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Sehen lernen

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Ich merkte schnell, was es bedeutete, Lehrling beim berüchtigtsten Sucher Dareshs zu sein. Und mir wurde bald klar, dass Udiko sich seinen Ruf verdient hatte. Am nächsten Tag, nachdem ich meine Lehre begonnen hatte, wagte ein Dörfler aus einem Nachbarsee, wegen eines verlorenen Armreifs zum Großen Udiko zu kommen. Schüchtern erklärte er, dass ihm das Ding beim Gewitter neulich über Bord gegangen war.

»Bei allen sieben Göttern der Tiefe, wegen so was wagt Ihr, mich zu stören? Habt Ihr nicht gehört, dass ich mich zur Ruhe gesetzt habe?«, knurrte Udiko und warf den armen Mann einfach raus.

Demnach schien zu stimmen, dass er nur noch praktisch unmögliche Aufträge annahm. »Wieso habt Ihr mich's nicht einfach machen lassen?«, wagte ich einzuwenden. »Der Armreif scheint ihm sehr wichtig zu sein. Und wahrscheinlich hätte ich das Ding schnell gefunden.«

Udiko schnaubte. »Das ist der Nachteil, wenn man einen Lehrling hat, der zwei Winter älter ist als üblich«, brummte er und stapfte in den Wohntrakt zurück. »Je älter, desto mehr Widerworte!«

Fast hätte ich ihn daran erinnert, dass ich zwar versprochen hatte, ihm in allen Dingen zu gehorchen – aber nicht, ohne Fragen zu stellen. Doch dann hielt ich lieber den Mund. Der Alte sah so aus, als würde er unsere Muschel bei meinem nächsten dummen Spruch mit einem Fußtritt in zwei Dutzend Teile zerlegen.

Am Nachmittag schickte Udiko mich aus, Blaue Tarlas zu sammeln. Das gehörte von nun an zu meinen Aufgaben. Ich beeilte mich dabei und packte die Ernte in eine Sammeltasche, während mein Salamander zu seiner Lieblingsstelle auf meiner Schulter hochkroch. Normalerweise kehren Botentiere, die eine Nachricht überbracht haben, zu ihrem Händler zurück, sodass er ihre Dienste wieder und wieder anbieten kann. Doch der Salamander hatte anscheinend entschieden, dass er lieber bei mir leben wollte.

Als ich mich von dem anstrengenden Tieftauchen erholt hatte, schwamm ich in Richtung des Dorfs. Wenn ich mich beeilte, war der Mann mit dem verlorenen Schmuckstück vielleicht noch in der Gegend.

Ich fand ihn in einer Schänke, die fünf Menschenlängen tief im Flachwasser eines Nachbarsees stand. Trübsinnig starrte der Mann in seinen Krug Polliak. Die anderen Besucher blickten mich neugierig an, als ich hereinkam. Würde einer von ihnen mich bei Udiko verpetzen?

»Wer zum Brackwasser bist du?«, fragte der Fremde misstrauisch, als ich mich neben ihn auf den Boden setzte.

»Das tut nichts zur Sache«, sagte ich schnell. »Ich bin hier, um Euch zu helfen. Wie sieht dieser Armreif aus, den Ihr verloren habt, und wo genau ist er Euch ins Wasser gefallen?«

»W-wenn du ihn stehlen willst, wirst du kein Glück haben«, lallte der Mann. »Er ist irgendwo in der Mitte des Sees, da, wo es am tiefsten ist ... Der ist weg ... Verdammtes Pech ...«

Ich schaute mir die drei leeren Polliak-Krüge an, die neben ihm auf dem niedrigen Tischchen standen. Drei, beim Brackwasser! Bei einer wilden Feier mit Jarco hatte ich mal einen geschafft, danach einen kompletten Sonnenumlauf geschlafen und einen so hässlichen Hautausschlag bekommen, dass ich mich bis zum nächsten Vollmond nicht unter Menschen gewagt hatte. »Vielleicht geht Ihr jetzt besser nach Hause«, empfahl ich ihm.

