem Armbrust-Schützen aus Nerada, dem ein kleiner schwarzer Vogel auf der Schulter saß. Mit muskulösen Erdleuten aus den Steinbrüchen von Telfa, mit einem zerlumpten Geschichtenerzähler und einem halben Dutzend anderen Gestalten.
„Sie ist einfach furchtbar neugierig auf Menschen“, meinte Kilian entschuldigend. „Manchmal kommt es mir vor, als müsste inzwischen jeder in Daresh sie kennen – oder zumindest jemanden kennen, der sie kennt.“
„Ich wünschte, ich wäre auch so“, gestand Alena. „Aber so was schaffe ich nicht.“
Kilian zuckte die Schultern. „Ich auch nicht. Doch ich fand es spannend, in Carradan immer wieder neue Leute zu treffen. Unsere Eltern hatten ein offenes Haus, ständig waren irgendwelche Gäste da …“
„Aucch Halbmenschen?“, erkundigte sich Cchraskar interessiert.
„Nein. Einmal hat sich ein Natternmensch in die Küche verirrt, aber wir, äh, haben ihn schnell wieder rausgeworfen.“
Cchraskar brummte etwas Unübersetzbares in seiner Sprache.
„Findet in Carradan nicht die Gipfelnacht statt?“ Alena hatte sich schon immer gewünscht, einmal bei diesem Fest mitmachen zu können. Feuer-Leute aus ganz Daresh versammelten sich und zogen auf den Berg Yintabor, um dort das alte Ritual zu vollziehen.
„Doch. Unsere Eltern haben sie organisiert. Bis vor zwei Wintern. Da gab’s Ärger und meine Eltern haben alles hingeschmissen und sind nach Gilmor gezogen.“
„Wahrscheinlich langweilt ihr euch da ganz schön, was? In Gilmor gibt’s ja nur ein paar Hundert Leute, man kennt sich, Überraschungen sind praktisch ausgeschlossen …“
„Meinst du das ernst?“ Kilian lächelte. „Du warst letzten Winter ja wohl die größte Überraschung! Es war aber auch nicht übel, zu Zarkos Getreuen zu gehören. Schade, dass er uns vor die Wahl gestellt hat – entweder wir dürfen ihm weiter Gefolgschaft leisten oder wir sind mit dir befreundet. Da haben wir uns für dich entschieden.“
„Das war nett von euch“, sagte Alena verlegen und war froh, dass in diesem Moment Jelica zurückkam. Sie wuchtete fünf Krüge Cayoral heran, zwei einfach gekleidete Erdleute zockelten hinter ihr her. Schüchtern blickten die jungen Männer auf den Boden. Anscheinend hatten sie bisher noch nicht viel mit der Feuer-Gilde zu tun gehabt.
„Das sind Bonto und Lollok“, erklärte Jelica, lud sie ein, sich zu setzen, und schob ihnen je einen Krug zu. „Die Burschen leben hier in der Gegend und haben Dhatlas gezüchtet. He, Bonto, erzähl meinen Freunden, was du über die Grenze weißt!“
Bontos Gesicht hellte sich auf, als er Jelica ansah. Kein Zweifel, sie hatte einen neuen Bewunderer. „Tja, das Ding ist in zwei Tagesreisen Entfernung. Man sieht es normalerweise nicht. Die Gegend spiegelt sich sozusagen darin und man erkennt nicht, dass dort die Welt zu Ende ist. Aber jetzt kann man die Grenze auf einen Blick ausmachen. Auf unserer Seite ist es grün, auf der anderen Seite sind nur Steine.“
„Hast du probiert drüberzukommen?“
„Früher natürlich nicht, das ging nicht. Diese Tore waren zu unheimlich.“ Bonto schauderte. „Als die Grenze zusammengebrochen ist, bin ich natürlich auch einen halben Sonnenumlauf lang rübergewandert. Am Tag natürlich. Da sind die Biester verschwunden. Aber da ist nichts. Also bin ich wieder umgedreht.“
Alena, Kilian und Jelica sahen sich an.
„Noch können wir zurück“, sagte Jelica. Ihre Stimme klang angespannt.
„Vergiss es“, meinte Kilian.
„Geh doch.“ Alena merkte, dass das ziemlich schroff geklungen hatte, und fügte hinzu: „Nach einer Weile hört die Wüste bestimmt auf.“
Sie sah, wie Kilian die Hand in die Tasche schob, und wusste, er umklammerte die Karte. Die Karte, auf der mitten im Nichts jenseits der Grenze ein Wort stand. Ein Wort des Alten Volks.
