Читать книгу Der Sucher - Катя Брандис - Страница 10

Bewährungsprobe

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Lourenca war verärgert, als ich ihr absagte, und ließ eine spitze Bemerkung über Chancen fallen, die ich verpasste. Aber wirklich traurig schien sie nicht. Wahrscheinlich würde sie die ganze Sache in ein paar Tagen vergessen haben. Ich war sehr froh, dass ich Udikos Rat gefolgt war.

Jemand, der mich und meinen Meister nicht gut kannte, hätte wahrscheinlich nur wenige Veränderungen bemerkt. Udiko war immer noch genauso knurrig, und ich stellte weiterhin unverschämte Fragen, wenn mir danach zu Mute war. Doch die Sache mit Lourenca hatte etwas zwischen uns verändert. Mir wurde dadurch klar, wie sehr er mich mochte. Es hätte ihn keine drei Atemzüge und einen Fluch gekostet, unsere Muschel zu zerbrechen und mich als misslungenes Experiment abzuschreiben. Stattdessen hatte er mir ein Stück seines Lebens geschenkt. Er wiederum wusste nun endgültig, was die Lehre bei ihm mir bedeutete.

Wir hatten keine Geheimnisse mehr voreinander, und das war gut so.

Von diesem Zeitpunkt an machte ich rasante Fortschritte. Ich war wie Udiko damals – besessen. So muss sich ein Vogel fühlen, der zum ersten Mal seine Schwingen ausbreitet und die Kraft zu fliegen in sich spürt. Udiko merkte es und gab mir immer schwierigere Aufgaben. Sicher auch, um mich von meinem Kummer abzulenken.

Er zeigte mir die Geheimnisse der Riesentangwälder, der Blutseen und der berühmt-berüchtigten Süßwasser-Riffe von Celican. Alleine hatte ich mich nie dorthin getraut, denn an diesen Orten gab es Wesen, die einen schneller töten konnten, als man zu blinzeln vermochte. Und natürlich übernahmen wir zahllose Suchen: Udiko und ich halfen einem Resteräumer, der sich von einem Heer Kampfkrabben überall hin begleiten ließ, seine Ehre wiederherzustellen; einem fetten Jägerfischverleiher, die Quelle seiner Albträume zu finden; einem Künstler, Glut aus einem unterseeischen Vulkan zu holen; und einem jungen Liebenden, die schwarze Perle zu finden, die seine Angebetete sich schon lange wünschte.

»Sag mal, Udiko – wenn du weißt, wo schwarze Perlen zu finden sind ... warum holst du dir dann nicht selber ein paar?«, fragte ich meinem Meister, als wir in einem heißen Schwefelsee lagen und uns von den Anstrengungen der Suche erholten.

»Wozu?«, fragte der Große Udiko zurück.

Ja, wozu? Er hatte längst alles, was er zum Leben brauchte.

Im Gegensatz zu mir. Ich tauchte noch einmal allein in die Unterwasserhöhlen der Riinanja, in denen wir fündig geworden waren, und holte vier Perlen hoch – eine für jede meiner Schwestern, eine für meine Oma, und eine für mich, als Glücksbringer.

»Stimmt es eigentlich, dass die Dinger Heilkräfte haben?«, fragte ich später, als ich ein Loch in die Perle bohrte und einen Silberfaden hindurchzog, um sie um den Hals tragen zu können.

»Schön wär's«, erwiderte Udiko. »Aber an deiner Stelle würde ich nicht drauf hoffen. Ich habe mal ein paar Winter lang eine getragen, und meine Rückenschmerzen waren schlimmer denn je.«

In den Höhlen zu tauchen, war schwierig, aber bei den meisten Aufträgen musste ich eher meinen Kopf als meine Schwimmkünste einsetzen. Außerdem brachte Udiko mir bei, durch die Augen von anderen zu sehen. Dazu musste ich in die Siedlung schwimmen und mir fünf Leute herauspicken. Jeden beobachtete ich so lange, bis ich mich in ihn hineindenken konnte. Erfüllt hatte ich die Aufgabe, wenn ich es bei jedem geschafft hatte vorauszusehen, was er als Nächstes tun würde.

Ich sollte früher Gelegenheit haben, diese neue Fähigkeit anzuwenden, als mir lieb war. Kurz nach meinem ersten Unterricht im Durch-andere-Augen-Sehen wurde Udiko zum Hohen Rat eingeladen; dort legte gerade ein neues Ratsmitglied, eine Frau namens Ujuna, ihren Eid ab. Angeblich stammte sie direkt vom Sturmläufer ab, dem mythischen Helden des Seenlands. Von Udiko als einer der wichtigen Persönlichkeiten von Vanamee wurde erwartet, dass er sich ihr persönlich vorstellte. »Darauf habe ich in etwa so viel Lust wie auf einen Ringkampf mit einer Raubqualle«, brummte er, als er seine weniger abgewetzte Ersatzschwimmhaut und seine besten Trockensachen heraussuchte. »Wahrscheinlich werde ich eine Woche lang weg sein. Schaffst du es, hier die Stellung zu halten?«

Ich war sauer darüber, dass er mich nicht mitnahm. Deshalb nickte ich schweigend und streichelte den Salamander, der sich in meine Halsbeuge schmiegte.

Udiko grinste. Natürlich wusste er, was ich dachte. »Nächstes Mal, in Ordnung?«, sagte er und verschwand durch den Eingang in den See.