Der Mann stöhnte auf. »Bevor ich das Ding nicht zurück habe, brauche ich mich gar nicht erst daheim blicken lassen ... Es war ein Erbstück ... Zilja hat es geliebt ...«

Nach und nach bekam ich alles aus ihm heraus, was ich wissen musste. Es war auch höchste Zeit, die Sonne neigte sich schon Richtung Horizont. Wenn ich nicht bald zurückkäme, würde Udiko vor Wut das Wasser um seine Kuppel herum zum Kochen bringen.

Ich tauchte in der Mitte des Sees und suchte immer ein paar Menschenlängen auf einmal ab – so oft, bis mir schwindelig wurde und ich verschnaufen musste. Es war schwieriger, als ich gedacht hatte. Der Grund bestand an dieser Stelle aus dickem Schlamm. Vielleicht wäre es das Beste, einfach zurückzuschwimmen und die ganze Sache zu vergessen. Der Kerl wusste nicht mal, wie ich hieß, und ich hatte ihm nichts versprochen.

Aber etwas in mir sträubte sich dagegen, so leicht aufzugeben, und schließlich gab mir ein neugierig im Boden herumschnobernder Wels den entscheidenden Hinweis. Kurz darauf glänzte der Armreif in meiner Hand – er bestand aus gehämmertem Kupfer und war mit kleinen blauen Chrysopalen besetzt.

So schnell ich konnte, kehrte ich zu der Schänke zurück und drückte dem Mann, der inzwischen einen vierten Polliak-Krug vor sich hatte, den Armreif in die Hand. »Hier. An Eurer Stelle würde ich jetzt aber wirklich heimgehen.«

Als er sich von seiner Überraschung erholt hatte, rief er mir etwas über Belohnung und Finderlohn nach, aber ich hatte nur noch eins im Kopf – so schnell wie möglich zum Alten zurückzukehren. Ein halbes Dutzend mögliche Ausreden kreiste mir im Kopf herum. Aber ich kam gar nicht dazu, sie über die Lippen zu bringen.

Als Udiko mich sah, begann er sofort zu toben. »Bitte sag mir, dass du es nicht getan hast! Bitte sag mir, dass du ihm nicht den Armreif zurückgebracht hast!«

Woher wusste er ...? Aber das war ja auch egal. »Doch, das habe ich«, sagte ich trotzig. »Er war ein Stück im Schlamm eingesunken, wahrscheinlich hat er ihn deswegen nicht selbst entdeckt.«

Udiko stöhnte. »Du verdammte Kaulquappe. Da hast du ja was angerichtet.«

Ein eisiges Prickeln lief mir über den Rücken. »Wieso?«

»Wenn du richtig hingeschaut hättest, dann wäre dir auf drei Längen Entfernung aufgefallen, dass der Mann ein Säufer ist. Und wenn du nachgedacht hättest, dann hättest du dich vielleicht gefragt, warum der Mann mit einem Armreif, der offensichtlich nicht ihm, sondern einer Frau gehört, auf der Mitte eines Sees unterwegs gewesen ist.«

So langsam dämmerte mir etwas. »O nein. Ihr meint, er wollte den Armreif seiner Gefährtin gegen Polliak eintauschen?«

»Das hat er vermutlich inzwischen.« Als Udiko meine betretene Miene sah, wurde sein Ausdruck wieder etwas milder. »So, und jetzt ruhst du dich gefälligst aus. Du bist ja völlig fertig.«

Ich warf mich auf meine aus Schilf gewobene Schlafmatte und fühlte mich elend. Düstere Gedanken zogen durch meinen Kopf. Am liebsten wäre ich in die Schänke gegangen und hätte dem Kerl den Armreif wieder abgenommen. Aber dann blieb ich doch einfach liegen.

