Читать книгу Der Sucher - Катя Брандис - Страница 9
Auf der Kippe
ОглавлениеUnter der Erde gab es keine Nacht und keinen Tag. Aber in der Felsenburg gab es Zeiten, in denen es ruhiger war, weil die meisten Dörflinge schliefen, und diese Zeiten nutzten die Halbmenschen, um sich davonzuschleichen von ihren aufgezwungenen Arbeiten. Auch Mi'raela ging hin und wieder zu den Treffen, meist nachts, wenn Spinnenfinger hinter seiner Tür schnarchte. Über wenig benutzte Gänge und geheime Tunnel schlich sie sich zu den Lagerräumen tief, tief unten, in denen sich ihre Leidensgenossen versammelten.
Hier waren sie vor Entdeckung so sicher, wie es in der Felsenburg überhaupt möglich war – nur sehr selten kam jemand hierher, der nicht zur Bruderschaft aller Halbmenschen gehörte. Und wenn doch einmal ein Dörfling die Treppen hinab polterte, um Vorräte zu holen, dann fand er nichts außer leeren Räumen und einem leichten Raubtiergeruch, der noch in der Luft hing. Denn Katzenmenschen hatten feine Ohren, und Iltismenschen noch feinere, und beide verstanden etwas davon, sich zu verstecken. Auch belauschen konnte ein Mensch die heimlichen Versammlungen nicht. Dabei wurde kein Wort Daresi gesprochen, und die Sprachen der Halbmenschen klangen für Fremde wie scheußliches Kauderwelsch.
In dieser Nacht hatten sich ein halbes Dutzend Katzen eingefunden, zehn Iltisse, ein Natternmensch, dessen Aufgabe darin bestand, die Wasserspeicher unter der Burg frei von Parasiten zu halten, und drei Krötenmenschen, die ebenfalls das Reservoir pflegten. Wie üblich saßen die Krötenmenschen verschüchtert beieinander, denn die Iltismenschen machten sich nicht selten einen Spaß daraus, üble Witze auf ihre Kosten zu erzählen und sich darüber auszutauschen, wie Kröte schmeckte. Mi'raela wunderte sich, dass die Krötenmenschen überhaupt noch kamen. Sie schienen mehr Mumm zu haben, als die meisten ihnen zutrauten.
»... halb totgeschlagen hat ihn ein Aufseher, und nur weil mein Bruder ihn angeknurrt hat«, berichtete ein Iltismensch gerade die neusten Neuigkeiten aus den Küchen, Kellern und Dienstbotenräumen der Burg. »Ach, ich könnte sie in Stücke reißen, in Stücke! Wenn nur die Quelle nicht wäre.«
Ja, die Quelle. Der geheimnisvolle Stein der Regentin, der bewirkte, dass kein Halbmensch ihr und ihren Schergen den Gehorsam verweigern konnte.
»Irgendwann wird wieder jemand kommen, der die Quelle berührt, und dann sind wir frei«, meinte der Krötenmensch sehnsüchtig.
Niemand antwortete ihm. Es war schon sehr, sehr lange her, dass ein Mensch die Quelle berührt hatte. Mi'raela gab sich wenig Illusionen darüber hin, dass es während ihrer Lebenszeit noch einmal einen Versuch geben würde, geschweige denn einen erfolgreichen. Sie entschied sich, das Thema zu wechseln.
