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Erstes Kapitel

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Hellgoldene Sonnenstrahlen durchfluteten den Nachmittagshimmel, an den sich schon viel zu früh der Mond geschlichen hatte, ganz so, als könnte er es nicht erwarten die kommende Nacht mit seinem eigenen silbernen Licht zu füllen. Fast wirkte es, als wüssten die zwei Himmelskörper um die Bedeutung dieses Herbsttages und wollten ihn daher durch ihr Licht für sich beanspruchen. Weit unter ihnen zerdrückten die Reifen eines alten Linienbusses herabgefallene Blätter, während er ratternd um eine Kurve fuhr. Einsam saß ein alter, gebrechlicher Mann ganz hinten in diesem Bus und beobachtete die jungen Schüler, die laut und fröhlich den Freitagabend und ihr Wochenende begrüßten. Zwar zeugten seine weißen Haare und die Falten, in die sich seine Gesichtshaut gelegt hatte, von einem langen Leben, doch in Wahrheit war er viel jünger, als sein Äußeres es vermuten ließ. Der Blick des Mannes schweifte suchend über die Jugendlichen, da er etwas gespürt hatte, dumpf und unterdrückt, aber dennoch deutlich genug. Die schwache Schwingung ging von einem Mädchen mit schulterlangen gelockten roten Haaren aus, die sich angeregt mit einem Jungen unterhielt. Auf einmal, als ob sie den Blick des Mannes spürte, drehte sie den Kopf und sah den Mann mit ihren hellgrünen Augen an. Schmunzelnd sah dieser zum Fenster. Wenn er das schaffen würde, worum die Frau ihn gebeten hatte, würden die Augen des Mädchens noch viel grüner erstrahlen, als sie es sowieso schon taten. Aber dennoch, sie war es nicht, die er hatte finden sollen. Das sagte ihm sein Instinkt. Doch wer der Schüler war es dann?

Nachdenklich starrte er auf seine Hände. Dieser Körper, in dem er sich jetzt befand, war ihm furchtbar fremd. Dort wo einst Federn gewesen waren, war nun lediglich faltige Haut. Aber die Verwandlung in einen Menschen war leider nötig gewesen. Ein plötzliches Ruckeln des Busses erinnerte ihn daran, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Ob die Frau sich wirklich nicht getäuscht hatte? Nein, sie wusste bestimmt, was sie tat. Immerhin hatte sie so sicher gewirkt …

Er schloss die Augen. Jetzt musste er sich konzentrieren. Er war der Bote, der die siebte Magie der Menschen wiedererwecken sollte. Es fehlte nur noch der Empfänger. Und endlich. Er konnte spüren, wer gemeint war. Auf einmal war es ganz deutlich. Der Mann öffnete die Augen wieder und drehte den Kopf zielgenau zu einem anderen Mädchen, das wie er allein saß. Ihre langen braunen Haare streiften ein Buch mit blauem Einband, welches sie fest umklammert hielt, so als ob sie dadurch Halt finden könnte.

Der Mann wandte seinen Kopf nun zufrieden wieder dem Fenster und der Landschaft dort draußen zu und für einen winzigen Augenblick, in dem er sich schon fast in Sicherheit gewiegt hatte, sah er ihn. Entlang der Straße tauchte eine ihm schmerzlich bekannte Gestalt auf. Sein Magen verknotete sich.

Abrupt machte der Bus halt. Das brünette Mädchen ging schnell zu den sich öffnenden Türen, wurde aber bei dem Versuch, den Bus als Erste zu verlassen, von der Rothaarigen aufgehalten. Diese drückte sie energisch beiseite, wobei dem Mädchen vor Schreck das Buch aus der Hand fiel. Lachend kickte die Rothaarige es aus dem Bus heraus, sodass es auf den schlammigen Boden fiel. Als sie schadenfroh aus dem Bus sprang, landete sie mit einem Fuß auf dem Buch und drückte es dabei tiefer in den Dreck. Nach ihr strömten weitere Schüler aus dem Bus, bis nur noch der Busfahrer, der alte Mann und das erschrockene Mädchen im Bus übrigblieben. Mit wackeligen Schritten kämpfte der Mann sich zum Ausgang.