Der Raum, in dem meine Schlafmatte lag und den Udiko zu meinem Zimmer erklärt hatte, war vorher ein Lager gewesen und noch immer genau wie der Rest der Kuppel voll gestopft mit den unwahrscheinlichsten Dingen, die Udiko im Laufe seines Lebens geschenkt bekommen hatte. Wenn ich nicht einschlafen konnte, beschäftigte ich mich damit, sie mir anzuschauen und mir vorzustellen, wozu sie gut sein mochten.

Aber selbst dazu hatte ich jetzt keine Lust. Ich starrte einfach hoch an die gewölbte Decke der Kuppel, durch die man das grüne Wasser des Sees und die vorbeiziehenden Fischschwärme sehen konnte. Von außen war das Material der Kuppel spiegelnd, deshalb beachteten die Fische mich nicht.

Nach und nach merkte ich, dass sehr leckere Düfte Udikos Wohnkuppel zu durchziehen begannen. Irgendwann machte ich mich auf den Weg zur Küche, die wie die anderen Räume nur durch eine dünne Stoffwand vom großen Wohnraum abgeteilt war. Fasziniert blieb ich im Eingang stehen und beobachtete Udiko. Er glitt hin und her wie ein Magier auf der Bühne, kostete hier, rührte da um, sprach eine Formel, um den Inhalt eines Topfs noch etwas mehr zu erhitzen, rieb ein paar Gewürze. »Ich hoffe, du magst ein Mousse aus Viskarienblättern, Kleiner.«

Ich wusste noch nicht mal, was das war. Wahrscheinlich irgend so ein Zeug der Erd-Gilde. Aber ich nickte trotzdem.

Als wir im Hauptraum mit den Tellern auf den Knien auf dem Boden saßen, stellte ich fest, dass es köstlich schmeckte. Wahrscheinlich musste ich aufpassen, dass ich während dieser Lehrzeit nicht rund wie eine Kugel wurde.

Schweigend aßen wir. Dann setzte Udiko seinen Teller ab und blickte mich streng an. Mir blieb fast die Blätterpaste im Hals stecken. Kam jetzt die Quittung für meine Blödheit? Aber er sagte nur: »Ich verstehe natürlich, warum du's gemacht hast.«

»Vielleicht solltet Ihr mir einfach diejenigen Besucher überlassen, die ein ganz normales Anliegen haben«, wagte ich vorzuschlagen. »Damit ich ein bisschen Übung bekomme.«

»Dafür ist es noch zu früh. Erst ist es höchste Zeit, dass wir deine Ausbildung beginnen«, sagte Udiko. »Deine erste Lektion ist: Jede Suche hat eine verborgene Wahrheit, die unter der Oberfläche liegt. Sie ist es, die du erkennen musst, sonst hat deine Arbeit keinen Sinn.« Er fasste hinter sich und holte ein schwarzes, aus dünnen Terlizzi-Algen gewobenes Stück Stoff hervor. »So, jetzt zu deiner ersten Übung. Bind dir das um die Augen.«

»Moment mal – ich soll Sehen lernen, indem ich mir die Augen verbinde?!«

»Du stellst zu viele Fragen, Junge«, knurrte der Große Udiko, und ich tat, was er befohlen hatte. Mir war ein bisschen mulmig zumute. Jetzt war es so finster um mich herum wie bei Neumond an Land.

»So«, sagte Udiko. »Das behältst du jetzt zwei Wochen lang an. Tag und Nacht. Das wird dein Gehör, deinen Geruch- und Tastsinn schulen.«

Ich erschrak. Zwei Wochen! Das war eine verdammt lange Zeit, um in Dunkelheit zu leben! Wollte er mich etwa so in den See hinausschicken ... Wie, beim Brackwasser, sollte ich mich da orientieren?