»Eine Menschenwelpin treibt sich bei den Teichen herum«, sagte sie. »Nachts auch noch, nachts. Sie macht viel Lärm.«
»Ich habe sie bemerkt«, meinte ein Iltis, und ein paar der anderen nickten. »Sehr jung noch und neu in der Burg.«
»Lästig ist das – sie bringt alles durcheinander, alles. Ich kann dort keine Wasserkäfer jagen, ehe sie wieder weg ist«, beschwerte sich Zz'eldan, der Natternmensch. »Hast du mit ihr gesprochen, Mi'raela?«
»Ja. Sie wirkt harmlos.«
»Wer weiß. Vielleicht spioniert sie für die Dörflinge, warum soll sie sonst um diese Zeit in der Burg unterwegs sein?«, meinte ein alter Iltismensch namens Cchrnoyo. »Fern halten solltest du dich von ihr, fern, sonst erfährt sie zu viel über uns.«
Das gefiel Mi'raela nicht. Gut, Cchrnoyo war alt und weise, er hatte den Ehrentitel eines Caristans bei den Iltismenschen und genoss hohes Ansehen in der Bruderschaft. Aber sie selbst nicht minder! Natürlich hatte er Recht – aber was fiel ihm ein, ihr vor allen anderen Ratschläge zu erteilen? Demonstrativ fuhr sie ihre Krallen aus und schärfte sie an einer Holzkiste. »Mal sehen«, sagte sie beiläufig. »Was gibt es schon groß zu verraten?«
Cchrnoyo verzog das Gesicht. »Pass auf, sage ich dir, pass auf! Wenn du uns in Schwierigkeiten bringst, müssen wir alle es büßen, alle.«
»Ja, ja, schon gut.« Mi'raela war froh, als zwei junge Iltismenschen mit Neuigkeiten hereinplatzen. Sie erzählten, dass demnächst ein Fest für Gesandte aus der Feuer-Gilde stattfinden würde. Diese Aussichten heiterten alle auf. Die Feuer-Leute waren beliebt bei den Iltismenschen, mit denen sie verbündet waren. Außerdem wurde zu ihren Ehren viel Fleisch serviert, und davon blieb immer etwas übrig. Die gewürzten Blätterspeisen und Nusspasteten dagegen, die es für Erd-Leute gab, schmeckten höchstens Hirschmenschen – und von denen gab es in der Burg keine. Sie waren in den engen Gängen der Burg nutzlos. Ihr Glück!
* * *
Als Nächstes wollte Udiko, dass ich lernte, mich ohne Worte zu verständigen, und die Signale zu lesen, die ein Mensch unbewusst ständig durch seine Haltung und seine Bewegungen aussandte. »Wenn du das perfekt beherrschst, wird es anderen so vorkommen, als könntest du ihre Gedanken lesen«, sagte er. »Außerdem ist es nützlich, wenn du in Gegenden bist, deren Sprache du nicht verstehst.«
Ich war begeistert. Bis ich erfuhr, wie ich das üben sollte. Zwei Wochen lang würden wir schweigen. Beide sollten wir ohne Worte auskommen, uns nur mit Gesten mitteilen. Ich seufzte. »Was ist mit Aufschreiben?«
»Nur im Notfall.«
Was die Sache schwieriger machte, war, dass Udiko inzwischen wieder Aufträge annahm. Die natürlich ich erledigte. Denn mit Dingen wie zahmen Regenfischen, die entschwommen waren, und Händlern, die an einen bestimmten Ort geführt werden wollten, gab er sich natürlich nicht ab. Das alles wäre eine lustige Arbeit gewesen, wenn ich hätte reden dürfen. Ich konnte nicht mal die traditionellen Worte Hiermit nehme ich die Suche an sprechen, wenn ich einen Auftrag übernahm.
»Ist der stumm, oder was?«, meckerte ein Mann der Luft-Gilde, der unbedingt zehn Dutzend Perlenkorallen irgendwoher kriegen wollte, und zwar am besten noch heute.
»So was in der Art«, antwortete Udiko grinsend, und mit wütenden Gesten machte ich dem Händler klar, dass ich keineswegs stumm und das alles die Schuld eines völlig verrückten Meisters war, der im Laufe seines Lebens wahrscheinlich schon ein Dutzend Lehrlinge in den Wahnsinn getrieben hatte. Udiko grinste noch breiter.
Mit Korallen kannte ich mich eigentlich gut aus, aber diesmal hatte ich Pech und fand auch nach zwei Tagen Suche nur eine kleine, unreife Kolonie – was kein Wunder war, die Saison begann gerade erst. Wütend zog der Händler ab, und ich warf mich mal wieder auf meine Seegrasmatte, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte ins grüne Wasser über der Kuppel.
Was soll das – schmollst du? fragte Udiko mich mit ausgebreiteten Handflächen und zog eine Grimasse, um meinen Gesichtsausdruck übertrieben nachzuahmen. Du hast Mist gebaut bei diesem Auftrag, zur Strafe kümmerst du dich um die Einkäufe.
Aber die mache ich doch sowieso, signalisierte ich mit hochgezogenen Augenbrauen zurück und stand auf.
Dann mach die für nächste Woche gleich auch noch, bedeutete mir Udiko gereizt und fügte noch eine Geste hinzu, die ich nicht verstand, was wahrscheinlich auch besser war.
Diesmal dauerte es auf dem Markt eine ganze Weile, bis ich an den Ständen die Preise ausgehandelt hatte – wir gestikulierten wie wild. Ich war froh, als ich endlich alles erledigt hatte, und wankte schwer bepackt in Richtung See zurück. Natürlich hatte ich kein Kanu dabei, das war unter meiner Würde und nur etwas für Fremde aus anderen Provinzen. Normalerweise verpackte ich den Kram wasserdicht und schleppte ihn an einer Leine hinter mir her.