»Sie können vorgehen, wenn Sie möchten.«, bot ihm das Mädchen an. Dankbar lächelte er sie an und nahm ihr Angebot an. Leider konnte er ihr nicht antworten, da er nicht wusste, wie man als Mensch sprach. Beim Aussteigen achtete er darauf, nicht wie die Mehrzahl der Schüler auf das Buch zu treten. Während das Mädchen nach ihm aus dem Bus stieg, hob er das Buch aus dem Schlamm auf und versuchte es so gut wie möglich mit seinen Jackenärmeln von dem Dreck zu befreien.

»Danke, das ist nett von Ihnen.«, freute sich das Mädchen, als er ihr das Buch zurückgab. Inzwischen war der Bus weitergefahren. Unsicher sah sich der alte Mann um, voll Furcht, die Gestalt jeden Moment erneut zu erblicken.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte ihn das Mädchen schüchtern. Schnell schüttelte der Mann den Kopf, obwohl das eine Lüge war. Bald würde sie ihm helfen, sie würde Dutzenden helfen, doch diese Zeit war noch nicht gekommen. Es war momentan zu gefährlich. Und so blickte er dem Mädchen nur kurz in ihre dunkelbraunen Augen, wohlwissend, dass sie bald eine andere Farbe haben würden, bevor er sich aufmachte, um einen sichereren Ort zu finden.

In einer Seitenstraße nahe der Bushaltestelle tauchte die Gestalt auf, die der alte Mann so sehr gefürchtet hatte. Mit eingezogenem Kopf ging er durch die Straßen und sah sich suchend um. Er wusste ganz genau, dass der Vogel hier war. Seine Anwesenheit konnte er spüren, wenn auch nur schwach. Es war, als ob der Vogel eine dumpfe Schwingung aussandte, die der Mann als so widerwärtig empfand, dass sich sein Inneres geradezu danach verzehrte, ihn zu vernichten, nur um dieses abscheuliche Gefühl loszuwerden.

Mit einem scannenden Blick seiner blutroten Augen suchte er die Umgebung ab. Erschrocken wichen ihm die vorbeigehenden Menschen aus, so abstoßend war sein leichenhaftes Erscheinungsbild. Doch da war nichts, nichts von Bedeutung. Kein exotischer Vogel, nur überschwängliche Schüler, gestresste Geschäftsleute, hier und da ein paar Hunde und ein einzelner, altersschwacher Mann.

»Wo steckst du, du dreckiges kleines Vögelchen!«, fauchte er durch seine zusammengebissenen Zähne hindurch. Hier würde er ihn nicht finden, das wurde dem Mann widerwillig klar. Doch er musste seine Suche weiter fortsetzen, ein Scheitern seinerseits konnte nicht geduldet werden.

Der Tag hatte sich dem Ende zugeneigt und die ersten Sterne erschienen am Himmel. Eine ältere Dame räumte gerade den Tisch ab. Vorsichtig stellte sie das Geschirr in die Spülmaschine, als etwas dieses zum Klirren brachte. Eine vertraute Schwingung. Unsicher ging die Frau zum Küchenfenster und sah nach draußen in die Dämmerung, aber dort konnte sie nichts erkennen. Schulterzuckend lief sie zu einem kleinen Tischchen, räumte ein leicht verdrecktes blaues Buch beiseite und begann, drei große Duftkerzen anzuzünden. Ein sanfter, wohlig warmer Vanilleduft erfüllte den Raum, aber da war es schon wieder. Etwas brachte die Kerzenflammen zum Flackern. Etwas, was die alte Frau schon fast verdrängt hatte. Etwas, was sie nie mehr für möglich gehalten hatte.

Unruhig ging sie ein weiteres Mal zum Fenster. Hatte sie sich doch getäuscht? Sie war ja auch nicht mehr die Jüngste, bestimmt hatte sie sich nur vertan. Alte Erinnerungen an eine fast vollkommen vergessene Zeit. Wunschdenken. Gerade, als sie den Raum kopfschüttelnd verlassen wollte, sah sie es. Für den Bruchteil einer winzigen Sekunde leuchteten sie lilafarbene Augen an, nur, um sogleich wieder zu verschwinden. Aber da war noch etwas anderes, welches böse Erinnerungen in ihr weckte.

