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Der Herr der Quallen

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Meine zweite große Bewährungsprobe kam, als das Eis gerade geschmolzen war und allmählich wieder Ratsuchende zu uns fanden. Nicht immer waren sie so harmlos wie unsere bisherigen Gäste.

Als wir an einem milden Frühlingstag hörten, dass jemand zur Kuppel heruntertauchte, versuchte der Große Udiko aufzustehen. Stöhnend ließ er sich wieder zurücksinken. »Geh du«, knurrte er. »Mein Rücken tut heute weh wie sonst nur nach einem Wettschwimmen.«

Ich hatte keine Zeit, einen Gruß zu rufen. Der Vorhang wurde mir aus der Hand gerissen, und ein halbes Dutzend Soldaten in nassen schwarz-silbernen Uniformen drängte sich aus dem Vorraum in den Gang. Sie sahen aus wie halb ertränkte Nachtwissler. »He, Junge!«, brüllte mich einer von ihnen an. »Wo ist dein Meister?«

Ich legte die Hand ans Ohr. »Was habt Ihr gesagt? Könntet Ihr bitte ein bisschen lauter reden?«

»WO IST DEIN ...«

»Schon gut, schon gut«, sagte ich und ging ihnen voran in die Wohnkuppel. Wieso verstand eigentlich nie jemand aus einer anderen Gilde meine Witze? Und wer waren diese Kerle überhaupt? Da es auf Daresh nicht viele Uniformen gab, fiel mir nur eine Möglichkeit ein: Es mussten Farak-Alit sein, Mitglieder der gildenlosen Elitetruppe der Regentin. Ich kündigte sie Udiko an und setzte mich neben ihn, um mir anzuhören, was die Kerle zu sagen hatten. Vielleicht überlegte ich mir besser schon mal, ob und wie wir es im Zweifelsfall schaffen könnten, sie rauszuwerfen.

Die Soldaten stellten sich breitbeinig mitten in die Kuppel und tropften den Teppich voll, weil sie keine schnell trocknenden Schwimmhäute trugen. Ihre Langschwerter schleiften fast auf dem Boden; sie waren so unhöflich gewesen, ihre Waffen in den Wohnbereich mitzunehmen. Aber Udiko ließ sich keinen Ärger anmerken.

»Seid Ihr der Große Udiko?«, raunzte der Kommandant – derjenige, der mich vorhin angeschrien hatte.

»So werde ich genannt.«

»Die Regentin braucht Eure Hilfe«, sagte der Farak-Alit. Ich versuchte ihn so zu sehen, wie Udiko es mir beigebracht hatte, und bemerkte, dass seine Kiefermuskeln angespannt waren. Er schien sehr nervös zu sein. »Ihr Sohn, der Zweite Regent, wird im Seenland vermisst. Man hat uns gesagt, dass Ihr der beste Sucher von Vanamee seid. Ihr habt Befehl, ihn zu suchen und zurückzubringen. Sofort. Und natürlich ist das alles strengstens geheim!«

Udiko und ich sahen uns an. Eins war klar: In seinem momentanen Zustand konnte Udiko nicht mal eine Menschenlänge weit schwimmen. Andererseits lehnte man eine Bitte der Regentin nicht leichten Herzens ab. Weil man sonst riskierte, einen Kopf kürzer gemacht zu werden.

»Das mag sein«, gab mein Meister zurück. »Aber ich bin krank. Der Rücken. Tut mir leid.«

Das gefiel ihnen nicht. Ganz und gar nicht. Mürrisch fragte der Kommandeur: »Wer ist der zweitbeste Sucher von Vanamee, und wo lebt er?«

»Kiris. Im Norden, zehn Tagesreisen von hier.«

Allmählich sah der Kommandeur etwas verzweifelt aus. »Gibt es keinen guten Sucher, der näher wohnt?«

»Doch«, sagte Udiko und deutete auf mich.