»Mach dir keine Sorgen – dazu hast du später noch genug Zeit«, brummte Udiko. »Atme jetzt mal ganz langsam und bewusst. Fühlst du deinen Herzschlag, merkst du, wie die Luft durch deine Lungen hinaus- und hineinströmt?«

»Ja.« Ich merkte, wie ich ruhiger wurde, mich entspannte.

»Gut. Dann konzentrier dich jetzt auf deine Sinne, darauf, was du von deiner Umgebung wahrnimmst.«

Langsam drehte ich den Kopf. Der würzige Viskariengeruch hing noch in der Luft, aber es roch auch nach alten Schriftrollen und dem Schlamm, den ich unfreiwillig von meiner Expedition in den Nachbarsee mitgebracht hatte. Es war sehr still, und ich konnte Udikos Atem hören, die Geräusche, als er aufstand, das Klappern, als er unsere hölzernen Essschalen ineinander stellte. Ich spürte den leichten Luftzug, als der Alte an mir vorbeiging, und mir wurde bewusst, wie seidig weich der Buntalgenteppich unter meinen Füßen sich anfühlte. Er war immer ein wenig kühl auf der Haut, weil die Algen unsere Luft rein hielten und auffrischten.

»Was ist, hilfst du mir nicht beim Abräumen?«, knurrte Udiko.

»Klar«, sagte ich, griff nach den Schalen – und begann mein Leben als Blinder auf Zeit, indem ich die Finger in die Blättermousse-Schüssel tunkte.

* * *

In den Stunden nach dem Aufgang des dritten Monds war Mi'raela oft in den Höhlen und Gängen der Burg unterwegs, tief unten, dort, wohin sich höchstens Halbmenschen und besonders mutige menschliche Diener verirrten. Manchmal schaffte sie es auf diesen Ausflügen, einen Nachtwissler zu reißen, der sich in die Burg verirrt hatte. Die kleinen, schwarzfelligen Nachtwissler konnten sich auf ihren vier dünnen Pfoten so rasch bewegen wie kaum ein anderes Tier, und sie wussten, wie man sich verbarg. Oft verrieten sie sich nur durch ihr ständiges Quietschen, das so hoch war, dass Menschen es kaum hören konnten. Ihnen aufzulauern und sie zu überlisten, war genau die richtige Herausforderung für Mi'raela. Im heißen Rausch der Jagd und wenn sie das salzige Blut auf der Zunge spürte, fühlte sie sich wenigstens ein paar Momente lang lebendig ...

Sie schlich durch eine Höhle, in der sich wie ein schwarzer Spiegel einer der Speicherseen ausbreitete. Es war kühl und feucht hier und roch nach nassem Stein und Algen. Ab und zu fielen Wassertropfen. Mi'raela mochte diesen Ort nicht, aber sie musste hier durch, um in die hinteren Winkel des Südtrakts vorzudringen. Geschickt balancierte sie einen schmalen, glitschigen Sims entlang, eine Pfotenhand vor der anderen. Doch heute war irgendetwas anders in ihrem Revier. Mi'raelas Schnurrhaare tasteten vor; wachsam hob sie den Kopf, und ihre Schwanzspitze zuckte. Wenige Atemzüge später hatte sie festgestellt, was sie störte. In einer Nische der Wand saß jemand, bewegungslos wie eine Statue. Ein Mensch!

»Hallo«, sagte eine helle Mädchenstimme, die ein wenig zittrig klang. »Du hast mich ganz schön erschreckt. Ich bin übrigens Jini.«

Mi'raela antwortete nicht, witterte nur misstrauisch. Was wollte dieses Mädchen von ihr? Elegant drehte sie sich auf dem schmalen Sims, um zu verschwinden. Sie erinnerte sich dunkel, dass sie schon einmal etwas über dieses Mädchen gehört hatte. Es war erst seit ein paar Wochen in der Burg. Es war einfach hier gelassen worden von den Männern, die es mitgebracht hatten.