Zum Glück blickte ich mich noch einmal um, bevor ich ins Wasser kletterte. Denn dabei sah ich, dass mich jemand beobachtete. Ein Mädchen. In ihrem Blick sah ich, dass sie mich kannte – und dann erkannte ich sie auch. Sie sah genauso aus, wie ich sie mir im Geist vorgestellt hatte, als ich ihr Gesicht abgetastet hatte. Nur, dass sie blond war, nicht rothaarig, wie ich sie mir aus irgendeinem Grund ausgemalt hatte.
Wir lächelten uns an, und ein paar Atemzüge später saßen wir zusammen auf der Kante der Plattform. Wortlos versuchte ich, ihr klarzumachen, dass ich nicht sprechen durfte. Sie guckte erst ungläubig und krümmte sich dann vor Lachen. Ich kam mir dämlicher vor denn je. Bei unserer ersten Begegnung war ich blind gewesen, diesmal war ich stumm. Wie sollte das unter diesen Bedingungen der Beginn einer Freundschaft werden?
Das war ganz klar ein Notfall. Ich borgte mir ein Colivar-Blatt von einem Händler, das ich als Schreibtafel missbrauchen konnte, und schrieb: Ich heiße Tjeri. Wie heißt du?
Sie sagte nichts. Mit einem Lächeln beugte sie sich über das Blatt und schrieb zurück: Joelle heiße ich.
Ich musste lachen. Am liebsten hätte ich einfach gefragt: »Wie spricht man das aus?«; aber so etwas mit Gesten zu erfragen, kann einen den letzten Nerv kosten. Also wieder das Blatt: Wie spricht man das aus?
Dscho-ell, schrieb sie zurück.
Diesmal mussten wir beide lachen. Bei allen sieben Göttern der Tiefe, in diesem Moment war ich nahe daran, einfach mit ihr zu reden und Udikos eigenartige Übung vorübergehend sausen zu lassen. Aber dann dachte ich daran, wie schwierig es gewesen war, diese Lehre zu bekommen, und meine Lippen blieben versiegelt. Irgendwie wusste ich, dass Udiko es merken würde, sollte ich sprechen. Auch wenn es nur ein einziges Wort wäre.
Stattdessen begann ich, sie zu beobachten, so wie Udiko es mir gerade beibrachte. Joelle warf mir hin und wieder einen schrägen Blick zu, in dem Heiterkeit aufblitzte, hielt aber die Schultern leicht hochgezogen – ein Zeichen von Anspannung. Sie trug eine dunkelblaue Schwimmhaut, die einmal sehr teuer gewesen war, aber inzwischen arg abgenutzt wirkte. Über den rechten Ärmel zogen sich die typischen parallelen Risse, die ein Skagarok-Angriff hinterlässt.
Du lebst in der Nähe eines Krötenmenschen-Nests, stimmt's? fragte ich mit Gesten, und sie nickte erstaunt. »Ja«, sagte sie. »Aber man sieht die Kröten selten, sie sind sehr scheu.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile auf diese Art, dann musste ich zurück. Aber wir hatten schon ausgemacht, dass wir uns wieder sehen würden – übermorgen Nachmittag zum Taubeerenpflücken auf einer Insel in ihrer Gegend.
Doch nur einen Tag später – als ich gerade wieder sprechen durfte – geschah etwas, was mein Leben gründlich aus den Fugen brachte. Und das ganz nebenbei dafür sorgte, dass die Verabredung mit Joelle platzte.
Wir waren gerade von einem Ausflug zurückgekommen, bei dem Udiko mit mir geübt hatte, systematisch und präzise zu arbeiten. Erschöpft, aber fröhlich schälte ich mir die Schwimmhaut vom Leib, zog mir meine Trockensachen an und begann, das Abendessen vorzubereiten. Udiko versuchte, mir das Kochen beizubringen – bislang vergeblich. Meinen ersten Versuch hatte er mit angewidertem Gesichtsausdruck und einem »Das kann man nicht essen! Was, bei den sieben Göttern der Tiefe, hast du da alles dran getan?« beiseite geschoben. Seither bestand meine Aufgabe darin, ihm Gemüse zu hacken und alle weiteren niederen Hilfsdienste zu übernehmen.
Als jemand am Eingang den Begrüßungsruf ausstieß, spitzte ich wie gewöhnlich die Ohren und folgte Udiko, um ihm bei der Begrüßung über die Schulter zu schauen.