Cchraskar blickte zwischen Alena und Jelica hin und her und zuckte beunruhigt mit den Ohren. „Ssstreiten ist ungesund, das ist es“, sagte er vorwurfsvoll. „Man kann Bisswunden kriegen dabei.“
Alena musste grinsen. „Keine Sorge, wir haben nicht gestritten“, erklärte sie ihm und blickte zu Jelica hinüber. Sie beachtete Alena nicht mehr und unterhielt sich gerade mit einem der Erd-Menschen. „Die verdammten Biester haben alle unsere Dhatlas getötet“, beklagte sich Lollok. „Selbst wenn sie es schaffen, die Grenze zu beleben, sind wir ohne unsere Zuchttiere am Ende.“
„Sie haben eure Dhatlas getötet?“ Kilian starrte ihn an. „Aber die sind doch von oben bis unten gepanzert!“
„Frag mich nicht, wie sie es machen. Ich weiß nur, wir verschwinden von hier. Und zwar bald!“
Hm, das klang nicht gut. Alena legte die Hand auf den Knauf ihres Smaragdschwerts. Erstaunt merkte sie, dass er sich warm anfühlte. Der Stein im Griff hatte begonnen, ganz leicht zu leuchten. Das hatte er bisher nicht oft getan. Was wollte er ihr diesmal sagen? Wollte er sie warnen? Oder ihr – wie der Traum ? sagen, dass sie auf dem richtigen Weg war?
Jelica bemerkte ihren überraschten Blick. „Was ist?“
„Ach, nichts“, sagte Alena und nahm noch einen Schluck Cayoral.
***
Jorak hinkte, als er in Markabar ankam. Die Schänke war nur ein grüner Hügel zwischen anderen grünen Hügeln – so baute die Erd-Gilde. Er setzte sich an den Fuß des Erdhauses und verzog das Gesicht, als er sich die Sandalen abstreifte. In der Stadt merkt man es kaum, wie man nach und nach verweichlicht, dachte er und betrachtete die Stellen, an denen er sich die Füße aufgerieben hatte. Gut dass mich die Lixantha-Reisen wenigstens ein bisschen abgehärtet haben …
Er war schneller gewandert als jemals zuvor in seinem Leben und es hatte überhaupt keinen Spaß gemacht. Unfassbar, wie manche Leute es schafften, ihm noch auf einer überfüllten Straße aus dem Weg zu gehen. Und nur, weil sie eins von diesen verdammten Gildenamuletten trugen und er nicht!
Mal schauen, ob der Wirt mir ein paar Schluck Wasser gibt, dachte Jorak, ließ seine Sandalen liegen und ging barfuß zur Eingangstür. Der Schankraum war zum Bersten gefüllt. Wie immer sah Jorak sich mit pochendem Herzen gründlich um, jedes Mal voller Hoffnung. Diesmal blieb sein Blick an einem rotbraunen Haarschopf, an einem klaren Profil hängen. Alena.
Sie war es!
Ein Teil von ihm wäre am liebsten auf sie zugegangen und hätte sie in die Arme genommen. Ein anderer Teil geriet in Panik und schlug vor, sofort die Flucht zu ergreifen. Was war, wenn sie ihn jetzt sah? Dann würde sie – wenn sie sich überhaupt an ihn erinnerte – denken: Was macht der grässliche Kerl denn hier? Dann konnte er eigentlich gleich wieder gehen. Wie hatte er jemals auf die Idee kommen können, dass ein Mädchen wie sie, die Tochter zweier berühmter Meister vierten Grades, sich mit einem Gildenlosen wie ihm abgeben würde?
Feigling, Feigling, Feigling, dachte Jorak und begann sich langsam rückwärts zu bewegen. Zwei Atemzüge später stand er wieder draußen.
Er setzte sich hinter das Erdhaus ins Gras. Ich brauche Zeit, ging es ihm durch den Kopf. Und eine zweite Chance. Beim ersten Mal habe ich mich so blöd angestellt, dass ich gleich bei ihr untendurch war. Diesmal darf mir das nicht passieren. Sie darf mich erst erkennen, wenn sie schon einen guten Eindruck von mir bekommen hat und ich sie neugierig gemacht habe.