»He, warte doch!«, rief ihr das Mädchen hinterher. »Ich kenne dich. Du bist doch Staubflocke, oder? Dienerin dieser Kerle in den schwarzen Kutten?«

Nein, nein, nein, dachte Mi'raela wütend. Bei ihren nächtlichen Ausflügen war sie nicht Staubflocke, und sie wollte auch nicht daran erinnert werden, dass sie in dieser verwünschten Burg Sklavendienste verrichten musste. Sie machte kehrt und huschte davon.

Trotzdem zog es sie in der nächsten Nacht wieder zu dem unterirdischen Teich. Nur mal schauen, dachte sie. Sie konnte ja gleich wieder verschwinden, wenn das Mädchen da wäre.

Schon von weitem hörte sie Geräusche – ein Planschen, das hohl von den Wänden widerhallte. Mit entsetzt zuckenden Schnurrhaaren sah Mi'raela, dass das Mädchen in den Teich gefallen war und nun mit den Armen ruderte, um sich daraus zu retten. Das sonst so spiegelglatte Wasser war in Aufruhr, schwappte an den dunklen Steinwänden hoch.

Das Mädchen verschwand unter der Wasseroberfläche. Ich muss ihr helfen, dachte Mi'raela, aber ihr Körper war wie gelähmt beim Gedanken an dieses furchtbar nasse Zeug. Gerade, als sich ihre Muskeln doch noch zum Sprung spannten, tauchte das Mädchen wieder auf. Unmittelbar vor ihr. Und es wirkte keineswegs, als sei es in Not.

»Du wirst mich doch nicht verpetzen, oder?«, fragte das Mädchen verlegen. »Ich weiß, dass es nicht erlaubt ist, im Speichersee zu schwimmen, aber es macht einfach so viel Spaß ...«

Mi'raela war entsetzt. Spaß? »Das hier Trinkwasser«, sagte sie und tat so, als spräche sie nur ein paar Worte Daresi.

»Ach, du weißt doch selber, dass die meisten Leute sowieso aus den Tiefbrunnen trinken, das hier ist nur für den Notfall oder einen Brand gedacht.«

Das stimmte. Mi'raela verlor das Interesse. Sie wandte sich ab, um davonzuschleichen. Noch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, heute einen Nachtwissler zu erbeuten ...

»Warte doch!«, rief das Mädchen hinter ihr her. »Wollen wir nicht noch ein bisschen reden?«

»Nein«, gab Mi'raela zurück. Aber sie blieb trotzdem stehen. Sie kannte den Ton, der in der Stimme des Mädchens mitgeklungen hatte. Einsamkeit. Dieser Ton berührte ihr Herz einen kurzen Moment und ließ sie zögern.

Doch dann trugen ihre Pfoten sie davon. Nein, so leicht würde sie sich nicht einwickeln lassen. Wer wusste, was dieses Mädchen vorhatte! Trau den Dörflingen nie – sie werden dich tausendmal enttäuschen und dann noch einmal mehr.

* * *

Den ersten Tag mit verbundenen Augen verbrachte ich drinnen und erforschte Udikos Wohnkuppel mit Ohren, Fingerspitzen und Nase. Was nicht immer angenehm war. In einer Ecke meines Zimmers fand ich die Leiche eines Flusskrebses, der anscheinend aus Neugier hier hereingekrochen war, den Ausgang nicht mehr gefunden und sein Leben ausgehaucht hatte. Er stank schon. Auch die anderen abgelegenen Ecken der Kuppel hatten eine Grundreinigung dringend nötig.