Ich warf einen Blick auf unsere Besucherin und erstarrte. Mein Herz begann wie wild zu pochen. Kurz überlegte ich, ob ich mich schnell wieder in die Küche zurückziehen sollte, bevor sie mich sah, aber dann blieb ich einfach stehen.
Im Eingang von Udikos Kuppel stand Lourenca.
Sie blickte an Udiko vorbei und sah mich mit ihren großen Augen an. Einer ihrer Vorfahren hatte der Erd-Gilde angehört – diese Augen, mit denen sie gut im Dunkeln sah, waren ihr Erbe. Es waren Augen, in denen ich manchmal fast versunken war. Aber noch mehr faszinierten mich ihre langen, schwarzen Haare, die ihr gerade tropfnass über den Rücken hingen. Ich liebte es, wie sich diese Haare im Wasser anfühlten. Sie schwebten um ihren Kopf herum wie eine weiche Wolke.
»Was willst du?«, knurrte Udiko. Er war natürlich völlig unbeeindruckt von ihr.
»Ich suche jemanden«, antwortete sie keck.
»Wie sieht er aus? Wann und wo hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Er hat kurze dunkelbraune Haare, lustige braune Augen und ein verschmitztes Lächeln. Groß ist er nicht, aber das macht nichts – er ist der beste Schwimmer der Gegend und unglaublich nett. Ich habe ihn vor ein paar Monaten zuletzt gesehen, bei Colaris.«
Udiko war nicht dumm. Er begriff sofort, wer gemeint war. Und im Gegensatz zu mir hatte es ihm nicht die Sprache verschlagen. »Du kommst um ein paar Monate zu spät«, sagte er schroff.
»Falls Ihr ihn seht, sagt ihm, er kann mich heute Abend zum Aufgang des ersten Mondes am Ostufer treffen.«
Sie drehte sich um und glitt mit einer eleganten Bewegung in den See zurück. Udiko ließ den Vorhang fallen, drehte sich herum und stapfte in die Küche.
Ich blieb einen Moment allein im Vorraum zurück. In mir mischten sich wilde Freude und Verzweiflung. Lourenca war hergekommen! Wegen mir, so wie es aussah! Hatte sie sich von Jarco losgesagt? Vielleicht liebte sie mich noch! Aber warum, warum, warum war sie auf die wurmstichige Idee gekommen, sich mit so einem Spruch an Udiko zu wenden? Es war witzig, es war romantisch, und es würde uns das Genick brechen. Solange du mein Lehrling bist, flirtest du nicht mit Frauen, die mit einem Anliegen zu mir kommen. Das hatte ich dem Alten versprochen. Streng genommen durfte ich nicht mal mit ihr sprechen. Gequirlte Schnepfengalle!
Wir redeten nicht viel während des Essens. Udikos Miene war finster. Ihm entging natürlich nicht, wie verwirrt und aufgewühlt ich war. Ich schaffe es nicht, dachte ich. Ich kann das Versprechen nicht halten. Ich muss wissen, warum sie hier ist, was sie von mir will. Wenn ich nicht mit ihr reden kann, drehe ich durch.
Nach dem Essen legten wir die Teller in die Hausschale, in der Putzerfischchen sich über die Reste hermachten und das Geschirr dabei förmlich polierten. Ich sah ihnen ein Weilchen zu, dann gab ich mir einen Ruck und sagte: »Ich schwimme noch mal los.« Udiko knurrte etwas Unverständliches.
Die Xanthu-Seen waren so warm, dass man für sie im Sommer eigentlich keine Schwimmhaut brauchte. Ich zog nur meine schwarzen Langhosen an, die von der Hüfte bis zu den Schienbeinen reichten. Noch vor dem Aufgang des ersten Mondes war ich am Ostufer und setzte mich ins Flachwasser. Ich zählte meine Atemzüge, um mich zu beruhigen, und beobachtete, wie der Mond über den Horizont stieg. Keine Lourenca weit und breit. Aber schließlich kam sie doch noch. Ich hörte sie auftauchen und fühlte mich plötzlich so linkisch und ungeschickt wie vor zwei Wintern, als sie mit ihren Eltern in die Gegend gezogen war und die meisten Jungs von Colaris sich in sie verliebt hatten.
Sie setzte sich neben mich, sah mich neugierig von der Seite an. »Das ist ja ein lustiger Kerl, dein Meister. Er sah aus, als wollte er mich jeden Moment einer Horde Kampfkrabben zum Fraß vorwerfen. Es stimmt also, was man über ihn sagt?«
»Er ist in Ordnung – ich kann ihn gut leiden, und er bringt mir eine Menge bei«, wich ich aus.