Ich war noch nicht oft allein in unserer Wohnkuppel gewesen. Sie schien sehr still und leer zu sein ohne Udiko. Am nächsten Morgen blieb ich zum ersten Mal einfach auf meiner Seegrasmatte liegen, statt aufzustehen. Erst, als die Sonne hoch am Himmel stand und Lichtlinien auf dem Boden der Kuppel tanzten, kroch ich aus dem Bett. Udiko hatte mir für die Zeit, die er weg war, keine Aufgaben gestellt. Genau genommen hatte ich zum ersten Mal frei, seit ich sein Lehrling geworden war.

Plötzlich wusste ich nichts mit mir anzufangen. Nicht mal Lust zu frühstücken hatte ich. Rauszuschwimmen lockte mich auch nicht, das Wetter war nicht besonders, es war kühl, und ein dicker Wolkenteppich begann aufzuziehen. Ich behielt meine Trockensachen an, lag auf dem Bett, gähnte und dachte mal wieder an Joelle. Ein gutes Zeichen; vielleicht bedeutete es, dass ich endlich über Lourenca hinweg war ...

Weil ich gerade nach oben starrte, sah ich durch die dünnen Wände, wie jemand mit nervösen Bewegungen zu unserer Kuppel heruntertauchte. Hm, das sah nach einem neuen Auftrag aus!

Es war eine Frau aus dem Dorf. »Ist Udiko da?«, keuchte sie. »Es ist dringend!«

»Nein, er ist beim Rat«, antwortete ich und blickte sie besorgt an. »Was ist denn passiert?«

»Eine Luft-Gilden-Familie hat uns um Hilfe gebeten ... Ihr acht Winter alter Sohn ist mit seinem besten Freund zu uns ins Seenland ausgerissen ... Sie haben eines der Kanus des Rats genommen ...«

»O je«, sagte ich. Weil der Rat wenig Interesse daran hatte, dass Fremde in die Provinz kamen, wurden diese an der Grenze vertäuten Kanus nicht gut gepflegt. Sie waren alle ziemlich morsch. »Können die beiden schwimmen?«

»Nicht besonders. Zuletzt sind sie heute Früh in der Gegend von Yanai gesichtet worden, aber inzwischen sind sie verschwunden. Das Kanu haben wir gefunden, aber es war leer. Wir schicken gerade Boten in alle Richtungen aus, damit alle Leute aus den umliegenden Siedlungen suchen helfen.«

»Brackwasser!« Ich merkte, dass mein Herzschlag sich beschleunigte. Das war ein schwieriger Auftrag – und ein lebenswichtiger. Ausgerechnet jetzt war Udiko nicht da! Beunruhigt blickten wir uns an.

»Moment«, sagte ich und rannte zurück, um meine Schwimmhaut anzuziehen und zwei Leuchtstäbe einzustecken. Dann tauchten wir hoch zur Oberfläche und schwammen gemeinsam Richtung Yanai, so schnell wir konnten. Das war der einzige Glücksfall bei der ganzen Sache: In Yanai kannte ich mich aus.

Stumpf und bleigrau wogten die Seen um uns herum, und die Inseln und Landbrücken wirkten wie die dunklen Rücken von Tieren, die sich ins Wasser duckten. Ab und zu fegte ein kalter Windstoß heran und peitschte die Wellen noch höher. Normalerweise hatte ich Spaß daran, mich von den Wogen tragen lassen – je höhere die Wellengöttin Kinona schickte, desto besser –, aber diesmal blickte ich beunruhigt zum Himmel, über den dunkle Wolken eilten. Hoffentlich würde es keinen Sturm geben. Dann hätten die beiden Jungs kaum noch eine Überlebenschance. Wenn sie überhaupt noch am Leben waren. Nachdem das Kanu leer gefunden worden war, waren sie vermutlich über Bord gefallen und ertrunken. Hätten sie doch nur die Inschrift an allen Grenzbrücken beachtet: Ihr betretet jetzt das Gebiet der Wasser-Gilde. Fremde, nehmt euch in Acht! Wer hier nicht hergehört, der wird bitter büßen!

Ich meldete mich beim Kommandanten von Yanai, um mich auf eine Position einteilen zu lassen. »Am besten gebt Ihr mir einen Abschnitt, in dem's tief ist – ich stamme aus Colaris«, erklärte ich hastig und erwähnte nicht, dass ich der Lehrling von Udiko war. Schließlich war ich das erst seit ein paar Monaten, Sucher konnte ich mich noch lange nicht nennen.

»Gut, dann hilfst du im westlichen Teil.« Besorgt blickte der Kommandant zum Himmel, und auf seinem Gesicht mischten sich Regen- und Seewasser.

Die Gegend wimmelte von Leuten, aus allen Siedlungen waren sie gekommen, um zu helfen – auch zwei Sucher waren dabei, die ich vom Sehen kannte. Leider verdienten sie ihren Lebensunterhalt fast nur damit, Händler zu Korallenbänken zu führen. Den Ehrgeiz, schwierige Aufträge zu lösen, hatten sie nicht.

Ich schwamm und tauchte mit den anderen Helfern und suchte zwischen den Wellen und in den Tiefen nach den Kindern, während andere sich auf den Inseln umschauten. Das aufgewühlte Wasser war trübe, und wir kamen nicht besonders gut voran. Und noch immer keine Spur von den Jungen, ob tot oder lebendig. Wenn Udiko hier wäre, hätten wir vielleicht eine Chance, dachte ich verzweifelt und wünschte, ich hätte mehr gelernt, schneller gelernt, wäre ein richtiger Sucher.