Tja, aber wie brachte man Frauen dazu, dass sie sich in einen verliebten? Manche mochten sensible Männer. Andere bevorzugten wagemutige Retter oder wortgewandte Denker. Dass Alena sich in Kerrik verguckt hatte, ließ darauf schließen, dass sie den Typus „wagemutiger Retter“ bevorzugte. Jorak stellte sich vor, wie er sie beschützen, ihr helfen würde, und ihm wurde warm ums Herz. Die Sache hatte nur den Haken, dass er eher der „wortgewandte Denker“ war und Alena einen Retter ganz und gar nicht nötig hatte. Nach dem, was er im Palast der Trauer gesehen hatte, war sie mit dem Schwert ungefähr hundertmal besser als er.
Aber es gab ein paar Dinge, in denen er auch nicht schlecht war. Nach ein paar Atemzügen war der Plan in seinem Kopf komplett. Jetzt fehlte nur noch das Zubehör. Mal sehen, wem er es abschwatzen konnte.
***
„Da kommt schon wieder ein Neuer“, sagte Jelica. „Oh, diesmal jemand, der unerkannt bleiben will …“
Unter dem schwarzen Kapuzenumhang konnte man von dem Neuankömmling tatsächlich nicht viel sehen. Es war dunkel im Erdhaus und im Schein der Leuchttierchen lag sein Gesicht im Schatten. Trotzdem sah man, dass der Neue ein junger Mann war. Obwohl er erschöpft wirkte und hinkte, hatte er schnelle, fast ungeduldige Bewegungen. Schwer zu sagen, in welcher Gilde er ist, dachte Alena. Vielleicht Feuer.
„Sieht aus, als hätte er eine längere Reise hinter sich“, meinte Kilian und nahm noch einen Schluck von seinem Cayoral. „Und wir haben noch eine ziemlich lange Reise vor uns. Was ist, wollen wir unser Lager aufbauen gehen?“
„Moment noch“, sagte Alena. An irgendwen erinnerte sie dieser Mann. Aber an wen? Sie kam nicht drauf.
Er setzte sich einen Tisch weiter, schräg vor sie. Er bestellte nichts zu trinken. Stattdessen unterhielt er sich mit seinem Nachbarn, einem gut gekleideten Händler. Kurz darauf lachte der Sitznachbar laut auf. Dann nickte er und rief nach einer Wurfscheibe.
Sieht so aus, als hätte ihm der Fremde eine Wette angeboten, dachte Alena.
Der Wirt eilte herbei und hängte eine hölzerne Scheibe an der Erdwand auf. Der Fremde zog ein Messer und legte es auf den Tisch. Alena spähte neugierig hinüber. Es war ein teurer Dolch mit einer Klinge aus Iridiumstahl. Der Griff aus schwarzem Nachtholz war mit einem gelben Stein ausbalanciert, sodass der Dolch sich zum Werfen eignete. Auf die Klinge war ein Flammenmuster graviert. Interessiert beobachtete Alena, wie der Fremde sich neben die Wurfscheibe stellte.
Sein Wettpartner warf den Dolch. Hart und schnell. Doch der Dolch kam nie auf der Wurfscheibe an. Mit einer blitzartigen Bewegung hatte der Fremde ihn aus der Luft gefangen und hielt ihn hoch. Er hatte sich nicht daran verletzt.
Ein Raunen ging durch die Schänke. Auch Alena staunte. „Unglaublich ? der hat ja Reaktionen wie ein Iltismensch!“
„Fast“, bemerkte Cchraskar, schnappte nach einer vorbeisummenden Fliege und holte sie glatt aus der Luft.
„Und Mut muss er auch haben. Er hätte sich an dem Ding ganz schön die Hand aufschlitzen können“, meinte Kilian.
Cchraskar schaute beleidigt drein, weil niemand sein Kunststück würdigte, und spuckte die Fliege unter den Tisch.
„Na ja, wahrscheinlich hat er lange mit einem stumpfen Messer geübt, sodass er das nicht mehr befürchten muss.“ Jelica ließ den Blick nicht von dem Fremden.
Am liebsten hätte Alena den Trick noch mal gesehen. Aber der Fremde sammelte nur gelassen seinen Gewinn ein und bestellte sich einen großen Krug Cayoral. Als er ausgetrunken hatte, stand er auf und ging.
Nachdenklich blickte Alena dem Fremden nach. Sie fragte sich, warum der Mann einen so wertvollen Dolch trug, aber offensichtlich nicht genug Geld hatte, um sich in der Schänke etwas zu bestellen. Vielleicht war er ein verarmter Meister vierten Grades, dem peinlich war, wie er inzwischen lebte. Nein, auch das konnte nicht sein, seinen Bewegungen nach war der Fremde zu jung, um ein Meister vierten Grades zu sein.
