Читать книгу Pfaeux - K.C. Zwilling - Страница 6

Zweites Kapitel

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Lia kreischte. Das angenehme Gefühl war endgültig verschwunden. Henry schnurrte nicht mehr, sondern spannte sich an und krallte sich an ihren Beinen fest. Mit vor Furcht geweiteten Augen starrte Lia den reglosen Vogel vor sich an. Wie konnte sich etwas so Schönes in so kurzer Zeit zu so etwas Schrecklichem entwickeln? Ein kühler Windstoß erfasste das Trio und bewegte sanft die Reste der Federn des Vogels. Lia strich sich die Haare aus dem Gesicht und bemerkte dabei, wie sie zitterte. Die Nacht war gekommen. Mit dem Glühen war auch die Wärme in ihr verschwunden. Ihr Herz schlug nicht mehr ruhig, sondern rasend schnell. Henry streckte seine Katzennase in die Luft und schnupperte. Eine Sekunde lang blieb er still, dann fauchte er und sprang mit einem schnellen Satz von Lias Schoß und rannte so schnell wie Lia ihn noch nie hatte rennen sehen in den Wald.

»Henry!«, rief sie ihm leise und verängstigt hinterher. Sie rappelte sich auf und starrte in die Dunkelheit. »Okay, nur keine Panik. Alles ist gut.«, flüsterte Lia sich zu, aber der Versuch sich selbst Mut zuzusprechen scheiterte, als sie das Rascheln des Laubes hörte, auf das jemand trat. Henry war zwar weg, trotzdem war sie nicht allein. Da draußen war etwas, oder besser gesagt jemand.

»Na Süße, hast du etwa Angst?«, fragte eine Stimme verschmitzt aus der Dunkelheit. Blutrot leuchtende Augen erschienen vor ihr. »Komm her zu mir, ich tu dir auch nichts, versprochen.« Es erklang ein kaltes tiefes Lachen, welches Lia vor Angst die Kehle zuschnürte. Trotz dessen war sie in der Lage sich aus ihrer Schockstarre zu befreien und sogleich tat sie das einzig Richtige, was man in solch einer Situation tun konnte. Rennen.

Keuchend preschte Lia durch den Wald. Statt dem warmen Glühen strömte nun haufenweise Adrenalin durch ihren Körper. Das Licht des Mondes erleuchtete den Wald und half ihr, nicht blindlinks gegen irgendwelche Bäume zu laufen. Was für eine dumme Idee war es gewesen, einfach aus dem Krankenhaus abzuhauen! Wieso war sie nur so leichtsinnig? Nachts allein bei ihrem abgebrannten Haus zu bleiben, auf so bescheuerte Ideen konnte auch nur sie kommen. Ihr hätte doch klar sein müssen, dass sich da vielleicht irgendwelche schrägen Gestalten herumtrieben. Fast sehnsüchtig dachte sie an das sterile Krankenhaus und ihr unbequemes Bett, wie gerne wäre sie jetzt dort, oder selbst bei Emily. Alles war besser als nachts in einem dunklen Wald vor einem unbekannten Mann davonzulaufen.

Doch da passierte es. Lia hatte eine hervorstehende Baumwurzel übersehen, in der sich prompt ihr Fuß verhakt hatte. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte. Ein hässliches Knackgeräusch durchschnitt die Stille und ein heftiger Schmerz durchzuckte ihr Bein. Lia schrie, was sich bald als fataler Fehler herausstellen würde, jedoch konnte sie diesen Schmerzensschrei unmöglich unterdrücken, denn es tat unglaublich weh. Während der Schmerz weiter in ihrem Bein pochte, biss sich Lia auf die Lippe. Sie konnte nicht dort liegen bleiben, ganz gleich wie, sie musste weiter, fort von diesem Fremden. Irgendwohin, wo es Menschen gab. Menschen, die ihr halfen, sie beschützten.

Aber eine schreckliche Gewissheit machte sich in ihrem Kopf breit. Es war die falsche Richtung gewesen, in die sie gelaufen war. Die nächsten Häuser ihrer Stadt waren in der entgegengesetzten Richtung und das nächste Dorf auf dieser Seite des Waldes lag Kilometer entfernt. In nächster Umgebung lebte keine Menschenseele. Sie war diesem Mann schutzlos ausgeliefert.