Inzwischen war der eisige Wind stärker geworden, und die Wellen wurden noch höher. Ich hatte schon gut zwanzig lange Tauchgänge hinter mir und ließ mich einen Moment lang treiben, um auszuruhen. Dabei bemerkte ich die Blitze. Erst zeichneten sie sich nur als Leuchten am Horizont ab, und zu hören war nichts. Doch das blieb nicht so. Schon bald krachte der Donner über die Seen von Yanai wie Faustschläge eines wütenden Gottes; der Regen prasselte hart auf uns herab. Kurz darauf machte unter den Helfern die Nachricht die Runde: »Wir brechen ab! Lonzo sagt, wir müssen abbrechen, bis der Sturm vorbei ist!«

Niedergeschlagen blickten wir uns an. Wir wussten alle, dass sich das Wetter noch die ganze Nacht austoben würde – und dass es morgen Früh zu spät sein würde.

Nach besorgten Blicken zum Himmel begannen die Männer und Frauen um mich herum, in Richtung der nächsten Siedlung zu schwimmen. Halbherzig folgte ich ihnen. Doch ich konnte nicht aufhören, an die beiden Kinder zu denken, mich zu fragen, was mit ihnen passiert war. Instinktiv machte ich mich noch einmal bereit zum Abtauchen.

Jemand packte mich am Arm. »He, du! Hast du nicht gehört, Junge – bring dich besser in Sicherheit!«

Ein wildes Chaos von Gefühlen erfüllte mich, während ich den Helfer anstarrte. Bilder rasten durch meinen Kopf. Eiskalter Regen, der über eine Insel peitscht, ein Junge, der zusammengekauert wartet, dass es vorübergeht ... Ein kleines Mädchen, das mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibt ... Zwei Kinder, die aus einem Kanu ins Wasser kippen, verzweifelt um sich schlagen ...

Ich riss mich los und tauchte ab.

Als ich wieder heraufkam, war ich allein in den grauen Wellen. Alle anderen waren in ihre Luftkuppeln zurückgeschwommen.

Mein Atem ging in Stößen, und mein Herz hämmerte wie wild. Ich fragte mich, was mit mir los war. Allein hatte ich keine Chance, in diesem riesigen Gebiet die beiden Kinder zu finden. Und wenn in meiner Nähe ein Blitz ins Wasser einschlüge, wäre es aus mit mir. Aber ich schaffte es nicht, aufzugeben. Udiko hätte weitergesucht, dachte ich. Er hätte nicht abgebrochen. Nicht, wenn es um das Leben eines Kindes ging.

Als ich an meinen Meister dachte, erschrak ich. Mir wurde auf einen Schlag klar, dass ich einen großen Fehler begangen hatte. Ich hatte mich einfach den anderen Helfern angeschlossen, mich einteilen lassen, statt wie ein Sucher zu denken und zu handeln. Wenn diese Kinder jetzt noch starben, dann war es meine Schuld!

Sofort brach ich das Tauchen ab, es war sinnlos. Ich gab ein wenig Luft in meine Schwimmhaut, ließ mich kurz von den Wellen wiegen und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Dann erst begann ich nachzudenken und das anzuwenden, was Udiko mich gelehrt hatte. Lautlos bat ich Kinona um ihren Schutz, schloss die Augen und versuchte, mich in einen der Jungen hineinzuversetzen – ein Kind, das zur Luft-Gilde gehörte, das völlig anders dachte als ich; dem fester Boden Heimat war und Wasser fremd und unangenehm erschien, nicht umgekehrt wie mir.

Ich paddle entlang, aufgeregt, ein bisschen unruhig. Besorgt sehe ich, wie sich das Wetter verschlechtert. In der Ferne sehe ich einen Erwachsenen schwimmen. Schnell versuche ich, das Boot hinter eine Insel zu bringen, damit er uns nicht erwischt. Allmählich gefällt mir das Abenteuer nicht mehr. Die Wellen werden höher, und ich habe Angst, ins Wasser zu fallen. Wir legen an der Insel an. Aber inzwischen hat es angefangen zu regnen. Ich versuche, den Wind zu beruhigen, aber er ist zu stark für mich. Wir suchen einen Unterschlupf, steigen aus ... Das Kanu wird abgetrieben, wir schaffen nicht, es zurückzuholen ...

»Natürlich – sie haben sich einen Unterschlupf gesucht!« Ich schrie es fast hinaus. Sicher hatten die Helfer alle Inseln längst abgesucht, und Verstecke waren dort rar. Aber es gab ein paar Höhlen, die nicht jeder kannte und die ich durch Zufall beim Beobachten von Tieren entdeckt hatte. Ob die Helfer auch die überprüft hatten? Vielleicht nicht. Viel zu lange hatten wir einfach angenommen, dass die Kinder aus dem Kanu gefallen waren und irgendwo zwischen den hohen Wellen herumpaddelten!

Ich schwamm so schnell wie nie zuvor, raste von einer Höhle zur nächsten, schaute unter Felsvorsprünge und überprüfte verlassene Amphibiennester. In der dritten Höhle wurde ich fündig. Der Eingang, der fast zu klein war für einen Erwachsenen, lag normalerweise knapp über der Wasseroberfläche. Bei Sturm lief die Höhle bis oben hin voll, und schon jetzt konnte man nicht mehr raus, ohne Tauchen zu müssen. Als ich mich ins Innere zwängte – zum ersten Mal dankbar für meine schmale Statur –, glotzten mich zwei verschreckte, patschnasse Kinder an. Sie hatten sich ganz hinten in der Höhle zusammengekauert, um sich gegenseitig zu wärmen.

»Da seid ihr ja«, sagte ich und schickte einen kurzen Dank an den Geist der Seen. »Alles in Ordnung?«

»Wer bist du?«, fragte einer der Jungen mit klappernden Zähnen.