Ich war sprachlos. Moment mal! Ich lernte erst seit einem Winter von ihm! Er konnte nicht ernsthaft vorhaben, mich auf eine so wichtige Suche zu schicken! Auch die Soldaten blickten nicht wirklich überzeugt drein. Doch Udiko blieb wie üblich die Ruhe selbst. »Erzählt uns, was passiert ist.«

»Der Zweite Regent war tagsüber wie immer ohne Eskorte unterwegs«, berichtete der Kommandant schroff. »Das macht er gerne, er reist viel durch die Provinzen. Normalerweise holen wir ihn jeden Abend ein, um ihn nachts zu beschützen. Doch diesmal haben wir nur sein Kanu treibend gefunden. Leer. Das war vor fünf Tagen.«

»In welcher Gegend?«

»Zwei Tagesreisen südlich von hier. Keine Ahnung, wie die verdammte Gegend heißt.«

»Lingaja-Region«, sagte ich und begann, wie es meine Aufgabe war, mit einem feinen Stöckchen eine Karte der Gegend in die Sandschale zu zeichnen. Den Schwarzen Fluss. Die Hundert Schächte. Die Quallenhöhlen. Je länger ich zeichnete, desto mulmiger wurde mir zu Mute. Wenn dieser Bursche tatsächlich da langgepaddelt war, dann würde es ein gutes Stück Arbeit werden, ihn heil zurückzubringen.

Als ich fertig war, nickte Udiko und wandte sich an die Farak-Alit: »Würdet Ihr bitte oben warten?«

Als die Soldaten endlich polternd und tropfend entschwunden waren, sah Udiko mich erwartungsvoll an. »Und? Was sagen dir deine Augen?«

»Sieht so aus, als würde die Regentin ihren Sohn nicht besonders lieben«, meinte ich. »Nur sechs Soldaten zu schicken, ist eine Beleidigung. Es kann natürlich sein, dass oben noch zwanzig warten, aber das hätten wir sicher bemerkt.«

Udiko nickte. »Soweit ich gehört habe, verachtet sie ihn. Außerdem hat ein Zweiter Regent kaum eine Funktion. Außer, die Regentin stirbt unerwartet. Dann nimmt er vorübergehend ihren Platz ein, bis eine Nachfolgerin gefunden ist. Was meinst du – wissen die Farak-Alit, wo er steckt?«

Ich dachte nach. »Nein. Ich glaube nicht. Wahrscheinlich haben sie erstmal vergeblich gesucht und sind schließlich auf die Idee gekommen, sich nach einem Sucher zu erkundigen. Inzwischen sind sie alle ziemlich in Panik, weil sie die Verantwortung für den Sohn haben und großen Ärger kriegen, wenn sie ihn nicht in einem Stück zurückbringen.«

»Wo könnte der Kerl deiner Meinung nach sein?«

»Ich wette, der Herr der Quallen hat ihn erwischt.«

»Darauf wette ich nicht. Ich glaube nämlich, dass du Recht hast. Wundert mich, dass er sich die Farak-Alit nicht auch gleich geschnappt hat.« Er sah mich scharf an. »Was ist, traust du dir zu, den Burschen zurückzubringen? Es ist nicht ganz fair von mir, dich allein auf so eine Suche zu schicken. Aber es würde nicht gerade ein gutes Licht auf das Seenland werfen, wenn der Sohn der Regentin hier verschwände. Außerdem kannst du Erfahrung mit gefährlichen Aufträgen gebrauchen.«

Ich schluckte und sagte Ja. Hätte ich es auch getan, wenn ich damals schon gewusst hätte, was dieser Auftrag in Gang setzen, was er für mein Leben und meine Zukunft bedeuten würde? Wahrscheinlich nicht. Ich hätte den Sohn der Regentin beim Herrn der Quallen versauern lassen – und wäre heute ein anderer Mensch. Aber auch Daresh wäre ein anderer Ort, und ganz sicher kein besserer.