Atemlos preschte der rotäugige Mann auf die Lichtung. Da war er gewesen, der Vogel, er hatte ihn erst schwach und dann auf einmal ganz deutlich gespürt. Wütend streckte er die Fäuste gen Himmel und schrie frustriert auf, was jedoch nicht unbemerkt blieb. Aus einem alten Fachwerkhaus, das gut zwanzig Meter von ihm entfernt stand, sah ihn eine alte Frau durch ein Fenster erschrocken an.

»Was glotzt du so, du alte Schrulle?«, keifte er sie an. »Bald guckst du nicht mehr so dumm.« Er lachte hämisch und feuerte einen roten Funkenstrahl auf sie ab. Jener traf sie durchs Fenster hindurch, mitten in die Brust. Die Frau kippte um und blieb regungslos am Küchenboden liegen. »Träum süß, ich sorg auch dafür, dass dir in der Nacht schön warm ist.«, säuselte er grinsend und schleuderte einen weiteren Funkenstrahl aus seiner Hand. Diesmal traf er das untere Ende des Hauses und setzte es langsam aber sicher in Brand.

Genüsslich zog er den kratzenden Duft der ersten Rauchschwaden in sich ein und beobachtete das Haus zufrieden ein paar Minuten. Zerstörung. Feuer. Jetzt brauchte er nur noch eines, um glücklich zu sein. Er überließ das Haus sich selbst und machte sich rennend auf in den nahegelegenen Wald, um der Spur des Tieres zu folgen, während das Haus bereits lichterloh brannte.

Ein medizinisches Gerät gab ein gleichmäßiges Geräusch von sich, während sich ein Herzschlag dort auf einem Monitor in regelmäßigen Auf-und Abbewegungen abzeichnete. Dieser Herzschlag gehörte zu einer alten Frau, die in einem schmalen Krankenhausbett lag und kaum merkbar atmete. Es schien, als würde sie friedlich schlafen, aber dem war nicht so, denn eine Atemmaske bedeckte ihren Mund sowie ihre Nase und verschiedene Schläuche führten zu komplizierten, medizinischen Geräten. Ein brünettes Mädchen saß auf einem schlichten Plastikstuhl, den sie ganz nah an die Bettkante geschoben hatte, sodass sie die Hand der alten Dame halten konnte. Mit ihrem Daumen strich sie sanft immer wieder über die runzligen Finger der Frau und murmelte ihr beruhigende Worte zu.

»Na, wen haben wir denn da?«, sagte ein rothaariges Mädchen mit höhnischem Unterton in ihrer Stimme. Erschrocken ließ das andere Mädchen die Hand der alten Frau fallen und sah zu der Rothaarigen hin, die sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt hatte.

»Was machst du hier, Emily?«, fragte die Brünette zerknirscht.

»Mein Vater arbeitet hier, da dachte ich, ich besuche dich mal. So was wie ein Brand spricht sich schnell herum, Lia.« Emily warf Lia einen taxierenden Blick zu.

»Schön.«, fauchte Lia. »Kannst du jetzt wieder gehen?«, forderte sie. Aber Emily hatte andere Pläne. Sie ging langsam zum Nachtisch der alten Frau und fischte sich ein Bonbon aus einer dort stehenden Dose.

»Viel Besuch habt ihr nicht, du und Ella.« Emily sah zu der alten Dame. »Ist es nicht so?« Es war weniger eine Frage, eher eine Feststellung, die sie bestätigt haben wollte.

»Nein, den haben wir nicht.«, knurrte Lia.

»Schon traurig, wenn man niemanden mehr hat.«, seufzte Emily mit gespieltem Mitleid. Unterdessen wickelte sie das Bonbon aus dem Papier aus. Wütend sah Lia sie an. Früher waren sie Freundinnen gewesen, doch das war schon lange her. Emily warf das Bonbonpapier achtlos auf den Boden.