Zu Anfang lief ich oft gegen die Wände der Kuppel, die zum Glück federnd nachgaben. Ich gewöhnte mir an, die Arme auszustrecken, wenn ich mich durch die Gegend bewegte. »Das machen nur Anfänger«, schalt mich Udiko. »Wenn du so rumläufst, siehst du aus wie ein Wanderprediger.«

»Gequirlte Schnepfengalle, ich bin ein Anfänger ...«

»Dann hör gefälligst zu, weil ich dir jetzt etwas beibringe!«, knurrte mein Meister – und erklärte mir, wie man auf das feine Echo von Geräuschen lauschen und so feststellen kann, wie groß der Raum ist, in dem man sich befindet, wo die Wände sind und wo Hindernisse lauern. In jeder Umgebung klingen Geräusche anders, mal flach, mal dumpf, mal hallend – wer das nutzen lernt, kann sich mit etwas Übung in völliger Dunkelheit orientieren.

Trotz dieser Schulung holte ich mir Beulen. Als ich Udikos Sammlung von Merkwürdigkeiten abtastete, fiel ein ganzer Turm davon in sich zusammen und knallte mir auf den Kopf. Zum Glück waren keine schweren Statuen dabei.

Mitleid bekam ich natürlich keines. »Wie kann man nur so blöd sein und das Kästchen herausziehen, das den Stapel zusammenhält«, raunte Udiko und brummte mir neue Übungen für den Tastsinn auf.

Am zweiten Tag ging's raus in den See, und ich genoss das Gefühl des Wassers auf der Haut. Bei diesen Übungen hatte ich weniger Probleme, als ich befürchtet hatte. Seit meiner Kindheit tauchte ich in den Seen von Vanamee, ich war es gewöhnt, ihre dunklen Abgründe zu erforschen. Auch die Kunst, nachts einem schwimmenden Menschen zu folgen, indem man seinen Wasserwirbeln nachspürt, hatte ich oft genug mit meinen Freunden geübt.

Schwieriger wurde es, als Udiko mich alleine losschickte und mir Aufgaben stellte, die ich blind bewältigen musste – zum Beispiel, eine reife Honigblüte von der Landbrücke zu holen, ohne sie dabei zu zertreten. Oder einen Gegenstand zu finden, den er an einer bestimmten Stelle des Sees deponiert hatte. Ich übte, Schwimmzüge zu zählen, um Zeiten und Entfernungen zu schätzen, und mir jede meiner Bewegungen zu merken, um sie auf einer Landkarte in meinem Gedächtnis einzutragen.

Nach einer Woche verirrte ich mich auch mit verbundenen Augen immer seltener. Ich konnte an dem Gefühl der Sonne auf meiner Haut abschätzen, welche Tageszeit es war. Meine Ohren schienen viel schärfer geworden zu sein und meldeten mir Dinge, die ich zuvor einfach überhört hatte.

Doch in der Nacht legte ich manchmal die Hände auf meine nutzlosen Augen und wünschte mir, die Sonne sehen zu dürfen, die ruckartigen, scheuen Bewegungen des Mondreihers, das Glitzern des Wassers an einem hellen Tag. Lachende Augen hast du, hatte Lourenca mir einmal gesagt. Wenn du mich anschaust, dann ist das für mich wie der Geschmack von Quellwasser ...

Das Dumme an verbundenen Augen ist, dass man sich noch nicht mal Tränen wegwischen kann.

Udiko schien zu spüren, dass es mir schon mal besser gegangen war. »Heute schwimmen wir auf den Markt«, verkündete er am achten Tag.

Zuerst freute ich mich über die Abwechslung. Nach einer Woche allein mit dem Alten würde es Spaß machen, mal wieder andere Leute zu treffen. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich das schwarze Tuch noch immer nicht ablegen durfte. »O je. Ich werde mir vorkommen wie ein Idiot.«

»Sei nicht albern, Kleiner. Du bist nicht der erste Lehrling, den ich ins Dorf mitnehme.«