* * *

Jini hatte vorgeschlagen, sich mal wieder zu treffen: »Wie wär's mit morgen in den Küchen? Da kenne ich einen Platz, wo man leckere Sachen bekommt.« Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Mi'raela genickt. Aber nun, tagsüber, kamen ihr Bedenken. War es eine Falle? So was kam vor – vor einigen Wintern hatte ein Küchenjunge mal versucht, ihr einen Diebstahl aus den Speisekammern anzuhängen, den er selbst begangen hatte. Noch mal würde sie nicht auf so etwas hereinfallen. Und was würden die Brüder sagen, Cchrnoyo und die anderen, wenn herauskäme, dass sie sich mit einem Dörfling traf, einer Menschenwelpin?

Mi'raela beschloss, doch nicht hinzugehen. Mürrisch erledigte sie ihren Dienst bei Spinnenfinger und zog sich danach wie immer in irgendeine leere Kammer zurück, um zu schlafen. Sie hatte weder Besitz noch einen eigenen Ort, der ganz ihr gehörte. Deswegen suchte sie sich ihren Platz jeden Tag neu. Diesmal gelang es ihr sogar, sich ein Eckchen in der Nähe eines der Warmluftschächte zu sichern, über welche die Burg im Winter beheizt wurde. Dort war es gemütlich, und dort fanden sich früher oder später alle Katzenmenschen der Burg ein und stritten um die besten Schlafnischen.

Mi'raela rollte sich zusammen und schloss die Augen. Doch der Gedanke daran, dass das Mädchen nun umsonst warten würde, dass es vielleicht enttäuscht von ihr wäre, ließ ihr keine Ruhe. Und Jini wirkte eigentlich nicht wie eine, die andere gerne hereinlegte ...

Schließlich sprang Mi'raela auf und überließ ihren schönen warmen Platz einem mageren Iltis mit zerfetztem Ohr. Verdutzt blickte er ihr nach, als sie davonhastete.

Mi'raela fand Jini in einer der riesigen Küchen, die aufgeräumt und gefegt auf den nächsten Tag wartete, die Kupfertöpfe frisch geschrubbt an der Wand aufgereiht, die große geschwärzte Feuerstelle säuberlich von Asche befreit. Der Geruch nach frischgebackenem Brot hing in der Luft.

»Ach, da bist du ja!«, rief das Mädchen mit vollen Backen und stopfte anschließend weiter Braten und Brot in sich hinein. »Hier, nimm dir auch was. Einer der Köche mag mich, er stellt mir manchmal Reste raus und Brot, das nicht richtig aufgegangen ist. Er weiß, dass ich gerne esse. Ist ja auch nicht zu übersehen.« Sie klopfte sich seufzend auf eine gut gepolsterte Hüfte.

Der verlockend duftende Teller wurde Mi'raela entgegengeschoben. Vorsichtig näherte sie sich, streckte die Pfote aus, um sich ein Stück Braten zu nehmen. Doch in diesem Moment hörte sie leise Schritte hinter sich. Es war doch eine Falle! Gleich würden harte Hände sie packen. Wütend ließ Mi'raela den Braten fallen und huschte davon.

Doch als sie hinter einem Stapel Mehlsäcke hervorlugte, stellte sie überrascht fest, dass Jini in einer tiefen Verbeugung halb auf dem Bogen lag, und dass vor ihr die Frau stand, die Spinnenfinger nur »die Alte« nannte, andere »die Regentin« und die Halbmenschen nur »Großfrau«. Sie hatte ihre hochgewachsene, magere Gestalt in einen dunklen, goldbestickten Mantel gehüllt, ihre Füße steckten in diesen Dingern, die Dörflinge Pantoffeln nannten. Das glatte graue Haar hatte sie streng aus dem Gesicht gekämmt und mit einem goldenen Band hinten zusammengebunden. Ihr Gesicht war tief zerfurcht, wohl von Zeit und Sorge, und ihre dunklen Augen waren klein und blickten misstrauisch. »Was machst du hier, Mädchen?«, fragte sie mit ihrer rauen Stimme.

Mi'raela begann, sich Sorgen zu machen. Hoffentlich brachten sie die Menschenwelpin nicht in den Kerker!