»Und Ella,« Die Rothaarige spielte nun an einer einsamen Blume herum, die in einer Vase stand. »ist sie tot?«, fragte sie und zerquetschte die Blüte dabei mit ihrer Hand. Scharf zog Lia die Luft ein.

»Koma.«, flüsterte sie.

»Jammerschade.« Emily lächelte süffisant. Jetzt hatte Lia genug. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, sodass dieser zu Boden fiel. Wutentbrannt sah sie Emily an und ballte dabei ihre Hände zu Fäusten. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte Emily sie. Nach ein paar Sekunden musste Lia zur Seite schauen. Sie entspannte ihre Fäuste. Schlussendlich würde sie es doch nicht schaffen, sich gegen Emily zu wehren. Es war schon immer so gewesen. Doch als diese zu lachen begann, hielt es Lia nicht mehr aus. Wenn Emily nicht ging, dann musste sie es eben tun. Und so rannte sie raus, raus aus dem Raum und raus aus dem ganzen Krankenhaus. Einfach so weit weg wie möglich.

Es dämmerte schon, als Lia endlich an ihrem Ziel ankam. Sie wusste nicht wie lange sie gelaufen war, bis sie vom Krankenhaus, welches in der Stadtmitte lag, hier am Ende der Stadt angelangt war. Und ehrlich gesagt war es ihr auch egal. Sie wollte einfach nur weg, weg vom Krankenhaus, weg von all den Ärzten, weg von Ella und weg von ihrer alten Freundin. Lia schwelgte auf den letzten Metern ihres Weges in den Erinnerungen an ihre Kindheit. An all die Tage, in denen sie quietschvergnügt gespielt hatte und die Welt für sie wie ein einziges, nie endendes Wunder gewesen war. Sie lächelte verträumt, als ein Traktor, der lautstark brummend den Feldweg neben ihr entlangfuhr, um zu einem nahegelegenen Acker zu gelangen, sie aus ihren Gedanken riss und sie in die harte Realität zurückkatapultierte. Und die war nun mal nicht traumhaft, sondern so kaputt wie die Trümmer des alten Fachwerkhauses, die sich nun vor ihr aufbauten. Auch Stücke des umliegenden Waldes hatten Feuer gefangen. Schlagartig kamen die Erinnerungen an den Brand zurück. Innerlich roch Lia noch den Gestank des Rauches, der so beißend war, dass es einem die Kehle zuschnürte. Sie konnte sich noch genau an die mörderische Hitze erinnern, die von den feuerroten Flammen ausgegangen war. Fast klangen ihr wieder ihre eigenen Schreie im Ohr, sowie das Heulen der Feuerwehrsirene und das hektische Gebrüll der Feuerwehrmänner, die sich gegenseitig Anweisungen zuriefen. Ihr Herz pochte erneut so panisch wie damals, als sie um ihr Leben fürchtete.

Vorsichtig strich sie über die rabenschwarze Holzsäule, oder eher über das was davon noch übrig war. Ein jahrhundertealtes Gebäude, welches in weniger als ein paar Stunden dem Erdboden nahezu gleichgemacht worden war. Was genau die Brandursache war, wurde noch von der Polizei ermittelt. Ein Fehler in der Elektrik, Brandstiftung oder vielleicht sogar Ella, die immer vergesslicher wurde, und daher aus Versehen eine der Duftkerzen umgestoßen haben könnte, die sie sich abends immer so gerne angezündet hatte. Alles war möglich. Letzteres war hoffentlich nicht der Fall, da Lia hoffte wieder bei ihrer Pflegemutter wohnen zu können, wenn diese sich erholt hatte. Emily hatte schon recht. Sie hatte niemanden mehr.