Wir machten es uns einfach und ließen uns den Xanthu-Fluss hinuntertreiben, bis wir den Südlichen Markt erreichten. Schon von weitem hörte ich das Stimmengewirr, das Geräusch von Paddeln, die durchs Wasser gezogen wurden, das Blubbern von Suppen an den Kochständen. Verlockende Gerüche nach frischen Goldalgen, geräuchertem Aal und scharf gewürzten Fischbällchen durchzogen die Luft. Wir kletterten auf die Plattform und mischten uns unter die Menge. Ständig streiften mich Arme, spürte ich Körper an mir vorbeidrängen. Obwohl ich eigentlich ein geselliger Mensch bin, fand ich das nach der Einsamkeit des Xanthu-Sees anstrengend. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich konnte die Blicke förmlich spüren, die sich auf mich richteten. Es wurde fast unerträglich, nichts sehen zu können, und ich fühlte mich so hilflos wie lange nicht. Blind hätte ich in dieser lärmenden Menge keine Chance, meinen Meister wieder zu finden, sollte ich ihn verlieren.

»Ganz ruhig«, raunte mir Udiko zu. »Lausch auf die Stimmen. Hörst du, wie die dunklen Töne daraus verschwinden, wenn jemand aufgeregt ist? Achte nicht so sehr auf das, was gesagt wird, sondern auf das, was in der Stimme mitschwingt ...«

Wir blieben den ganzen Tag auf dem Markt. Ich verbrachte die Zeit mit Zuhören, Udiko damit, sich an den Fressständen durchzuprobieren. Etwas vorsichtiger folgte ich seinem Beispiel. Ich war gerade in einer Phase, in der ich mir nicht mehr sicher war, ob ich überhaupt weiterhin Fleisch – tote Tiere! – essen wollte.

Unschlüssig ging ich an den Ständen vorbei und versuchte, mit der Nase festzustellen, was es dort gab. Da Udiko natürlich nicht daran dachte, mich am Händchen zu nehmen, passierte das Unvermeidliche: Ich stolperte über eine Kiste, die jemand hatte stehen lassen, und schlug der Länge nach hin.

»Alles klar?«, fragte eine helle Stimme besorgt. Eine schmale Hand ergriff meinen Ellenbogen und half mir, wieder auf die Füße zu kommen.

»Danke«, keuchte ich und versuchte, mich neu zu orientieren. Ich hatte mir zwar kaum wehgetan, aber durch den Unfall wusste ich nicht mehr, in welche Richtung ich gegangen war. Mit etwas Pech spazierte ich jetzt ahnungslos zum Ende der Plattform zurück und fiel über die Kante ins Wasser. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte ...

»Wieso trägst du dieses ... Ding? Bist du an den Augen verletzt?« Das Mädchen war immer noch da.

»Zum Glück nicht – ich bin Sucher-Lehrling«, erklärte ich und versuchte, sie anzulächeln. Aber anscheinend guckte ich in die falsche Richtung, denn sie begann zu kichern. Ich drehte mich ihrer Stimme zu. »Tja, schade, ich weiß gar nicht, wie du aussiehst.«

Das Mädchen lachte. »Schau doch selbst ...«

Sie nahm einfach meine Hand und legte sie auf ihre Wange. Ich war so verblüfft, dass ich erst einen Wimpernschlag später begriff, was sie meinte. Dann begann ich, sanft ihr Gesicht abzutasten. Sie hatte eine kleine, ein bisschen knubbelige Nase, unglaublich zarte Haut und kurze Haare, wie wir sie fast alle trugen, weil sie nicht so lange zum Trocknen brauchten. »Fühlt sich alles ziemlich gut an«, sagte ich. Sie roch auch gut, nach frischem Wasser und Baumharz und den Nüssen, die sie wahrscheinlich vorhin gegessen hatte.

»Na, schade, dass du auf diese Art nicht sehen kannst, wie schön der Himmel heute aussieht. Er ist von weißen Wölkchen richtig gesprenkelt.«

»Das muss ich mir eben vorstellen«, erwiderte ich und versuchte es gleich mal.