Hektisch befreite Lia ihr Bein aus der Wurzel. Sie musste weiter. Eine andere Wahl hatte sie nicht, auch wenn es praktisch hoffnungslos war, sie musste wenigstens versuchen sich in Sicherheit zu bringen. Allerdings starb ihr letzter Hoffnungsschimmer gleich darauf, denn sie konnte nicht aufstehen. Ihr Bein verweigerte den Dienst und Lia sackte wie ein Häufchen Elend zurück auf den Waldboden.

»Schätzchen, hast du nach mir gerufen?«, fragte eine süffisante Stimme. Da war es wieder. Das blutrote Augenpaar in der Dunkelheit.

»Hau ab!«, heulte Lia.

»Prinzessin, wein doch nicht! Ich bin doch da.« Der Mann kam Lia näher, kniete sich hin und strich mit seiner rauen eiskalten Hand sanft die Tränen von ihrer Wange. Diese hatte Lia gar nicht bemerkt, aber sie war ihnen gegenüber vollkommen machtlos. Massenweise rannen sie aus ihren Augen.

Jetzt, da er ihr so nahe war, sah Lia zum ersten Mal mehr von ihm als bloß seine unnatürliche Augenfarbe. Sein Gesicht war spitz und sehr blass. Es wurde dominiert von einer auffällig langen und schnurgeraden Nase. Das Mondlicht verlieh seinen hellblonden Haaren einen silbrigen Schimmer. Der Mann war groß und seine Wangen waren eingefallen, außerdem war er viel zu dürr für seine Größe. Seine ganze Erscheinung hatte etwas beunruhigend Leichenhaftes … so als wäre es lange her, dass seine Haut die Sonne gesehen hatte, wenn er überhaupt jemals bei Tageslicht draußen gewesen war.

»Was für wunderschöne Augen du hast.«, säuselte er, mit einer Stimme klebrig und zäh wie Honig. Seine Hand streichelte weiter ihre Wange, doch Lia wurde es zu viel. Mit letzter Kraft holte sie aus und rammte ihre geballte Faust mitten in sein Gesicht. Diesmal war es nicht sie, die vor Schmerz aufjaulte. Blut rann aus der Nase des Mannes, die nun nicht mehr so gerade war. Lia stieß einen zufriedenen Laut aus.

»Du kleine Ratte!«, fauchte der Mann. Er erhob sich, sein Gesicht war wutverzerrt und Blut tropfte ihm von seinem spitzen Kinn. Doch bevor er irgendetwas tun konnte, schrie er ein weiteres Mal vor Schmerz auf. Etwas hatte sich in seinen Arm festgekrallt. Ein pelziges Etwas. Henry.

Lia nutzte den Moment und krabbelte los, das nutzlose Bein so gut wie nur irgendwie möglich hinter sich herschleifend. Sie hörte das Fauchen von Henry und die Wutschreie des Mannes, der versuchte den Kater abzuschütteln, während sie sich weiter vorankämpfte. Aber jeder Meter, jede Bewegung war eine Tortur für sie. Der Schmerz war zu stark. Auch die schier endlose Energie, die sie vorhin gespürt hatte, war dahin. Lia hatte seit Stunden weder gegessen noch getrunken, sie war vollkommen kraftlos.

Niedergeschlagen sackte Lia neben einem Baum zusammen. Wieso versuchte sie es überhaupt? Sie war völlig fertig, ihr Kopf dröhnte von dem schrecklichen Schmerz in ihrem Bein und ihr leerer Magen krampfte sich zusammen. Bald würde der Mann Henry abgeschüttelt haben und dann würde er sie finden. Verzweifelt lehnte sie den Kopf gegen die moosige Rinde des Baumes.

Und dann sah sie es. Dort drüben in der Dunkelheit blitzte ein weiteres Augenpaar auf. Auch die Farbe dieser Augen leuchtete unnatürlich, aber sie waren weder lila noch blutrot. Diese Augen blickten sie in einem schier puren Silber an. Sie sahen fast wie zwei einsame Sterne aus, so strahlend waren sie.