»Erzähle ich dir später«, sagte ich. »Hier könnt ihr nicht bleiben, das Wasser wird weiter steigen.«

Schnell hatte ich die beiden überredet, mitzukommen. Inzwischen heulte der Wind draußen wie tausend verzweifelte Seelen, der Sturm war in vollem Gange. Wir mussten runter zum Grund des Sees. Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, die beiden in die nächstbeste Luftkuppel zu verfrachten. Aber ich kann mich noch daran erinnern, wie verblüfft mich die acht Helfer darin anblickten, als ich mit den triefenden Kindern an der Hand hereinkam. Wenige Atemzüge später wurden sie von den Frauen in trockene Sachen gesteckt und verhätschelt, ein Salamander trug die Nachricht von ihrer Rettung zu ihren Eltern.

Jemand gab mir einen heißen Becher Cayoral. Erschöpft setzte ich mich auf den Boden und trank. Ich fühlte mich schrecklich müde und aufgedreht zugleich. Ständig kamen irgendwelche Leute, die mir gratulieren oder auf den Rücken klopfen wollten. Mindestens zehnmal musste ich erzählen, wie und wo ich die Kinder gefunden hatte. Schließlich fragte jemand: »He, Junge, wer bist du eigentlich – wie heißt du?«

»Tjeri ke Vanamee«, erklärte ich. »Der Lehrling des Großen Udiko.«

Die Geschichte sprach sich schnell herum. Als ich am nächsten Tag zurückschwamm, grüßten mich Leute, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Leute von Yanai sind dafür bekannt, dass sie ein langes Gedächtnis haben. Als ich viele Winter später wieder in die Gegend kam, wurde ich empfangen wie ein Mitglied des Hohen Rates.

Udiko kehrte wenige Tage nach dem Zwischenfall zurück, hörte sofort von der Sache und war eine Weile netter zu mir als je zuvor. Ich verriet ihm nie, wie lange ich gebraucht hatte, um das anzuwenden, was er mich gelehrt hatte. Und dass ich um ein Haar alles verpatzt hätte.

* * *

Widerstrebend beschloss Mi'raela, des Mädchens wegen die unterirdischen Teiche zu meiden. Das bedeutete, dass sie bei ihren Jagdausflügen lange, lästige Umwege in Kauf nehmen musste. Aber im Grunde hatte Cchrnoyo Recht: Es schien sicherer, sich von der Menschenwelpin fern zu halten. Na, vielleicht würde es Zz'eldan gelingen, sie zu vertreiben – die meisten Menschen hatten Angst vor Natternmenschen, auch wenn sie sicher sein konnten, in der Burg nicht von ihnen verletzt zu werden. Dafür sorgte die Macht der Quelle.

Doch in den folgenden Tagen kam Mi'raela nicht dazu, jagen zu gehen. Als Berater der Regentin war Spinnenfinger höchst beschäftigt, wenn Gesandte kamen. Er war pausenlos in der Burg unterwegs und bis spät in die Nacht wach, um sich mit seinen Leuten zu besprechen und Pläne zu schmieden. Mi'raela musste Getränke, Speisen und Schriftrollen holen und bringen, bis ihr die Pfotenhände schmerzten.

Manchmal war bei den Besprechungen auch die Tochter von Steinherz dabei. Die Halbmenschen nannten sie Schrillstimme, weil es in den Ohren schmerzte, wenn sie sprach. Zum Glück sagte sie meistens wenig, und dann nur »Ja, Vater«, »Mache ich« oder höchstens ein respektvolles »Meinst du wirklich?«.

»Du wirst einen Platz zwischen den Feuer-Leuten einnehmen, Hetta«, befahl Spinnenfinger dem Mädchen gerade. »Achte genau darauf, was gesagt wird, und finde heraus, ob die Gesandten tatsächlich wegen des Handelspakts hier sind, oder ob sie versuchen wollen, der Alten eine Nachfolgerin aus ihrer Gilde schmackhaft zu machen.«

»Ja, mache ich.« Schrillstimme. Unverkennbar, selbst durch die dicken Mauern.

»Meinst du wirklich, Cyprio?«, hörte Mi'raela Steinherz skeptisch sagen. »Die Alte mag die Brandstifter nicht. Und als zukünftige Regentinnen taugen ihre Weiber nicht. Viel zu stolz, viel zu treu ihrer Gilde gegenüber. Falls uns eine Gefahr droht, dann aus der Erd-Gilde.«

»Vermute ich auch, aber besser, wir sorgen vor.«

»Wo ist eigentlich der nichtsnutzige Sohn der Alten abgeblieben?«

»Im Seenland. Keine Sorge, wir behalten ihn im Auge. Dort kann er keinen Schaden anrichten, und falls die Vettel plötzlich stirbt, können wir ihn schnell zurückholen, damit er die Übergangsregentschaft übernimmt.«

»Vielleicht wäre es sogar das Beste... Er würde Hetta sofort zur Regentin ernennen, damit er nicht zu lange auf dem Thron sitzen muss.«

»Nein.« Spinnenfingers Stimme klang missmutig. »Das Risiko ist zu groß. Aber es kann sein, dass sich das Problem auch so löst – ihr Leibarzt hat neulich angedeutet, dass die Alte krank ist, schwer krank womöglich.«

Plötzlich flog die Tür auf, und die beiden Männer in ihren weiten schwarzen Kapuzenumhängen kamen heraus. Sie waren noch ganz ins Gespräch vertieft. Hinter ihnen ging Schrillstimme, schon für den Empfang zurechtgemacht, das blassrote Haar ordentlich frisiert. Mi'raela hatte gelernt, sich vor Schrillstimme in Acht zu nehmen. Sie neigte zwar nicht zu Fußtritten, aber dafür zu Hinterhältigkeiten. Wäre Mi'raela nicht völlig erschöpft gewesen, sie hätte mehr Vorsicht walten lassen. Doch ihre müden Pfoten versagten ihr den Dienst, sie sprang zu spät auf – und das Mädchen ließ kaltblütig die Öllampe fallen, die sie trug. Mitten auf Mi'raelas Rücken.