»Essen«, stammelte Jini. »Es gibt frischgebackenes Brot, und ...«

»Ich weiß. Aber wer hat dir erlaubt, es zu essen?«

»Das sag ich nicht – ich verrate meine Freunde nicht«, entgegnete Jini und richtete sich aus ihrer Verbeugung auf. Sie klang schon wieder etwas mutiger. »Außerdem ist es sowieso nur das Brot, das nicht richtig aufgegangen ist.«

»So, so.« Die Regentin verschränkte die Arme.

»Und was macht Ihr eigentlich hier, in den Küchen?«

Zunächst wirkte die Regentin verdutzt, doch dann lachte sie keckernd. »Das gleich wie du, Mädchen. Mir frisches Brot holen. Es schmeckt am besten, wenn man es selbst holt und heimlich – ich weiß auch nicht, warum. Aber verrat das niemandem, in Ordnung?«

Ganz langsam entspannte sich Jini. »In Ordnung«, sagte sie und wagte ein zaghaftes Lächeln.

Dann war Großfrau verschwunden; Mi'raela konnte sie auf ihren Pantoffeln davontappen hören. Sie kroch hinter ihren Mehlsäcken hervor, und sie und Jini blickten einander wie betäubt an.

»Eigentlich ist sie ganz nett«, stellte Jini schließlich fest.

»Wenn sie nicht gerade irgendjemanden versklavt«, sagte Mi´raela.

Jini seufzte tief, nickte und biss ein großes Stück von ihrem Brot ab.

* * *

Ich nahm nicht viel mit. Nur mein Messer mit dem Korallengriff, eine durchsichtige Kugel, mit der man Luft transportieren konnte, und ein paar Leuchtstäbe.

Zwei Tage später kam ich zum Schwarzen Fluss. Eine Gänsehaut überzog meine Arme, als ich über den Fluss hinwegblickte. Zehn Baumlängen breit wälzte sich das düstere Wasser, das flach und metallisch roch, durch die Region von Vanamee und der Außengrenze von Daresh. Auf der einen Seite erhoben sich schroffe, dunkelgraue Berge, deren Spitzen im Dunst lagen. Nicht mal ein Grashalm wuchs auf ihren Hängen, und hinter ihnen befand sich die Außengrenze von Daresh. Ein großer Spiegel, der den Bergen ihr eigenes Bild zurückwarf. Ein Spiegel, den niemand durchschreiten konnte. Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich kahler Fels, der von großen, wassergefüllten Löchern durchzogen war – den Tausend Schächten.

Niemand lebte in dieser Gegend. Was nur hatte der Sohn der Regentin hier gesucht? Vielleicht hatte ihn der Fluss neugierig gemacht. Wenn die Sonne schien, bekam er einen prächtigen metallischen Schimmer und sah aus wie flüssiges schwarzes Gold. Hoffentlich war der Kerl nicht auf die Idee gekommen, davon zu trinken. Das Wasser schmeckte angeblich gar nicht schlecht, hatte aber die unangenehme Nebenwirkung, einen langsam zu vergiften.

Nervös hielt ich Ausschau nach Angreifern, als ich mich an Land zog. Wusste der Herr der Quallen schon, dass ich hier war? Selbst Udiko wusste nicht viel über ihn. Nur, dass er sich in diese unwirtliche Gegend zurückgezogen hatte, weil er von der Wasser-Gilde eines Verbrechens wegen ausgestoßen worden war und obendrein noch ein paar Leute der Feuer-Gilde mit ihm quitt werden wollten. Angeblich hatte er noch andere ehemalige Mitglieder der Wasser-Gilde um sich geschart. Immer mal wieder ließ er unvorsichtige Reisende verschwinden. Aber er forderte nie ein Lösegeld, und von den Opfern hörte man nie wieder etwas. Was, zum Brackwasser, tat er mit den Leuten?

Die Tausend Schächte führten in unbekannte, unheimliche Tiefen. Angeblich stellten manche die Eingänge zu Unterwasserhöhlen dar, sogar Luft sollte es dort unten geben. Andere führten wer weiß wohin. Es kam darauf an, den richtigen zu erwischen.