Wie gebannt blickte Lia in diese, während der Besitzer dieser einzigartigen Augen näher kam. Es handelte sich um einen Jungen, ungefähr ein Jahr älter als sie. Er war groß und schlank, aber nicht dürr wie der Mann. Sein Gesicht war zwar ebenfalls blass, aber sein Lächeln war freundlich und nicht spöttisch oder gar hinterlistig. Seine rabenschwarzen Haare standen im perfekten Kontrast zu seinen hellen Augen und fielen von einem Mittelscheitel aus knapp bis in diese. Schließlich hatte er Lia erreicht.

»Hab keine Angst. Ich werde dir helfen.« Seine Stimme war beruhigend und er lächelte Lia immer noch aufmunternd zu. Zaghaft erwiderte sie das Lächeln. »Versteck dich dort, bei dem Baum in der Mulde. Ich komme wieder so schnell ich kann.« Der Junge deutete auf eine Kuhle, die sich zwischen zwei großen Wurzeln gebildet hatte.

»Okay.«, willigte sie ein. Der Junge nickte und verschwand. Lia vereinte ihre allerletzten Kraftreserven und schleppte sich zu der Mulde. Sie kroch hinein und zwang sich, ihr verletztes Bein anzuwinkeln, sodass sie sich so klein wie möglich machen konnte. Ob es eine gute Idee war, diesem wildfremden Jungen zu vertrauen, wusste sie noch nicht. Immerhin war es nicht normal, sich mitten in der Nacht in einem abgelegenen Wald herumzutreiben. Lia seufzte. Sie hatte gut reden. Schließlich tat sie dies ja selbst. Und dieser Junge wollte ihr anscheinend helfen … aber wieso nur? Aber das alles wollte Lia lieber ignorieren. Es war so unwahrscheinlich gewesen, dass es hier mitten im Wald irgendjemand gab, der ihr helfen konnte. Der sie vor diesem Mann beschützte. Mit Ausnahme von Henry, natürlich. Eine andere Wahl als diesem Jungen mit den sonderbaren silbernen Augen zu vertrauen hatte sie nicht. Diese Augen. Erst das seltsame Lila des Vogels. Das könnte vielleicht vollkommen normal sein. Eventuell war es ein seltener exotischer Vogel, der ursprünglich in den Tropen heimisch war und aus einem Zoo in der Umgebung ausgebrochen sein konnte. Aber das erklärte noch nicht den lila Nebel und den Funkentanz, sowie die unnatürlich roten Augen des Mannes und die silbernen des Jungen. Denn das war beim besten Willen nicht normal.

Lia verbarg ihren Kopf in ihren Händen. Was hatte man ihr in diesem Krankenhaus nur eingeflößt?! Welcher verrückte Medikamentencocktail in Kombination mit zu wenig Nahrung schaffte es, dass sich ihr Hirn solche verrückten Dinge ausdachte? Für einen kurzen Moment hoffte sie, dass sie nur träumte. Aber alles war so real. Der moosige Geruch des Waldes, das Rascheln der Blätter im Wind und nicht zuletzt der stechende Schmerz, der immer noch in ihrem Bein pochte. Nein, ein Traum war das hier definitiv nicht.

»So, dieser Mann dürfte uns vorerst keine Probleme mehr machen.« Der Junge war wieder da. Er war nur wenige Minuten fort gewesen und jetzt lächelte er Lia selbstzufrieden an. Mit einem kritischen Blick betrachtete er die Umgebung. »Naja, ich würde trotzdem von hier verschwinden.« Der Silberäugige machte ein paar Schritte vorwärts, drehte sich dann aber wieder um, weil Lia keine Anstalten machte ihm zu folgen. »Hey, wieso kommst du nicht?«

»Ich würde ja, aber …« Lia starrte bedauernd auf ihr verletztes Bein.

»Du bist verletzt.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Er kam zu ihr, kniete sich vor sie hin und legte seine Hand behutsam auf Lias Bein. Das Silber seiner Augen blitzte und Lia schien, als ob es unter seiner Hand silbrig glühte. Diese Medikamente hatten wirklich schräge Nebenwirkungen. Ihre Halluzinationen machten Lia so langsam wirklich Angst. Das Seltsame war, dass der Schmerz verblasste und als er die Hand von ihrem Bein hob, war er vollkommen weg, ganz so, als wäre nie etwas geschehen.