»Das war eine ganz schöne Sensation in Colaris, dass er dich als Lehrling genommen hat.« Lourenca grub die Hand ins Ufer, ließ die Steine durch ihre Finger rinnen. »Als meine Eltern etwas in der Nähe von Xanthu zu tun hatten, habe ich sie so lange bequatscht, bis ich mit durfte.«
Ich dachte nicht darüber nach, ob es klug war, meine Gefühle offen zu zeigen. Das Einzige, was ich jetzt schaffte, war, ehrlich zu sein. »Es war ein ganz schöner Schock, dich hier zu sehen.«
Sie ging nicht darauf ein. »Was bringt er dir so alles bei?«
Ich erzählte ihr von den seltsamen Übungen, von dem, was er mich lehrte, und je länger ich redete, desto weniger konnte ich meine Begeisterung verbergen. Mit einem halben Lächeln beobachtete mich Lourenca, aber nach einer Weile merkte ich, dass sie nicht mehr zuhörte. »Ja, Livia – meine beste Freundin, die kennst du noch, oder? –, ihr gefällt es auch sehr gut in ihrer Lehre«, meinte sie. »Sie ist bei einer Meisterin und muss da richtig schwer arbeiten, und stell dir vor, sie bekommt nur einen Tag Ausgang in der Woche. Wahrscheinlich protestiert sie jetzt bei der Gilde. Aber sonst macht sie das alles richtig gern, sie lernt, Luftkuppeln zu bauen so wie ich.«
»Da hat sie ja Glück«, sagte ich und schaute über den See hinaus, der so still dalag wie ein Spiegel. Weil die Luft nachts kühler wurde, hing ein leichter Schleier über der Oberfläche. Über uns glänzten die Sterne. Ich hatte eigentlich nicht viel Lust, über Udiko oder Livia zu sprechen. Ich wollte über sie reden. Sie und mich. Ich wollte sie berühren, sie küssen, genau dort wieder anfangen, wo wir vor der Ära Jarco aufgehört hatten ...
»Ich habe oft an dich gedacht, Tjeri«, sagte Lourenca plötzlich.
Das Wasser fühlte sich auf einmal noch wärmer an. Mir war schwindelig. Ich blickte sie an. »Was ist mit Jarco?«
»Ach, der. Wir sind nicht mehr zusammen. Das war nicht so toll, weißt du. Er hält sich für den größten Fisch im Teich, aber eigentlich ist er ganz schön langweilig.«
Mein Herz schlug noch schneller. Aber gleichzeitig wunderte ich mich. Meinten wir den gleichen Jungen? Wir waren viele Winter lang wie Brüder gewesen, ich kannte Jarco so gut wie mich selbst. Er war ein mieser Krabbenhintern, und ich würde ihm nie verzeihen, dass er mir mein Mädchen ausgespannt hatte – aber langweilig?
Doch eigentlich interessierte mich das gar nicht. »Wie geht es dir jetzt?«, fragte ich sie. »Was ist in deinem Leben sonst noch so passiert?«
Ich wusste, dass ich mein Versprechen brach, aber ich konnte nicht anders. Noch während sie erzählte, nahm ich ihr Gesicht und küsste sie. An diesen Kuss werde ich mich den Rest meines Lebens erinnern. Meine Sinne waren durch Udikos Ausbildung so geschärft, dass ich jede Pore ihrer Haut fühlte, ihren Herzschlag, ihren Duft. Ich weiß heute noch, wie ihr Mund schmeckte, wie warm ihre Haut unter meinen Händen war. Und jede ihrer Bewegungen sprach zu mir und sagte mir, was ich wissen wollte. Ja, da war noch etwas zwischen uns!
»Du hast dich verändert«, stellte sie schließlich erstaunt fest, und in ihren Augen spiegelten sich die Sterne über uns.
»Ja«, sagte ich und küsste sie nochmal. Wir lagen im warmen Flachwasser und hielten uns in den Armen. Die Sehnsucht danach, sie ganz und gar zurückzubekommen, brachte mich beinahe um.
»Ich reise mit meinen Eltern weiter in den Süden«, flüsterte Lourenca. »Komm doch mit ... Wir könnten ein paar Tage zusammen verbringen ... mindestens ...«
Die Chance, dass Udiko mir ein paar Tage frei geben würde, war in etwa so groß wie die eines Wasserflohs, in einem Fischschwarm zu überleben. »Das geht nicht«, sagte ich. »Er wird es nicht erlauben. Ich kriege so schon Ärger, weil ich mich mit dir getroffen habe ...«
Sie schwieg, und ich sah die Enttäuschung in ihren Augen. »Vielleicht war es ein Fehler, herzukommen«, meinte sie schließlich leise.