Das heiße Öl durchtränkte Mi'raelas Fell und ließ sie kreischend und fauchend fliehen. Nur weil sie sich blitzschnell auf dem Boden wälzte, schaffte sie es, die auf ihrem Rücken aufflackernden Flammen zu ersticken. So konnte das Feuer sie nur an ein oder zwei Stellen beißen. Schrillstimme beobachtete das alles mit einem leichten Lächeln, und die beiden Männer wandten sich nur kurz um und gingen dann weiter, noch immer ins Gespräch vertieft. Nach ein paar Augenblicken folgte ihnen das Mädchen.

Das Öl aus dem Fell zu lecken, ging nicht, das Zeug schmeckte widerlich und klebte auf der Zunge. Wahrscheinlich würde es viele Sonnenumläufe dauern, bis es langsam von selbst herausginge. Mi'raela machte sich auf in Richtung Waschkeller, wo ihr vielleicht eine mitleidige Seele beim Entfernen helfen würde. Sie beschloss, sich das nächste Mal taub zu stellen, wenn Spinnenfinger oder Steinherz ihre Dienste wünschten. Selbst wenn sie damit eine Tracht Prügel riskierte.

In den Waschkellern hatte Mi'raela Pech, dort herrschte Hochbetrieb, und niemand nahm sich Zeit für sie. Mit Hass im Herzen verzog sich Mi'raela in die tiefen, fast verlassenen Bereiche der Burg, in denen sie sich wenigstens in Ruhe zusammenrollen und elend fühlen konnte. Schließlich fand sie eine unbenutzte Kammer im Vorratsbereich und ließ sich seufzend auf ein paar Strohsäcken nieder. Doch ihre feinen Ohren fingen eigenartige Geräusche auf. Sie versuchte, sich tiefer in den Strohsack zu wühlen und einzuschlafen, aber es nutzte nichts. Schließlich stand sie auf und machte sich daran, die Quelle der Geräusche auszukundschaften.

Bald stellte sie fest, dass es aus einer der anderen leeren Kammern kam. Vorsichtig spähte sie hinein und entdeckte, dass dort eine Menschenwelpin lag und heulte, was ihre Augen hergaben. Genauer gesagt war es die Welpin, die sich sonst immer bei den Speicherseen herumtrieb. Irgendwie berührte es Mi'raela, dass es jemanden in der Burg gab, dem es gerade noch schlechter ging als ihr. Neugierig schlich sie näher und setzte sich neben das Mädchen. »Was ist? War jemand nicht nett zu dir?«

Erschrocken fuhr das Mädchen hoch. Doch als es die Katzenfrau erkannte, entspannte es sich etwas und versuchte ungeschickt, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. »Ach, du bist es. Ich habe dich lange nicht mehr gesehen.«

»Was ist los?«, wiederholte Mi'raela. Jetzt fiel ihr auch wieder der Name des Mädchens ein. Jini. Sie trug ein Amulett der Luft-Gilde.

»Ach, eigentlich nichts Besonderes.« Jini zuckte mit den Schultern. »Ich ... fühle mich nur so schrecklich. Den ganzen Tag muss ich in den Küchen oder in der Wäscherei helfen, und da haben sie mich ausgeschimpft, weil ich so was nie gelernt und Vieles falsch gemacht habe. Ich bin einfach zu nichts nutze! Halt so ein blödes Findelkind.«

»Das ist genug zum Unglücklichsein, finde ich«, meinte Mi'raela. Sie hasste es selbst, wenn sich jemand lustig über sie machte. Das war schlimmer als ein Fußtritt.

Jini seufzte tief. »Vielleicht sollte ich weglaufen. Am besten nach Nerada, das ist die Provinz meiner Gilde, weißt du?«

»Ich komme aus Alaak«, verriet Mi'raela, und plötzlich war die alte Sehnsucht wieder da. Sie biss genauso ins Herz wie früher. »Aus dem Roten Wald oben an der Nordgrenze – deshalb haben viele aus meiner Sippe orangefarbenes Fell, das tarnt gut.«

»Apropos Fell«, meinte Jini und versuchte ein Lächeln. »Was hast du mit deinem gemacht, Waldkatze? Sieht irgendwie ... äh ... seltsam aus.«

»Das liegt daran, dass Schrillstimme mir Brennwasser drübergegossen hat – Brennwasser. Es geht nicht raus.«

»Brennwasser? Ach, Öl meinst du.« Jinis Tränen waren versiegt. »Weißt du was? Ich schmuggele dich heute Nacht in den Waschkeller ein, die haben dort Wacholdersud, damit bringen wir das ruckzuck wieder in Ordnung.«

»Oh ... Das wäre nett!«

Erst viel später, als ihr Fell wieder sauber war, fiel Mi'raela ein, dass sie ganz vergessen hatte, sich dem Mädchen gegenüber dumm zu stellen. Jetzt wusste eine Menschenwelpin, dass sie gut Daresi verstand und sprach. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können?

* * *

Mein erster Sommer mit dem Großen Udiko ging so schnell herum, dass ich mich nachher fragte, wo die Zeit geblieben war. Wenn ich nicht mit ihm auf einer Suche unterwegs war und übte, wie man sich nach den Sternen orientiert oder wie man die richtigen Fragen stellt, kümmerte ich mich meistens um unsere neuen Mitbewohner. Zu ihnen gehörten ein Otter, den ich in einem Nachbarsee halb tot gefunden hatte und gesund pflegte, ein Langzeh-Lurch, den mir ein Besucher geschenkt hatte, und ein großer Purpurkrebs. Er hatte mich adoptiert. Oder ich ihn. Das kam aufs Gleiche raus.