»Los.«, befahl der Junge. Aber Lia starrte ihn nur entgeistert an.

»Wie hast du –«, wollte sie fragen, aber er unterbrach sie.

»Das ist doch jetzt egal. Deinem Bein geht es wieder gut. Du kannst damit laufen.«

»Und der Mann? Was hast du –«

»Komm einfach.« Er streckte seine Hände nach Lias Armen aus, packte zu und zog sie auf die Beine. Dann nahm er ihre Hand und führte sie durch den Wald, so fokussiert und zielstrebig, als hätte er eine innere Landkarte vor den Augen. Zusammen kamen sie bei der Brandruine an. Abrupt blieb der Junge stehen und lies Lias Hand los. Er ging zu dem toten Vogel. Sanft strich er über den kläglichen Federhaufen, dessen ursprüngliche Pracht und Schönheit man nun nur noch schwer erahnen konnte.

»Was ein Jammer.«, seufzte er. Lia blinzelte, und als sie die Augen wieder öffnete, war der Vogel verschwunden. Die Kinnlade fiel ihr herunter.

»Wie? Was? Du? D-der Vogel?«, japste sie. Aber er hörte sie schon gar nicht mehr, denn er war bereits an ihr vorbeimarschiert. Lia lief ihm nach und fand ihn in ihrem ehemaligen Garten nahe ihres Teiches, der eher einem kleinen Tümpel glich. Er fasste mit der Hand in seine Hosentasche und zog eine silberne Perle heraus. Als er sie ins Wasser warf, versank sie nicht zwischen den vielen Algen darin, sondern begann sich langsam aufzulösen und das Wasser um sie herum dabei silbrig anzufärben. Der Junge watete ohne zu zögern in den Teich, bis das Wasser seine Waden umspülte. Er warf Lia einen auffordernden Blick zu, doch diese rührte sich nicht. Er seufzte, streckte seinen Finger aus und zeigte erst auf sie und dann neben sich in den Teich.

»Kannst du mir erklären, warum ich in den Teich steigen soll?« Lia verschränkte ihre Arme.

»Weil ich es will.«, antworte der Junge knapp.

»Ich will es aber nicht.«, sagte Lia entrüstet. »Mir ist kalt und das Wasser ist noch kälter. Ich habe Hunger und bin verwirrt. Kannst du mir nicht wenigstens sagen, warum ich da hineingehen soll, wenn du mir noch nicht einmal sagst, was du mit dem Mann und meinem Bein gemacht hast?«

»Nein.«

»Mehr hast du nicht zu sagen?!« Lia schrie jetzt. »Ich weiß noch nicht mal deinen Namen!«

»Ich weiß auch nicht deinen.« Seine Stimme blieb ganz ruhig.

»Lia.«, antwortete Lia verbissen.

»Alois.«

»Geht doch.« Lia sah ihn feindselig an. Aber Alois lächelte nur amüsiert. Mittlerweile hatte sich die silbrige Färbung über den halben Teich ausgebreitet.

»Kommst du jetzt?«, fragte Alois Lia eindringlich. »Bitte?«, fügte er hinzu, als sie nicht reagierte.

»Henry.« Lia konnte nicht gehen. Nicht ohne ihren Kater.

»Wer ist Henry?«, fragte Alois und zog eine Augenbraue hoch.

»Mein Kater.« Lia sah sich suchend um, was vollkommen sinnlos war, weil sie in der Dunkelheit sowieso kaum etwas erkennen konnte. Alois verdrehte genervt die Augen.

»Lass ihn doch einfach hier.«

»Nein!«, zischte Lia. »Du hast wohl keine Haustiere.«, schlussfolgerte sie.

»Nein, die habe ich nicht.«, offenbarte er ihr. »Wir müssen jetzt aber wirklich gehen, sonst könnte der Mann bald wiederkommen.«, versuchte der Junge mit den Silberaugen sie zu überreden. »Bitte, komm mit mir. Bevor es wieder gefährlich für uns wird.« Alois streckte Lia seine Hand entgegen – das Silber bedeckte nun ein dreiviertel des Teiches.