In der Ferne fauchte ein Geysir Vulkanwasser aus dem Erdinneren hoch. Als kurz die Sonne herauskam, funkelte sein Sprühnebel wie tausend Diamanten. Erschrocken beobachtete ich, wie auch aus einem der Schächte in meiner Nähe donnernd eine Wassersäule schoss; der Boden erbebte unter meinen Füßen. Ich warf mich zur Seite und rollte mich unter einen Felsvorsprung, damit mich die tonnenschweren Wasserkaskaden nicht erwischten, wenn sie wieder auf dem Boden aufklatschten. Zum Glück trug ich die Schwimmhaut, sonst hätte ich mich übel aufgeschürft bei dem Sturz.

Hübsche Gegend eigentlich, ging es mir durch den Kopf. Nur schade, dass sie dauernd versucht, einen umzubringen!

Als wieder Ruhe eingekehrt war, näherte ich mich vorsichtig einem der Schächte, der nicht zu spucken schien und verglichen mit den anderen etwas harmloser wirkte. Man sah nicht viel, nur dunkles Wasser. Alle paar Momente sank der Wasserspiegel ein Stück, wogte dann wieder nach oben und quoll über die Ränder der Öffnung. Es war, als würde der Schacht mit Kiemen atmen wie ein lebendes Wesen.

Es gab Dinge, auf die ich noch weniger Lust hatte, als dort hineinzutauchen. Zum Beispiel über glühende Kohlen laufen. Aber es kam nicht in Frage, dass ich mich drückte und umkehrte. Wenn man eine Suche angenommen hat, muss man sie zu Ende führen. Das hatte Udiko mir zahllose Male eingeprägt.

Ich steckte einen Zeh in das Wasser des Schachts. Er wurde nicht sofort abgebissen. Immerhin. Schnell stieß ich mich vom Boden ab, sprang mit den Füßen voran in die Öffnung und stieß die Luft aus meinen Lungen, damit mein Körper sank. Der Schacht erwies sich als nicht besonders groß, herumdrehen konnte ich mich darin nicht. Wenn ich die Arme ausstreckte, konnte ich die von Algen glitschigen Seitenwände berühren. Nach einer Weile schien sich der Schacht auszudehnen, ich erreichte die Wände nicht mehr und fühlte mich völlig orientierungslos. Es war dunkel und wurde immer finsterer, je tiefer ich sank. Da ich keine Ahnung hatte, wie weit es bis zum Ziel war und wie lange ich unter Wasser bleiben musste, verlangsamte ich meinen Herzschlag. Dadurch reagierte mein Körper zwar nicht mehr so schnell, sparte aber auch Kraft und Atemluft.

Das stellte sich als schwerer Fehler heraus. Einen Moment später sah ich ein Licht aufblitzen, dann packte mich etwas und wirbelte mich herum. Ich wurde gegen einen Felsvorsprung geschleudert. Au, verdammt! Dann zerrte mich etwas weiter hinab, in die undurchdringliche Dunkelheit der Tiefe. Mein Herz raste wie verrückt, und ich versuchte verzweifelt, mich freizukämpfen. Aber was immer es war, das mich in den Fängen hatte, es hielt mich eisern fest.

Bei meinen Versuchen, freizukommen, stieß ich mit dem Fuß gegen etwas Weiches, Schleimiges und spürte, wie meine Zehen taub wurden und meine Haut brannte. Nesselfäden! Ich hatte es mit einer Qualle zu tun! Wie viel Gift hatte ich abgekriegt? Und noch immer ging es in die Tiefe.

Das Gift wirkte schnell. Ich versuchte an mein Messer zu kommen und erreichte es nicht. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr, fühlte sich schwach und kraftlos. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Mein Brustkorb schmerzte, ich brauchte dringend Luft, aber eigentlich war das egal, alles war egal, ich schwebte, nichts war mehr wichtig ...