Gerade wollte ich dem Mädchen davon erzählen, da sagte es hastig: »Ich muss gehen. Da ist mein Bruder, er wartet schon auf mich. Friede den Gilden!«

»Äh, und Wohlstand ganz Daresh«, brachte ich gerade noch heraus und ärgerte mich, weil ich vergessen hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen.

Udiko und ich verbrachten die ganze nächste Woche auf verschiedenen Märkten, in Schänken und Handelsposten. Meist unterhielten wir uns kaum dabei, hörten nur zu und verglichen ab und zu unsere Eindrücke oder machten Bemerkungen. Ob Udiko wusste, dass ich nach einer ganz bestimmten Stimme lauschte? Aber sie war nie dabei. Keine Chance, dachte ich. Du weißt nicht, wie sie heißt, du weißt nicht genau, wie sie aussieht ... Vergiss es einfach!

Abends, zurück in der Wohnkuppel am Grund des Sees, unterhielten Udiko und ich uns ausführlicher über die Gespräche, die wir mitgehört hatten. Unter seiner Anleitung lernte ich, die feinen Schwingungen aus Stimmen herauszuhören, die eine Lüge verrieten. Nach zwei Tagen hatte ich auch keine Probleme mehr damit, mehrere Gespräche gleichzeitig zu verfolgen, indem ich mal hier, mal dort ein paar Atemzüge lang mithörte. Udiko brachte mir bei, aus dem Akzent festzustellen, aus welcher Gegend von Daresh jemand stammte, und durch die Redeweise und Anhaltspunkte im Gespräch innerhalb von kurzer Zeit herauszufinden, was für einer Gilde derjenige angehörte, was für eine Berufung er hatte, in welchen Verhältnissen er aufgewachsen war, wie er lebte und dachte.

Manchmal versuchte ich, meine neuen Fähigkeiten auf Udiko selbst anzuwenden. Ich wusste kaum etwas über ihn, und er war natürlich der Mensch, der mich im Moment am meisten interessierte. Doch Udiko schaffte es auf irgendeine Art, gleichzeitig völlig ehrlich zu sein und sehr wenig über sich zu verraten. Ich konnte den Nebelschleier, den er über seine Persönlichkeit legte, förmlich spüren. Natürlich war es mein Fehler – ich traute mich noch nicht, ihn einfach auszufragen. So, wie auch er mir keine Fragen stellte, obwohl ich sein Lehrling war und mit ihm in einer Kuppel lebte. Ich glaube, er wartete darauf, bis ich bereit war, ihm freiwillig etwas über mich zu erzählen.

An einem regnerischen Abend kurz nach Sonnenuntergang verkündete der Große Udiko: »Die zwei Wochen sind um. Du kannst das Tuch nun wieder abnehmen, wenn du willst.«

Ob ich wollte? Was für eine Frage! Allerdings hatte sich der Knoten so festgezogen, dass ich mein Messer zu Hilfe nehmen und das Tuch zerschneiden musste. Langsam zog ich es mir vom Kopf – und war froh, dass Udiko eines seiner beiden Leuchttierchen abgedeckt hatte. Selbst der schwache Schein tat mir in den Augen weh.

»Morgen gehst du nicht raus – du musst dich langsam wieder ans Licht gewöhnen«, befahl Udiko. Er legte mir kurz die Hand auf die Schulter. »Glückwunsch. Diese erste Zeit war nicht leicht, aber du hast dich gut gehalten, Tjeri.«

In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich alles durchstehen konnte, was jetzt noch kommen würde. Das lag nicht nur an dem Lob. Ich hatte eine Ahnung davon bekommen, was ein Sucher ist, was ich aus mir machen könnte – und ich war wild darauf, mehr zu lernen.

Damals wusste ich nicht, dass Udiko und mir die wahre Zerreißprobe noch bevorstand.

Der Sucher

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