»Alois, ich bin dir sehr dankbar, dass du mir geholfen hast, aber in der Nähe von hier wohnen Nachbarn von mir zu denen ich gehen kann. Da bin ich bestimmt sicher. Und jetzt entschuldige mich, ich muss meinen Kater suchen.« Lia wollte gerade loslaufen, als der graue Kater laut miaute und ihr in die Arme sprang. In seinem Fell klebte noch ein wenig Blut, welches vermutlich von der Nase des fremden Mannes stammte.

»Da bist du ja!«, lachte Lia freudig. »Geht es dir gut?« Alois stieß einen genervten Laut aus, packte Lia wieder am Arm und riss sie mit all seiner Kraft in den Teich. Lia japste, als das kalte Wasser durch ihre Klamotten drang. Henry schien es noch weniger zu gefallen, er fauchte und trat mit seinen vier Pfoten um sich. Unterdessen hatte das Silber der einstigen Perle das Wasser vollständig gefärbt und Lia wurde von einem silbernen Strudel erfasst und in die Tiefe gezogen.

»Du kannst die Augen jetzt wieder aufmachen. Wir sind da.«, sagte Alois amüsiert. Lia öffnete ein Auge einen Spalt, blinzelte und schließlich öffnete sie ihre Augen ganz. Es war momentan fast stockdunkel. Der Himmel war wolkenverhangen, sodass Lia keine Sterne sehen konnte und das Licht des Mondes gedämpft war. Sie stand immer noch im Wasser, jedoch war etwas anders. Sie hörte ein leises Plätschern. Ihr Teich plätscherte aber nicht. Der silberne Strudel!, dachte Lia.

»Ähm, Alois. Wir sind nicht mehr in meinem Teich.«

»Ja, das hast du gut erkannt.«

»Wo sind wir dann?«

»Wir stehen im Thalbach.«

»Aha. Und wo ist dieser Bach?«

»In der Nähe meines Zuhauses.«

»Und wie sind wir da hingekommen? Was war das silberne Strudeldings?«

»Du stellst eindeutig zu viele Fragen.« Alois stieg aus dem Bach.

»Und du gibst mir zu wenige Antworten.« Lia folgte ihm zerknirscht. Sie spielte mit dem Gedanken, einfach abzuhauen, aber diesen Plan verwarf sie rasch. Erstens hatte sie keine Ahnung, wo sie genau war, zweitens hatte sie noch Henry im Arm, der mit der Zeit ziemlich schwer wurde und drittens stand sie irgendwie in Alois Schuld, er hatte sie immerhin vor dem rotäugigen Mann gerettet. Was er wohl mit ihm angestellt hatte, damit er sie in Ruhe ließ? Nein, Lia wollte es lieber nicht wissen.

Kurz darauf sah sie vereinzelte Lichter, die die Umgebung erhellten. Dadurch konnte sie das prächtige Gebäude erkennen, welches sich nun vor ihr aufbaute. Vor lauter Staunen klappte Lia der Mund weit auf. Es war wie ein kleines Schloss, doch nicht ganz so pompös, eher wie ein altes Herrenhaus. Dennoch war das Gebäude ziemlich groß, verfügte über mehrere Etagen und beinahe bodentiefe Fenster. Schneeweiß war der Putz und silberne Ranken als Verzierungen schmückten das gesamte Gebäude. Umgeben war es von riesigen tiefgrünen Tannen und das große Grundstück wurde durch einen vermutlich drei Meter hohen, ebenfalls silbernen und verschnörkelten, Zaun abgegrenzt. Im Hintergrund tat sich ein mächtiges Gebirge mit schneeweißen Gipfeln auf.

Als Lia und Alois das Eingangstor erreichten, erkannte sie, dass die Verschnörkelungen dort dichter wurden und einen großen Kreis bildeten. Bei näherer Betrachtung wurde ihr klar, dass es sich bei der Form um ein Abbild des Mondes handelte. Rings um ihn herum hatte sich ein Drache geschlungen, dessen Schwanzspitze inmitten des Vollmondes ein „T“ bildete. Dicht unter dem Mond ließ sich noch ein Gebirge erkennen sowie eine Art kleiner Fluss, der an einer der Gebirgsspitzen entsprang und unten das gesamte Kunstwerk ausfüllte. In ihm spiegelte sich der Mond. Während Lia die Verschnörkelungen länger betrachtete, wurde ihr klar, dass sie außerdem den Umriss eines Wappens um den Drachen, den Mond und den Gebirgsfluss herum bildeten. Alois legte wie selbstverständlich seine Hand auf das Wappen und es war, als würde dessen Silber noch ein Stück intensiver werden, bevor sich das Tor schwungvoll öffnete.