Im nächsten Moment – oder war es Stunden später? – lag ich auf einem Steinboden und versuchte, schwach zu atmen, kämpfte darum, Luft in meine Lungen zu kriegen. Es war noch immer stockdunkel und roch nach Algen und feuchtem Stein. Die winzigen Pfoten meines Salamanders kitzelten an meinem Ohr. Vielleicht hatte er versucht, mich aufzuwecken.

»Na, das war doch lustig, oder?«, sagte eine hohe, kieksige Stimme. »Sechs, sieben, acht ...«

Es klang weder nach einer Frau noch nach einem Mann. Irgendwo dazwischen. Wer, beim Brackwasser, war das? Irgendwie schaffte ich es, mich auf einen Ellenbogen hochzustemmen. Wo mich die Nesselfäden verätzt hatten, fühlte es sich an, als würde sich die Haut vom Knochen schälen. »Lustig ist nicht ganz das richtige Wort, finde ich«, keuchte ich und krümmte mich vor Schmerzen.

Ein ärgerliches Grunzen. »Sieben ... äh ... äh ... Mist, wieder verzählt ... Du hast mich abgelenkt! Würde es dir was ausmachen, nicht so viel Lärm zu machen, so viel?«

»Tut mir Leid«, stöhnte ich und tastete mühsam nach der Ausrüstung, die an meiner Schwimmhaut befestigt war. Wie durch ein Wunder war alles noch da. Unauffällig nahm ich einen der Leuchtstäbe und murmelte eine Formel, sodass der schwache, grünliche Schein die Umgebung erhellte.

Vor mir hockte halb im Wasser, halb auf dem Land der größte Krakenmensch, den ich je gesehen hatte – er füllte die kleine Höhle, in der wir uns befanden, beinahe ganz aus. Er hatte ein ledriges, faltiges Gesicht, große, feuchte Augen mit vorwurfsvollem Blick und eine Menge Fangarme, die ständig durcheinander ringelten. Seine Haut hatte die Farbe des schwarzgrün gefleckten Bodens angenommen, anscheinend konnte er sich wie viele Kraken blitzschnell seiner Umgebung anpassen.

»Das war reichlich dumm von dir, durch die Schächte zu tauchen, dumm war es!«, sagte der Krake. Er sprach hervorragend Daresi, anscheinend hatte er viel mit Menschen zu tun. »Ich musste diesen Winter schon vier ... sechs ... nein, mehr ... na ja, jedenfalls eine ganze Menge Leute retten. So langsam reicht es mir! Ich komme vor lauter Arbeit gar nicht mehr zu dem, was mich eigentlich interessiert!«

»Wieso retten?«, protestierte ich schwach. »Ich tauche gerade friedlich vor mich hin, da kommst du, und auf einmal geht alles drunter und drüber ...«

»Du bist gerade friedlich vor dich hin mitten in den Wächterschwarm hineingetaucht, mein Lieber«, sagte der Krakenmensch eingeschnappt. »Hunderte von Quallen so groß wie mein Kopf, so groß, und alle bei weitem nicht so nett wie ich!«

»Oh.« Mir wurde klar, wer mir wirklich den Fuß verätzt hatte. »Vielen Dank auch.«

Der Krake klang noch immer beleidigt. »Heb dir das für den Chef auf, den Chef. Ist alles sein Befehl. Gut, es macht auch oft Spaß, aber im Moment wird es mir wirklich zu viel. Vier, fünf, sechs ...«

Der Chef. O je. »Du dienst dem Herrn der Quallen, richtig?«

»Ja, genau. Geht es dir jetzt endlich besser? Ich muss dich bald hinbringen.«

Tatsächlich, allmählich ließ der Schmerz nach. Aber dass ich direkt vor den Chef geschleift wurde, musste ich unbedingt verhindern! »Sag mal, was zählst du eigentlich die ganze Zeit?«, lenkte ich ab.