»Nein, war es nicht«, widersprach ich und küsste sie noch einmal.
Doch diesmal erwiderte sie den Kuss nicht. »Würdest du wieder in Colaris leben, könnten wir uns öfter sehen. Vielleicht jeden Tag.«
Ich atmete tief durch. Ja, es wäre wirklich wunderbar, sie wieder jeden Tag zu sehen. Wäre es wirklich so schlimm, nach Colaris zurückzukehren? Ich hatte viele Freunde dort, und es bestand keine Gefahr, meinem Vater zu begegnen – er lebte mittlerweile im Norden von Vanamee. Nur: Bei Udiko könnte ich dann natürlich nicht bleiben, ich müsste meine Lehre bei einem anderen Sucher fortsetzen. Der Gedanke gefiel mir nicht im Geringsten. »Ich überleg's mir«, sagte ich zögernd. »Wann reist ihr weiter?«
»Morgen Früh, wenn die Sonne eine Handhoch über dem Horizont steht.« Sie schilderte mir, wo ich sie finden könnte, dann verabschiedeten wir uns zärtlich, und ich machte mich auf den Rückweg zu Udikos Luftkuppel. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht aufpasste und mitten durch einen Schwarm von Kobrafischen schwamm. Das hätte übel ausgehen können, doch ich hatte Glück – keiner von ihnen stach mich. Verdutzt über meine Dreistigkeit glotzten sie mich an. Ich machte mich davon, so schnell ich konnte.
Lange quälte ich mich mit der Frage, was ich tun sollte. Doch schließlich traf ich eine Entscheidung. Ich würde zurückkehren, um meine Sachen zu holen – und dann würde ich mit Lourenca gehen. Wohin auch immer sie wollte.
In der Luftkuppel unter dem See war es sehr still. Ich nahm mir kaum die Zeit, meine Schwimmhaut trocknen zu lassen, sondern tappte direkt zu meinem Zimmer. Der Buntalgenteppich atmete gerade, er fühlte sich kühl unter meinen bloßen Füßen an. Schnell packte ich meine Besitztümer in meine Tasche. Das Messer mit dem weißen Griff, den ich mir aus einer Feenkoralle geschnitzt hatte, eine gravierte Essschale, die mir meine Mutter gemacht hatte, meine Winterschwimmhaut und die Trockensachen – eine lockere und eine förmliche Tracht.
Die silberne Statue des Tass beobachtete mich dabei. Udiko hatte mir erlaubt, sie in mein Zimmer zu stellen. Ich ließ meine Fingerspitzen darüber gleiten, und der Gedanke, dass es das letzte Mal sein würde, tat weh ...
»Du wirst also gehen«, sagte eine Stimme.
Der Große Udiko stand zwischen den Stoffbahnen, welche die Zimmer voneinander trennten. Er wirkte grimmig ernst.
»Ich kann nicht anders«, stieß ich hervor.
Irgendwie hatte ich erwartet, dass er mich wütend zur Rede stellen würde. Mich an mein Versprechen erinnern würde. Mich verfluchen würde, weil er schon so viel Arbeit in mich gesteckt hatte. Aber er tat nichts dergleichen. »Dann werde ich das akzeptieren«, sagte er stattdessen. »Komm, wir trinken zum Abschied einen Kanov. Bevor wir die Muschel zerbrechen.«
Die Muschel. Ja, das mussten wir noch tun. Aber der Gedanke daran war fast unerträglich.
Wir gingen in den Wohnraum und setzten uns mit gekreuzten Beinen auf den Teppich, die Muschel zwischen uns. Die beiden Leuchttierchen beobachteten uns. Eines von ihnen kratzte sich gelangweilt mit dem Hinterbein zwischen den Ohren.
Schweigend schenkte Udiko uns ein. Ich hielt das winzige Glas mit dem Kanov zwischen Zeige- und Mittelfinger, wie es Sitte war, und dachte über einen Trinkspruch nach. Aber mein Kopf war wie leergefegt – bis auf die Bilder von Lourenca, die sich darin eingenistet hatten.
»Habe ich dir eigentlich mal erzählt, warum ich Sucher geworden bin?«, fragte Udiko. Ich schüttelte den Kopf. Er wusste verdammt genau, dass er mir das nie erzählt hatte. Wieso tat er es jetzt?