Udiko hatte darauf bestanden, dass ich die Karo-Natter wieder in den See zurückbrachte, und fluchte, wenn er über den Krebs stolperte. Ansonsten verlor er kaum ein Wort über meine Gäste. Erst, als ich ihm meine neuste Errungenschaft vorführte, einen jungen Skagarok, der von seinen Eltern verstoßen worden war, platzte ihm der Kragen. Ich war stolz darauf, dass ich dem zunächst sehr scheuen und wilden Küken beigebracht hatte, auf Kommando mit den Flügeln zu schlagen, aber Udiko knurrte nur: »Wenn du Zeit für so was hast, muss ich dich wohl mit mehr Aufgaben eindecken. Das Vieh kommt weg, und zwar sofort! Ich habe keine Lust, seine Krallen im Gesicht hängen zu haben, wenn es mal Hunger kriegt.«

»Aber er ist noch viel zu jung, um alleine zu überleben!«, wandte ich ein.

»Dann landet er eben im Kochtopf. Mit einer Küstenkressesauce schmeckt er bestimmt prima.«

Betrübt baute ich dem Küken einen Unterschlupf draußen auf der Landbrücke und besuchte es dort jeden Tag. Noch sah es aus wie ein schwarzer Flaumball, hatte unschuldige gelbe Augen und die runde Schnauze eines Welpen – später einmal würde es die großen Schwingen, den Wolfskopf und die handlangen gebogenen Krallen seiner Art besitzen. »Bin gespannt, ob du später tatsächlich mal versuchst, mich anzuknabbern«, sagte ich zu ihm, und es bettelte mit aufgesperrtem Mäulchen um Futter.

Vielleicht als Belohnung dafür, dass ich die Kinder gefunden hatte, nahm mich Udiko am Ende des ersten Sommers zum ersten Mal auf eine Traumsuche mit.

Ich spürte sofort, dass die Besucherin etwas Besonderes war. Es war eine ernste, einfach gekleidete junge Frau, die nur zögernd über unsere Schwelle trat. Auch Udiko schien zu merken, dass dies kein gewöhnlicher Auftrag werden würde, und behandelte die junge Frau nicht so schroff wie andere Ratsuchende.

»Mein Name ist Sjava«, stellte sie sich schüchtern vor. »Ich war noch nie bei einem Sucher, aber nach dem Traum letzte Nacht musste ich einfach herkommen.«

»Was war das für ein Traum?«, fragte Udiko ernst. »War er ... besonders echt?«

»Ja, es war alles unglaublich wirklich. Ich ging übers Wasser, im Traum konnte ich das. Ich ging auf eine Insel zu, die weiß schimmerte und von Nebel umgeben war ... Und von der Insel klang Gesang herüber, wie ich ihn noch nie gehört habe«, erzählte die junge Frau. »Als ich auf der Insel ankam, stellte ich fest, dass sie in den Wolken lag; ich blickte tief auf das Seenland hinunter. Es waren die Wolken, die sangen. Ich griff mit der Hand nach ihnen und fing ein kleines Stück Wolke ein, aß davon ... und fühlte mich unglaublich glücklich.« Auf dem Gesicht der Besucherin lag ein entrückter Ausdruck.

Ich hörte fasziniert zu, war aber gleichzeitig verwirrt. Was erwartete die Frau von uns? Es war doch nur ein Traum gewesen, mehr nicht ...

Doch Udiko schien das anders zu sehen. »Welche Form hatte die Insel? Was wuchs darauf?«, bohrte er weiter. Er stellte viele Fragen, und die junge Frau antworte, so gut sie konnte.

Schließlich verkündete Udiko: »Ich glaube, ich weiß, welche es gewesen sein könnte.« Schnell zeichnete er eine Karte in unsere große sandgefüllte Schale. »Diese hier. Caris Jalia. Zwei Tagesreisen im Westen.« Er blickte auf. »Möchtet Ihr, dass wir Euch begleiten?«

Schnell nickte die junge Frau. Sie lächelte unsicher. »Ja. Das wäre gut, glaube ich.«

Wir brachen sofort auf und ließen sogar das halb fertige Abendessen in der Küche stehen. Aufgeregt folgte ich Udiko und der Frau an die Wasseroberfläche. Ich hatte nicht gewusst, dass auch so etwas zu den Aufgaben eines Suchers gehörte. Anscheinend war mehr an dieser Berufung, als ich geahnt hatte ...

Die Frau besaß ein kleines Boot mit einem vielfach geflickten Segel. Da der Wind günstig wehte, kamen wir schnell voran. Udiko und ich lösten uns am Steuer ab, und da wir Tag und Nacht fuhren, waren wir bald am Ziel. Wir näherten uns der Insel im Morgengrauen. Sie lag im Nebel, und die ersten Sonnenstrahlen hüllten ihre Umrisse in goldenes Licht.

Ich holte die Segel ein, und das schmale Boot glitt lautlos auf die Insel zu. Keiner von uns sprach. Udiko und ich beobachteten die junge Frau, die wie gebannt zur Insel hinüberblickte. Als das Boot den Bug knirschend in den Kies bohrte, wollte ich an Land springen, doch Udiko hielt mich am Arm zurück und schüttelte den Kopf.

Sjava beachtete uns nicht länger. Sie hielt den Blick auf die Insel gerichtet, kletterte aus dem Boot, ohne sich noch einmal umzusehen, und verschwand in dem dichten Wald, der die Insel bedeckte.

Wir warteten lange. Stille lag über dem See. Ein Fisch sprang und zeichnete Wellenringe auf die glatte, von der Frühsonne vergoldete Oberfläche. Das Segel flappte im leichten Wind, und Udiko band es zurück. Wir sprachen kein Wort.