»Ich versuche, mehr über mich herauszufinden«, antwortete der Krake würdevoll. »Man kommt im Leben nicht weit, wenn man nicht weiß, wer man wirklich ist.«

Einen Moment lang war ich froh darüber, dass mein Fuß noch so scheußlich brannte. Sonst hätte ich mir das Lachen nicht verkneifen können. »Du zählst deine Fangarme?«

»Allerdings. Und diesmal hätte ich es bestimmt geschafft, bestimmt, wenn du nicht dazwischengekommen wärst!« Einer der Fangarme ringelte sich auf mich zu, um mich wieder zu packen und unter Wasser zu zerren.

»Warte!«, rief ich. »Wie wäre es, wenn ich dir helfe?«

»Du kannst zählen, kannst du das?« Die Haut des Krakenmenschen verfärbte sich vor Aufregung zu einem zarten Korallenrot.

»Ein bisschen«, sagte ich bescheiden. »Für den Hausgebrauch reicht's.«

Es wurde nicht so einfach, wie ich gedacht hatte. Der Krake konnte einfach nicht stillhalten. Außerdem musste ich mich auf die Füße quälen und um ihn herumgehen, um sicher zu sein, dass ich keinen Arm übersah. Doch schließlich hatte ich es geschafft. »Gratuliere«, sagte ich. »Es sind fünfzehn!«

»Fünfzehn! Das sind zwei mehr, als Ri'badur vom Celican-Riff hat!« Es ist kein sonderlich hübscher Anblick, wenn ein Krake übers ganze Gesicht strahlt, aber ich war trotzdem gerührt von seiner Freude. Weil meine Beine sich noch ziemlich wackelig anfühlten, setzte ich mich erst mal. Wir stellten uns gegenseitig vor, und ich erfuhr, dass er Ri'naldus hieß und achtzig Winter alt, also gerade ausgewachsen war.

»Gibt es vielleicht die winzig kleine Möglichkeit, dass du mich einfach freilässt?«, fragte ich vorsichtig. »Irgendwann würde ich deinen Herrn gerne kennen lernen, aber nicht gerade jetzt.«

»Na gut«, sagte Ri'naldus großmütig. »Ich verstehe das. Du bist noch nicht bereit für diese wichtige Erfahrung. Aber du verpasst was!«

Mir fiel wieder ein, warum ich eigentlich hier war. »Sag mal, hast du zufällig vor paar Tagen einen anderen jungen Mann gerettet? Den suche ich nämlich.«

Wie sich herausstellte, hatte Ri'naldus tatsächlich vor ein paar Tagen jemanden, auf den die Beschreibung des Zweiten Regenten passte, aus den Schächten gefischt. Ich merkte, wie mein Puls sich beschleunigte. »Hat er überlebt? Wo hast du ihn hingebracht?«

»Rat mal«, erwiderte Ri'naldus. »Zu meinem Chef natürlich. Ich muss sagen, für jemanden, der zählen kann, bist du ganz schön begriffsstutzig!«

Ich bat Ri'naldus, mich zum Bruder der Regentin zu bringen und kurz mit ihm reden zu lassen, bevor er mich zu seinem Herrn verfrachtete. Aber obwohl ich seine Dankbarkeit aufs Äußerste strapazierte, schaffte ich es nicht ganz, ihn zu überreden. »Da gibt es noch ein kleines Problem, ein kleines«, meinte er zögernd. »Mein Chef will nicht, dass jemand von draußen die Höhlen und Tunnel sieht.«

»Dann verbind mir doch die Augen«, schlug ich vor. Gut, dass ich nicht verraten hatte, dass ich zumindest teilweise als Sucher ausgebildet war!

Ri'naldus hielt das für eine gute Idee und schlang mir einen seiner Fangarme um den Kopf. Es war ein widerliches Gefühl, und mein Salamander floh von meiner Schulter bis hinunter zu meinem Handgelenk. Dann schwamm der Krake in rasender Geschwindigkeit los, zerrte mich durch verschlungene Unterwasserpfade, Tunnel und Höhlen. Nervös versuchte ich, mir jede Biegung, jede Veränderung des Wassers und Drucks einzuprägen, wie ich es gelernt hatte. Hoffentlich ließ mein Gedächtnis mich bei der Rückkehr nicht im Stich, sonst kam ich hier ohne Ri'naldus Hilfe nie wieder raus! Und sich auf einen Halbmenschen zu verlassen, der mit jemand anders verbündet war, schien mir ein gewagtes Spiel.