»Ich war zwölf Winter alt, meine kleine Schwester Liri vier.« Udikos Stimme klang schwer und langsam. »Weil meine Eltern viel in ihren Algengärten unterwegs waren, musste ich oft auf sie aufpassen. Aber in diesem Sommer war ich zum ersten Mal verliebt. Bei einem Ausflug war ich einen Moment lang abgelenkt, habe nicht auf meine Schwester geachtet. Sie war weg. Erst zwei Tage später haben wir sie gefunden. Ertrunken.«
Erschüttert blickte ich ihn an. Ich habe selbst zwei Schwestern. Beide sind älter als ich, aber ich konnte mir trotzdem gut vorstellen, wie schlimm es damals für Udiko gewesen sein musste. »Es war falsch von Euren Eltern, Euch so eine Verantwortung zu übertragen. Ihr hattet ein Recht auf ein eigenes Leben.«
»Ja. Aber was nützt einem das, wenn es zu spät ist? Ich hätte Liri finden müssen. Rechtzeitig.« Er schenkte sich noch einen Schnaps ein und stürzte ihn hinunter. »Seit damals brannte es in mir. Meine Eltern wollten, dass ich ihre Algengärten pflege. Aber ich bin bei einem Sucher in die Lehre gegangen. Ich hatte Glück. Er konnte mir Vieles beibringen. Alles Weitere habe ich mich selbst gelehrt.«
»Selbst gelehrt?«
»Ja. Ich habe alles ausprobiert, und das, was geklappt hat, übernommen. Es so lange geübt, bis es ging. Tagelang, wochenlang. Monatelang. Ich war besessen damals. Aber das hat mich gerettet, Kleiner, das hat es.«
Wie gebannt hörte ich ihm zu. Wahrscheinlich hatte er all das noch nie jemandem erzählt. Sonst hätte es Geschichten darüber gegeben, oder zumindest Gerüchte.
»Der Tod ist ein seltsamer Genosse«, sagte Udiko. »Er zeigt dir, was wichtig ist. Manche Dinge, die man verloren hat, findet man niemals wieder – und wenn man das weiß, dann hält man sie fest, so lange man kann.«
Ja, dachte ich. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Mutter schon so bald sterben würde, hätte ich vielleicht ... Ich hätte ihr weniger Ärger machen, ihr öfter sagen können, was sie mir bedeutet ...
Ich merkte, dass meine Augen sich mit Tränen füllten. Und fing an zu reden.
Ich erzählte ihm alles. Wie schön meine Mutter gewesen war, und wie stolz ich auf sie gewesen war, wenn mal wieder eine ihrer Aufführungen die Gegend begeistert hatte. Wie hilflos ich mich gefühlt hatte, als eine Epidemie der Rotpocken in unserer Gegend ausgebrochen und sie krank geworden war. Wie schlimm es gewesen war, dass niemand mir gesagt hatte, wie es wirklich um sie stand. Wie wenig Trost es in meiner Familie gegeben hatte. Meine Schwestern hatten bald darauf an anderen Orten ihre Lehre begonnen, und mein Vater war ein strenger, stolzer Mann, der ungern über Gefühle redete.
Udiko unterbrach mich nicht. Er hörte einfach zu, nickte hin und wieder. Nachdem ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich erzählte ihm von Lourenca, wie viel sie mir bedeutete, wie wir zusammen geschwommen waren. Wie ich sie an Jarco verloren hatte, mit dem ich damals ständig herumgehangen und Blödsinn gemacht hatte. Auch ihn zu verlieren, war schwer gewesen, aber ich hatte es nicht ertragen, die beiden zusammen zu sehen.