Schließlich kam Sjava zurück. Ihre Augen leuchteten. »Wir können fahren«, sagte sie.

Als wir uns ein Stück von der Insel entfernt hatten, hielt ich es nicht mehr aus. »Was habt Ihr dort gefunden?«, fragte ich Sjava.

Langsam schien die junge Frau zu erwachen, wieder in die normale Welt zurückzukehren. »Mein Leben«, erwiderte sie, und mehr Fragen beantwortete sie mir nicht.

Als Udiko und ich wieder in unsere Wohnkuppel zurückgekehrt waren und seufzend das eingetrocknete Essen aus den Töpfen kratzten, fragte ich: »Werden diese Träume von einem der Götter geschickt? Von Erin vielleicht?«

Udiko schüttelte den Kopf. »Eher vom Geist der Seen selbst. Es ist nicht ganz ungefährlich, ihnen zu folgen. So mancher kommt nie wieder zurück von einer solchen Reise. Aber kaum einer schafft es, ihnen zu widerstehen.«

»Bekommst du oft solche Aufträge?«

»Ein Dutzend war es bisher«, sagte Udiko. »In all den Jahren, in denen ich als Sucher arbeite. Bei allen sieben Göttern der Tiefe, ich würde viel darum geben, auch mal so zu träumen!«

Ich hatte seinen Lieblingsausdruck schon oft gehört, nur diesmal brachte er mich zum Nachdenken. »Bisher kenne ich nur sechs Götter: Garioch, Kinona, Gilia, Isendre, Erin und Zarbas. Wer soll denn dieser siebte sein? Hast du dir den ausgedacht?«

Udiko wandte sich mir zu, und plötzlich war sein Gesicht sehr ernst. »Du kennst die Legende nicht?« Doch statt zu erklären, um für eine Legende es sich handelte, verfiel er in Schweigen. Erst, nachdem wir angefangen hatten zu essen, begann er zu erzählen. »Unsere Gilde hat ein paar düstere Geheimnisse, Kleiner. Dazu gehört, dass wir vor ein paar Hundert Wintern noch Menschenopfer dargebracht haben. So wie einst die Luft-Gilde. Die Gründe waren ähnlich. Die Luft-Leute mussten den Eolan zähmen, eine Art Gott des Windes. Er schützte ihre Gilde, drohte aber, sich gegen sie zu wenden, wenn sie ihn nicht besänftigten. Unser gefährlicher Verbündeter war eben dieser siebte Gott der Tiefe, Targon. Ohne Blutopfer wäre er außer Kontrolle geraten.«

Ich lauschte atemlos und ließ die gefüllten Tangrollen in meiner Essschale kalt werden. »Die Luft-Gilde hat erst vor kurzem geschafft, den Eolan unter Kontrolle zu bringen – ich war etwa in deinem Alter, als die Nachricht sich verbreitet hat«, erzählte Udiko weiter. »Wir hatten Glück und haben es schon ein paar Hundert Winter früher geschafft, nämlich dank Rivas Tan, der damals Mitglied des Hohen Rates war. Er war ungewöhnlich magisch begabt, wahrscheinlich deshalb, weil er vom Sturmläufer abstammte.«

Ich nickte. Der Sturmläufer, ein Mann mit besonderen Kräften, der vor langer Zeit gelebt hatte, war eine Art Stammvater des Seenlandes. In Vanamee kannte jedes Kind das Epos, das über seine Taten gedichtet worden war. »Hat er es geschafft, den Dämon zu bändigen?«

»Der Legende zufolge ja. Er hat es fertig gebracht, Targon in einen Gegenstand zu bannen und damit ungefährlich zu machen. Natürlich wurde Rivas als Retter gefeiert.«

»Was für Leute wurden Targon denn geopfert? Jungfrauen oder so?«

»Nein, vorlaute Jungen«, brummte Udiko und stellte seine Essschale weg.

Ich zuckte die Schultern, wärmte mein Essen mit einer gemurmelten Formel noch einmal auf und aß weiter. Es bietet sich selten eine Gelegenheit, alle Fähigkeiten unserer Gilde anzuwenden – aber beim Kochen ist es enorm praktisch, Wasser erhitzen und abkühlen zu können, indem man sich konzentriert und die alten Worte spricht. Denn niemand von uns kann offenes Feuer leiden, und Brennmaterial ist ohnehin knapp in Vanamee.

Den nächsten Tag gab Udiko mir frei. Ich beschloss spontan, Joelle zu besuchen – das Mädchen, das ich während meiner ersten Zeit als Sucherlehrling kennen gelernt hatte. Ob sie mich überhaupt noch erkannte? Wir hatten uns zuletzt vor drei Monaten gesehen, als ich gerade gelernt hatte, ohne Worte zu sprechen. In der Zeit danach hatte ich vor allem an Lourenca gedacht, und freie Abende waren rar gewesen. Aber nun musste ich unbedingt jemandem von der Traumsuche erzählen. Und ich freute mich darauf, Joelle wieder zu sehen. Weil Udiko mich mit immer neuen Aufträgen in Atem hielt, kannte ich zwar viele Bewohner der Gegend, aber wirkliche Freunde hatte ich in Xanthu noch nicht gefunden.

Ich schwamm zu dem Ort, wo sie wohnte, und fragte mich zu ihrer Luftkuppel durch. Doch statt des Mädchens öffnete mir ein alter Mann, der mich misstrauisch musterte. »Ich ... ich würde gerne Joelle sprechen«, stammelte ich.

»Joelle? Kenne ich nicht. Ach, doch. Du meinst die kleine Blonde. Die ist weggezogen mit ihrer Familie.«

»Wisst Ihr, wohin?«

»Nein«, sagte der Mann und ließ den Vorhang fallen.