Schließlich durchbrachen wir die Wasseroberfläche. Ri'naldus ringelte endlich den Arm von meinem Kopf – wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis das unschöne Muster von Saugnapfabdrücken auf meinem Gesicht verblasste.

Wir befanden uns in einer kleinen Höhle, die von oben bis unten mit beige-grauen, matt glänzenden Tropfsteinen durchwuchert war und nach feuchtem Stein und Fledermauskot roch. Zwischen zwei Tropfsteinen hing eine schäbige Hängematte – und darauf lag ein schlaksiger junger Mann. Misstrauisch richtete er sich auf, um zu sehen, wer da eingetroffen war. Er hatte rotblonde Haare, ein blasses, sommersprossiges Gesicht und abstehende Ohren.

Gequirlte Schnepfengalle, ich kannte dieses Gesicht!

Nach ein paar Momenten fiel mir auch ein, woher. Es war der junge Mann, den ich im letzten Winter vor den Skas gewarnt hatte und der mich durch seine Deutung auf die Idee gebracht hatte, Sucher zu werden. Janor hatte er sich genannt. »Wie – du bist der Sohn der Regentin?«, entfuhr es mir. »Ich denke, du bist Vorhersager?«

Janor wirkte genauso verblüfft. Er hatte mich offensichtlich auch erkannt. »Äh – bist du etwa der große Held, der mich angeblich retten soll? Oder ist dein Meister auch hier?«

»Was für ein Held?« Ich begriff gar nichts mehr.

Er kletterte umständlich aus der geknüpften Hängematte und reichte mir mit vorwurfsvoller Geste eine winzige Schriftrolle. Anscheinend war ein Salamander mit einer beruhigenden Nachricht zu ihm durchgekommen. Ich las sie schnell durch.

Hochverehrter Zweiter Regent,

wir haben einen der besten Sucher Dareshs mit Eurem Fall betraut. Er wird euch in Kürze befreien. Es ist also überflüssig, dass Ihr Euch Sorgen macht.

Hrkar, Kommandeur Farak-Alit

Brackwasser, war das peinlich. Die hatten wohl noch gedacht, sie würden Udiko überreden können. »Ich fürchte, wir müssen ohne Helden auskommen, aber ich werde trotzdem versuchen, dich, äh ...« schnellstmöglich freizukriegen, hatte ich sagen wollen, aber das war keine gute Idee, solange Ri'naldus zuhörte. Also fragte ich nur: »Bist du in Ordnung? Kannst du schwimmen?«

»Ich glaube schon«, antwortete Janor. Skeptisch blickte ich ihn an. Er war sehr blass und wirkte schwach, es war deutlich zu sehen, dass es ihm nicht gut ging. Trotzdem war da ein Funke Hoffnung in seinen Augen. »Vielleicht war es mein Schicksal, dich damals zu treffen, damit du Sucher werden konntest und mich jetzt retten kannst«, meinte er. »Man weiß ja nie.«

Das fand ich ein bisschen arg ichbezogen, aber ich sagte nichts dazu. Wir würden noch genug Zeit haben, uns zu unterhalten, wenn ich ihn aus den Schächten raus hatte.

Falls ich es überhaupt schaffen würde. Als Janor etwas von »retten« sagte, hörte ich, wie Ri'naldus sich hinter mir regte.

»Wisst ihr was, ich glaube, ich sage jetzt lieber mal meinem Chef Bescheid, meinem Chef«, verkündete er streng. »Ich glaube, ihr wollt fliehen, das findet er bestimmt nicht so gut.«

Erschrocken fuhr ich herum, wollte ihn aufhalten, ihn überreden, irgendwas, aber er war bereits verschwunden.

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