„Wir müssen los“, sagte Kilian und sie standen auf. Es dämmerte schon.
Alenas Herz pochte, als sie vor den Eingang des Erdhauses traten. Schon nach wenigen Atemzügen hatte sie die Sache mit dem Fremden und dem Dolch vergessen. Sie waren nur noch zwei Tage von der Grenze entfernt, das hieß, sie mussten auch hier schon mit Überfällen der Wesen aus dem Land jenseits der Sieben Türme rechnen.
Alena zündete mit einer gemurmelten Formel eine der Fackeln an und hielt sie hoch, damit ihr Schein die Umgebung erhellte. Doch er reichte nicht besonders weit. Tiefe Nacht lag über den Hügeln des Grenzlandes und umschloss sie wie eine schwarze Faust. In der Ferne hörten sie die pfeifenden Rufe eines Rudels Nachtwissler, sonst war es still.
„Vielleicht hätten wir uns besser einen Lagerplatz gesucht, als es noch hell war“, sagte Jelica beklommen.
„Am besten wir lagern gar nicht, sondern wandern weiter nach Norden“, meinte Kilian. Seine Stimme klang nicht sehr zuversichtlich. „Was meinst du, Alena?“
„Ja – gute Idee“, antwortete Alena und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass auch ihr nicht ganz wohl zumute war. „Wir müssen nur durchhalten, bis es hell wird, dann können wir schlafen.“ Sie war froh, dass Cchraskar bei ihnen war.
Der Iltismensch witterte in die Nacht hinein. „Bin gespannt, sssehr gespannt, wie die Biester riechen. Und ob man reinbeißen kann.“
Worauf haben wir uns da nur eingelassen?, dachte Alena.
***
Fünf Menschen, dachte Tavian niedergeschlagen. Wir sind nur zu fünft und sollen etwas schaffen, was wahrscheinlich unmöglich ist.
Er war Tage und Nächte geritten bis zur Grenze, fast ohne Pause. Auf dem Weg war Tavian im Geiste durchgegangen, was er über die Türme wusste, was er auf seinen Reisen mit Cano darüber erfahren hatte. Es war erschreckend wenig. Die Sieben Türme, die Daresh vor der Welt außerhalb schützten, standen etwa hundert Baumlängen weit von der Grenze entfernt. Immer gegenüber eines Tors, durch das man von außen nach Daresh oder von Daresh nach draußen kam. Gemeinsam erzeugten die Türme die eigenartige Grenze, manchmal auch Dunkelzone genannt, die zu überschreiten kaum möglich war – viele der Menschen, die es versucht hatten, waren dabei wahnsinnig geworden. Damals hatten Cano und er es nur geschafft, weil Cano sich und ihm ein Gegenmittel verabreicht hatte, das ihnen die Überquerung möglich gemacht hatte. Tavian hätte zu gerne gewusst, woraus dieses Mittel bestanden hatte. Es war eine Art Betäubungsmittel gewesen; es hatte einen ganzen Tag gedauert, bis sein Kopf wieder klar war.
Das Alte Volk hatte die Türme gebaut und das musste unglaublich lange her sein. Vier der Türme waren Ruinen, nur noch drei funktionierten – und nun war einer von ihnen ausgefallen. Zwei waren noch übrig und das war anscheinend zu wenig um die Grenze zu halten. Sie mussten mindestens einen der Türme wiederbeleben.
Jetzt stand er hier, auf der Linie, die ödes Gestein und Gras trennte, und schaute sich die anderen Menschen an, die aus ganz Daresh herbeigerufen worden waren.
„Sukie heiß ich“, stellte sich eine junge Frau mit heiteren rauchgrauen Augen und roten Locken vor. Sie trug kein Schwert – das war ungewöhnlich für eine Frau der Feuer-Gilde. Tavian beäugte sie skeptisch. Sie sah so aus, als wäre sie keinen Tag älter als zweiundzwanzig Winter, aber wie konnte das sein? Ihre Insignien zeigten, dass sie schon eine Meisterin dritten Grades war! Sie musste hochtalentiert sein.