Vor fünfzehn Jahren wurde sie an einer Babyklappe abgegeben. Damals war sie noch ein Neugeborenes, nicht mehr als einen Tag alt. Ella hatte davon erfahren, sie dann bei sich aufgenommen und großgezogen. Sie war immer für Lia dagewesen und hatte sich rührend um sie gekümmert, doch das hatte nicht verhindern können, dass Lia seit jeher gehänselt wurde, weil ihre Eltern sie weggegeben hatten. Das Schlimmste hatte vor zehn Jahren ein fünfjähriger Junge zu ihr gesagt, nämlich das sie so schrecklich wäre, dass sogar ihre Eltern sie bei ihrer Geburt schon gehasst hatten und sie deshalb schleunigst loswerden wollten.

Damals wurde sie aber von einem kleinen wortgewandtem Mädchen mit blitzenden grünen Augen und leuchtend roten Haaren verteidigt. Sofort wurden beide gute Freundinnen und blieben es … bis sich Emily vor ein paar Jahren von ihr abgewandt hatte.

Lia ballte ihre rußigen Finger zu Fäusten. Nun stand sie vor den kläglichen Trümmern ihres letzten Rückzugsortes. Ihre einzige Bezugsperson lag im Koma. Sie hatte wirklich niemanden mehr. Sie war vollkommen allein.

Plötzlich spürte sie an ihren Beinen eine Berührung. Jemand Pelziges schmiegte sich an sie und schnurrte dabei lang und laut. Lias Herz machte einen freudigen Hüpfer. Das hatte sie beim besten Willen nicht erwartet. Sie fuhr der Katze über ihr langes graues Fell. An den Enden war es stückweise ganz leicht vom Feuer versengt.

Die Katze war eigentlich ein Kater. Er hieß Henry und hatte schon mehrere Jahre auf seinem struppigen Buckel. Zusammen mit Ella und Lia hatte er in dem alten Fachwerkhaus gelebt und sich dort um die Vernichtung der Mäuse gekümmert. Seit dem Brand hatte Lia ihn nicht mehr gesehen, da sie natürlich im Krankenhaus bleiben musste. Aber jetzt war sie überglücklich ihn lebendig vorzufinden. Vermutlich hatte er sich im nahegelegenen Wald von kleinen Vögeln oder dort lebenden Mäusen ernährt. Lia setzte sich glücklich auf den Boden und schmuste mit dem riesigen Fellknäuel. Er war das Einzige, was sie jetzt noch hatte. Ihr kleiner, flauschiger Hoffnungsschimmer. Jetzt war sie nicht mehr ganz allein.

Auf einem der höchsten Äste einer großen Eiche saß ein sonderbarer Vogel, der die beiden durch seine kräftigen lilafarbenen Augen beobachtete. Er sah exotisch aus und gehörte definitiv nicht zu den einheimischen Vögeln Deutschlands. Insgesamt war der Vogel ein wenig kleiner als ein Schwan, aber seine Erscheinung war nicht weniger mächtig. Sein Gefieder war golden, mit der Ausnahme seiner Flügel und seines Schwanzes. Dort waren seine Federn lila und wurden immer wieder von Pfauenfedern unterbrochen. Jedenfalls sahen sie auf dem ersten Blick so aus, doch sie waren ganz im Inneren rosa und an den Enden silbern. Dazu zierte seinen Kopf ein Kamm aus ebenfalls lilafarbenen Federn, die sich, ähnlich wie Locken, in die Richtung seines spitzen goldenen Schnabels bogen.

Doch der Vogel hatte vermutlich schon bessere Zeiten gesehen. Seine Federn waren blass und zerzaust. Er war unter seinem imposanten Federkleid mager und schien dem Tode nahe. Der Vogel legte den Kopf schief und starrte Lia weiter an, so als ob er nicht auf ihr Äußeres blickte, sondern tief in sie hineinsah. In dieser Position verharrte der Vogel noch eine Weile, bis er urplötzlich seine Flügel erhob und mit einer unerschütterlichen Entschlossenheit von der Baumkrone aus auf Lia zustürzte.