Plötzlich fragte ich mich, wie Udiko nach dem Tod seiner Schwester mit Frauen klargekommen war. Hatte er unbewusst seiner ersten Freundin die Schuld daran gegeben, was passiert war? Hatte er deswegen so darauf bestanden, dass ich mich während der Lehre bei ihm von Mädchen fernhielt? »Ihr habt nie mit einer Partnerin den Bund geschlossen, oder?«
»Nein. Ich habe nie jemanden gefunden, der mir so viel bedeutet hätte. Aber ich habe auch nicht besonders intensiv nach der Liebe gesucht. Es gab andere Dinge in meinem Leben.«
»Was war Euch wichtig?«
»Zu suchen. Zu finden. Das ist meine Bestimmung in dieser Welt.«
Auf einmal klangen Janors Worte in meinem Ohr. Du bist ein Suchender. Immer und immer wieder. Plötzlich fühlte ich mich verzweifelter denn je. Ich war anders als Udiko. Ohne Liebe konnte ich nicht leben. Aber ich war auch ein Sucher, so wie er. Schon jetzt, nach diesen wenigen Wochen, wusste ich das. Mein Blick fiel auf die Muschel, die zwischen uns lag. Ich wusste nicht, ob ich es über mich bringen würde, sie zu zerbrechen. »Gebt mir einen Rat, Udiko – Brackwasser, was soll ich tun?«
»Ich kann dir keinen Rat geben, Kleiner. Du würdest ihn nicht annehmen.« In Udikos Stimme schwangen Unruhe und Sorge mit. Er sah mir in die Augen, und ich begegnete seinem Blick, wich ihm nicht aus. Vielleicht sprach er deshalb weiter. »Aber ich gebe dir ein paar Fragen, die du dir stellen kannst. Wenn du ehrlich mit dir selbst bist und dich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gibst, werden sie dir den Weg weisen. Bist du einverstanden?«
Ich nickte.
»Es sind nur drei Fragen. Die erste: Warum ist sie hier? Die zweite: Warum hat sie dich damals verlassen? Und die dritte: Würde sie für dich das Gleiche tun, was du jetzt für sie tun willst?«
Damit ließ er mich allein. Ich streckte mich auf dem Buntalgenteppich aus und starrte zur Wasseroberfläche. Inzwischen war es stockduster dort oben, alle drei Monde waren wieder untergegangen. Wir hatten die ganze Nacht geredet. Bis zur Dämmerung musste ich mich entscheiden.
Warum war Lourenca hier? Wegen mir. Sie war wegen mir gekommen, und einen Moment lang kostete ich noch einmal diese Szene aus, als sie im Eingang der Kuppel gestanden und mich beschrieben hatte. Doch dann erinnerte ich mich daran, was sie später erzählt hatte. Ja, sie hatte einen Umweg in Kauf genommen, sie hatte sich wegen mir zu Udiko getraut. Aber in der Gegend war sie ohnehin gewesen, sehr weit hatte sie es also nicht gehabt. Daheim in Colaris war es anscheinend noch immer ein heißes Thema, dass ich Udikos Lehrling geworden war. Vielleicht war sie einfach neugierig gewesen.
Dieser Gedanke schmerzte wie ein Messerschnitt. Ich brachte es kaum über mich, mir die nächste Frage zu stellen. Schon oft hatte ich darüber gegrübelt, warum Lourenca mich verlassen hatte, dann aber versucht, es lieber ganz zu vergessen. Nun, mit ein paar Monaten Abstand, fiel es leichter, darüber nachzudenken. Vielleicht wollte sie mich nicht mehr, weil ich sie zu sehr geliebt hatte – es wurde ihr zu ernst. Und im Grunde hatten wir nicht wirklich zusammengepasst.
Lourenca neigte zur Schwermut, ihre Launen wechselten wie das Wetter. Sie mochte es, wenn ich sie zum Lachen brachte, wenn ich ihr Dinge zeigte, die sie staunen ließen über die Welt, die uns umgibt. Inzwischen aber hatte ich begriffen, dass das, was mich bis ins Innerste faszinierte, für sie nur eine nette Abwechslung war, die man anschaute und wieder vergaß. Jarco war – so wie ich – beliebt in der Gegend, aber größer und stärker. Er hatte ein eigenes Auslegerboot und nicht ständig ein neues, eigenartiges Tier über der Schulter hängen. Sie hatte Spaß daran gehabt, Jarco und mich gegeneinander auszuspielen, wurde mir klar. Wie ein Kind, das aus Übermut ein Schneckengehäuse zerbricht, mit dem es eben noch gespielt hat.
Ich wusste, was Udikos dritte Frage bezweckte. Dahinter lauerten andere Fragen, auch sie gefährlich. Will sie, dass es mir gut geht? Ist ihr das so wichtig wie ihr eigenes Glück? Wenn ja, warum bittet sie mich dann, etwas zu tun, was so schlimm für mich ist?
Ich gab mir die Antwort, und ich war ehrlich mit mir selbst. Nein, Lourenca hätte das für mich nicht getan. Und ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, sie darum zu bitten.
Lautlos stand ich auf, ging in mein Zimmer und packte mein Reisebündel wieder aus. Die Muschel legte ich zurück an ihren Platz. Dann zog ich meine Schwimmhaut an, um zum Treffpunkt zu tauchen – und Lourenca zu sagen, dass ich nicht mit ihr kommen würde.