Die dicke Frau mit den strähnigen Haaren, die neben Sukie stand, kannte Tavian nur allzu gut. Es war Lella, die ehemalige Feuermeisterin des Propheten. Schüchtern spähte sie in die Runde und versuchte sich hinter dem Vorhang ihres Haars zu verbergen. Eigentlich hätte Tavian sich freuen sollen, dass sie dabei war – Lella beherrschte Feuer-Arten, an die niemand sonst sich heranwagte, sie hatte unglaubliche Kräfte. Aber er wusste auch, andere Menschen interessierten sie herzlich wenig, und das machte sie gefährlich. Es wunderte ihn, dass sie überhaupt hier war um zu helfen.
Auch den dritten im Bunde, einen älteren Meister namens Cleon, betrachtete Tavian mit gemischten Gefühlen. Er hatte schon von ihm gehört. Natürlich. Cleon war nur zufrieden, wenn sein Name in aller Munde war. „Mit meinen neuen speziellen Formeln werde ich das Problem in den Griff bekommen“, verkündete er gerade mit seiner volltönenden Stimme. „Im Gegensatz zu euch bin ich ja nicht außer Übung, was Blaues Feuer betrifft …“
„Spezialformeln? Was soll denn das für ein Aschehaufen sein?“, knurrte Mika Indro, der Vierte im Bunde – er war Mitglied des Gildenrates, der höchsten Instanz der Feuer-Gilde. Er überragte sie alle um einen Kopf und hatte, wie es manchen Feuer-Leuten passierte, sämtliche Haare schon in seiner Jugend verloren. Tavian betrachtete die große Brandnarbe auf seinem Hals. Hm, ja, sieht tatsächlich nach Blauem Feuer aus, dachte er und musste grinsen. Es schien, als würden Indro und Cleon sich kennen …
Das waren die vier anderen. Tja, und er selbst … er konnte die Vorsicht in den Gesichtern der anderen sehen, wenn sie ihn anblickten. Bis auf Lella. Die hatte ja selbst dem Propheten gedient, und außerdem dachte sie gar nicht daran, ihn anzuschauen.
Auf dem Weg über die steinige Ebene diskutierten die anderen lebhaft darüber, wie es wohl im Inneren des Turms aussah. Tavian – der als Einziger darüber Bescheid wusste ? hörte nicht zu. Er hielt sich ein Stück abseits und ließ den Turm, der sich schlank und silberhell über der Ebene erhob, nicht aus den Augen. Zwanzig Winter war es her, dass er hier gewesen war, und doch konnte er sich an jede Einzelheit erinnern.
Schließlich waren sie da. Staunend berührte Sukie die glatte Oberfläche aus unverfugtem Stein, in die kein einziges Fenster eingelassen war. Die Dämmerung begann schon, und so konnten sie das fahle Leuchten erkennen, das von dem Stein ausging – der ganze Turm verbreitete einen schwachen Schein. Das funktioniert also noch, dachte Tavian. Er lebt. Die anderen Türme – die, von denen nur noch Ruinen übrig waren ? leuchteten nicht mehr.
Cleon begann aufzuzählen, welche Metalle sich im Inneren befanden. Vielleicht wollte er dafür bewundert werden, dass seine Sinne so scharf waren. Kurzerhand unterbrach Tavian ihn. „Gehen wir rein. Wenn’s dunkel wird, ist es hier draußen nicht so gemütlich.“
Er begann die Wände abzutasten, um den verborgenen Eingang zu finden. Verblüfft beobachteten ihn die anderen. „Wieso gehen wir nicht durch den Vordereingang?“, fragte Mika Indro, der gerade das hohe Haupttor entdeckt hatte. Es war ein großes schmiedeeisernes Tor, die Verzierungen auf dem grünschwarz angelaufenen Metall waren verwittert, aber noch zu erkennen.
„Weil er verschlossen ist. Und der Letzte, der den Schlüssel hatte, vermutlich vor tausend Wintern gestorben ist.“ Schließlich fand Tavian die Stelle, an der die Mauer durchlässig war. Oder eher, an der sie nur aus Licht bestand. Er schritt einfach hindurch ins Innere und hörte die anderen erstaunt ausrufen.
Sukie war die Erste, die sich traute ihm zu folgen, dann kamen die anderen. „Das sah lustig aus“, sagte Sukie. „Einen Moment lang dachte ich, du kannst durch Wände gehen …“
Wie kam sie auf die Idee, ihn zu duzen? Tavian wusste nicht, was er davon halten sollte. Doch zwei Atemzüge später hatte er sie und die anderen sowieso vergessen. Wie damals stockte ihm der Atem bei dem Gefühl, hier zu sein. Nichts war mehr wichtig.
Er war zurück in einem der Sieben Türme.