Als sie das Ächzen eines Astes hörte, von dem sich etwas Schweres loslöste, riss Lia erschrocken die Augen weit auf und sah, wie der riesige Vogel durch die Luft auf sie zuglitt. Normalerweise hätte sie wohl aufgeschrien und wäre von ihm davongelaufen, aber paradoxerweise war sie wie gelähmt und gleichzeitig vollkommen entspannt. Wenige Meter vor ihr kam der Vogel auf dem Boden auf. Lia konnte in dem schwachen Licht nicht so viel von dem Wesen erkennen, aber er glich nichts, was sie jemals gesehen hatte. Sie war sich nicht sicher, wieso sie so ruhig blieb. Waren es noch die Beruhigungsmittel aus dem Krankenhaus? Oder etwa Henry, der den Vogel, der mehr als doppelt so groß wie er war, nur kurz ansah, dann in Lias Schoß zurückfiel und friedlich weiterschnurrte? Typisch war das nicht für ihn, Lia hatte erwartet, dass er in den Wald davonrennen oder zumindest den Vogel anfauchen würde. Doch jener hatte trotz seiner Fremdartigkeit beinahe etwas Vertrautes an sich. Lias angespannte Muskeln lockerten sich und wäre sie wie Henry eine Katze, hätte sie sicherlich auch angefangen zu schnurren. Der Vogel neigte langsam seinen schönen Kopf vor Lia und sah dann wieder zu ihr auf.

Sie selbst konnte den Blick nicht von ihm abwenden, besonders nicht von seinen durchdringenden Augen, deren Farbe so intensiv leuchtete, dass Lia sie sogar im Dunkeln der Nacht erkennen konnte. Lila. Ein klares, kräftiges Lila.

Völlig gebannt blickte sie in seine Augen, deren Farbe sich mit jeder Sekunde zu intensivieren schien. Das Lila wurde deutlicher und bald war es, als würden nicht nur seine Augen leuchten. Die Luft war wie elektrisiert und es tanzten lilafarbene Funken durch sie. Die Funken bündelten sich und verschmolzen zu einem Strom, eine Art undurchdringbaren lila Nebel, der um die drei immer schneller und schneller herumströmte. Lia wurde ganz warm, ihr war, als würde ihr Herz glühen. Mit jedem Schlag zog sich dieses Glühen immer weiter durch ihren Körper, floss durch ihre Blutbahnen, bis es in die winzigsten Verästelungen vordrang, die kleinsten Äderchen und damit jede Ritze ihres Körpers erfüllte.

Lia fühlte sich als wäre sie eine eigene lilafarbene Sonne, voller Wärme, Licht und purer Energie. Sie hatte sich noch nie in ihren Leben so kraftvoll gefühlt. Es war ein einzigartiges und ein einfach unbeschreiblich wundervolles Gefühl.

Doch etwas stimmte nicht. Mit jeder Sekunde, jedem Herzschlag, in dem sich das angenehme Glühen in Lias Körper entfaltete, schien der Vogel einen Teil seines Glanzes zu verlieren. Sein imposantes Federkleid wurde nach und nach aschfahl, indem das Gold immer blasser wurde, bis der einstige Glanz schließlich vollständig verschwunden war. Auch die lilafarbenen Federn verwandelten sich in etwas, was eher grau als farblich war. Die Pfauenfedern verloren all ihre bunten Farben und knickten ab. Auf der verdorrten Erde zerbarsten die meisten davon schließlich zu Staub. Auch der Tanz der lila Funken hörte auf und der Nebel lichtete sich allmählich. Das Gefühl des inneren Glühens in Lia ebbte ab. Doch als der Vogel kurz davor war selbst die faszinierende Farbe seiner Augen zu verlieren, ertönte ein kurzes schwaches Krächzten aus seinem einst goldenen Schnabel. Und dieser Laut, so zart und kurz er doch war, sprühte nur so vor Zufriedenheit. Was der Vogel auch getan hatte, auch wenn es ihm augenscheinlich all seine Kräfte genommen hatte, er schien froh über seine Entscheidung. Er hatte seinen Auftrag erfüllt.

Lia sah mit Entsetzen wie der Vogel die jetzt schwarzen Augen schloss. Er würde sie nie wieder öffnen. Der ausgezehrte Körper des Tieres prallte auf die nackte Erde. Der Vogel war tot.


Pfaeux

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