Enttäuscht schwamm ich hoch an die Oberfläche, blies meine Schwimmhaut ein wenig auf und ließ mich treiben. Joelles Gesicht stand mir noch so klar vor Augen wie an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ich wusste, dass ich sie finden könnte. Aber erstens wusste ich nicht, wie lange es dauern würde, und Udiko würde mir kaum mehrere freie Tage geben. Und zweitens war ich nicht sicher, ob Joelle mich überhaupt sehen wollte. Nachdem ich Lourencas wegen unser Treffen abgesagt hatte, hatte ich ihr noch eine zweite Botschaft geschickt, aber keine Antwort bekommen. Wahrscheinlich hatte sich mich abgeschrieben ...

Niedergeschlagen schwamm ich zur Schänke, um mit den Leuten aus dem Nachbarsee einen Krug Polliak zu trinken und eine Partie Kelo zu spielen. Aber ich dachte den ganzen Abend immer wieder mit Wehmut an Joelle.

Der Winter brach sehr plötzlich über Vanamee herein, als der Eisgott Zarbas seine Hand über das Seenland legte. Ein Schneesturm fegte über die Gewässer und ließ sie zufrieren. Nur unsere Gegend blieb verschont, weil das Wasser der Vulkanquellen den See wärmte. Trotzdem schwammen wir nicht viel raus und blieben in unserer Kuppel, während drei Menschenlängen über uns Schneestürme tobten.

Udiko ließ sich davon nicht irritieren, dass in dieser Jahreszeit nicht viele Leute mit Aufträgen kamen. Er setzte meine Ausbildung drinnen fort und lehrte mich zum Beispiel, die Merkmale von Landschaften in die große Sandschale zu zeichnen. So prägte ich mir die Beschaffenheit aller wichtigen Gegenden von Vanamee ein und war nie auf Landkarten angewiesen, sondern könnte mir alles, was ich auf einer Suche benötigte, ins Gedächtnis rufen.

Auch die alte und schwierige Kunst, den Geist zu sondieren, ließ er mich üben. Sie wird fast nur von Heilern angewandt, aber auch manche Sucher beherrschen sie – uns dient sie dazu, an verschüttete Erinnerungen heranzukommen, die für eine Suche wichtig sind. Es freute Udiko sehr, dass ich eine Begabung für das Sondieren hatte.

Anderes brauchte Udiko mir nicht beizubringen. Da meine Mutter als Künstlerin viel mit Gildenformeln gearbeitet hatte, hatte sie mich besser als die meisten darin ausgebildet. Ich war genauso gut darin wie Udiko, mit einer gemurmelten Formel Nebel zu rufen und Wellen zu formen. Anderes fiel mir schwer. Udiko bestand zum Beispiel darauf, dass ich mich im Nahkampf übte. »Du wirst als Sucher in vielen gefährlichen Gegenden unterwegs sein«, erklärte er. »Wer sich seiner Haut nicht wehren kann, der wird nicht alt in dieser Berufung. Und bei deiner großen Klappe wundert es mich, dass du nicht schon längst niedergestochen worden bist.«

Also bekam ich im Hauptraum seiner Kuppel meinen ersten Kampfunterricht und eine Schulung, wie man mit Säurekugeln umgeht. So viel wie an diesem Tag hatte ich Udiko selten fluchen gehört. Vor allem deshalb, weil ich es schon nach fünfmal zehn Atemzügen geschafft hatte, ein Säureloch in seinen wertvollen Buntalgenteppich zu brennen. Auch mit dem Messer stellte ich mich nicht allzu geschickt an und bekam tägliche Lektionen verordnet.

An den langen Winterabenden saßen wir meist mit einem Becher Cayoral im Hauptraum, und Udiko erzählte. Jeden Tag nahm er einen der vielen eigenartigen Gegenstände in seiner Kuppel und berichtete, woher er ihn hatte und was für eine Suche dahinter steckte. Ich konnte nicht genug bekommen von diesen Geschichten und lernte viel daraus.

Trotz all dem bekam ich in diesem Winter zum ersten Mal Heimweh. Ich vermisste Jarco, meine Familie, meine Freunde in Colaris und Uskali. Deshalb war ich begeistert, als sich meine Schwester Kenna zu einem Besuch ansagte. Sie war die älteste von uns drei Geschwistern – vier Winter älter als ich – und im Gegensatz zu mir sehr vernünftig. Früher hatte ich sie oft fast zum Wahnsinn getrieben, aber inzwischen verstanden wir uns gut. Sie freute sich sehr, als ich ihr die schwarze Perle schenkte.

Taktvoll ließ Udiko uns allein, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten. Es gab viel zu erzählen, und wir redeten bis spät in die Nacht. Als wir alle Neuigkeiten ausgetauscht hatten, wurde Kenna ernst. »Willst du Vater nicht mal besuchen, Tjeri? Er vermisst dich.«

Ich vermisste ihn auch. Die Sehnsucht danach, mal wieder Seite an Seite mit ihm durch die Fischfarmen zu schwimmen, setzte mein Herz unter Wasser. Aber dann dachte ich wieder an seine neue Frau und an den hässlichen Streit. Unglaublich, es tat immer noch weh. »Hat er das gesagt?«, fragte ich hart. »Dass er mich vermisst?«

»Nein, nicht direkt. Aber ich weiß es. Er würde sich freuen, dich zu sehen.«

»Ich bin in den nächsten Monaten nicht im Norden. Und Zeit habe ich auch keine.«

»Du kannst ganz schön grausam sein, Tjeri.«

Ich schwieg und streichelte den Salamander auf meiner Schulter.

Der Sucher

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