Wie gebannt schritt Lia ihm voran durch das Tor und als sie das tat, gingen die ebenfalls silbernen Lichter der Laternen an, die den Weg zur großen Eingangstür säumten. Fasziniert lief Lia den Weg entlang und blieb erst vor der Tür des Anwesens stehen. Alois hatte sie eingeholt und starrte sie böse an.

»Was?«, fragte Lia.

»Das ist mein Haus, ich gehe vor.« Energisch öffnete er die Tür mit derselben Methode, die er bereits beim Tor benutzt hatte. Die Tür schwang auf und gab den Blick frei auf ein Treppenhaus, gebaut aus reinem weißen Marmor. Es war ganz schlicht gehalten, bis auf eine silberne Drachenstatue, die in der Mitte stand, an der Stelle an der sich die zwei dort befindenden Treppen über der Statue zu einer vereinigten.

»Alois, du tropfst den Boden voll. Was soll das?!« Aus dem Schatten der oberen Treppe trat ein Mann hervor. Er war groß, schlank und sah ein bisschen so aus wie eine ältere Version von Alois. Er schritt langsam die Stufen herab und fixierte Alois mit einem tadelnden Gesichtsausdruck. Als er näher kam erkannte Lia jedoch einige Unterschiede: Seine silbernen Augen waren blasser und mandelförmig. Außerdem waren seine Gesichtszüge härter und durch seine zurückgekämmten schwarzen Haare zogen sich bereits silbrige Strähnen.

»Entschuldige, Vater.« Alois blickte zu Boden, doch als Lia ihn ansah, waren seine Klamotten bereits trocken.

»Und sie? Hast du nicht daran gedacht, dass sie auch nass ist? Wie unfreundlich du doch bist. Eine einzige Enttäuschung.« Die Augenbrauen, die so schwarz waren wie die Haare des Mannes, rückten näher zusammen und bildeten eine Zornesfalte. Sogleich spürte Lia, wie ihre nassen Hosenbeine und Schuhe trocken wurden. Das machte sie nur noch verwirrter.

»Vater, ich habe sie gerade noch retten können, jemand war hinter ihr her. Die Kräfte hat ein alter Pfaeux ihr übertragen, er lag tot neben ihr. Ich habe seine Leiche zu dir geschickt.«

»Ich weiß, deshalb bin ich hier.« Der Mann musterte Lia misstrauisch und blitzschnell packte er sie an der Kehle und presste sie gegen die kalte Wand. Dabei ließ Lia Henry los, der zuvor auf ihren Armen geschlummert hatte. Ängstlich eilte er die Treppe hinauf, auf der der Mann zuvor erschienen war.

»Was hast du dem Pfaeux angetan?« Seine silbernen Augen blickten sie wutentbrannt an. Doch Lia konnte so unmöglich antworten. Sie hatte Angst, Angst vor Alois Vater, vor Alois selbst, vor allem, was heute passiert war.

»Sie hätte ihn niemals töten können! Er muss sie ihr freiwillig gegeben haben, du weißt, dass das möglich ist!«, sagte Alois eindringlich zu seinem Vater.

»Das ist nicht möglich! Vielleicht war es das einmal, aber diese Zeiten sind vorbei. Endgültig. Und warum sie, warum hier und warum ein Pfaeux, der letzte verschwand vor Jahren

»Und doch ist es geschehen. Schau dir ihre Augen an. Es besteht kein Zweifel. Lass sie los.«

Diese Forderung überraschte Alois Vater anscheinend. Er erstarrte kurz und endlich löste der Mann seine Hand von Lias Kehle. Japsend atmete sie ein und legte ängstlich die Hände auf ihren Hals, um sich vor einem neuen Angriff zu schützen. Doch Alois Vater hatte nur noch Augen für seinen Sohn. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt, ganz so, als sei er wütend, dass sie Lias Kehle nicht mehr umfassten, oder, als ob er sich darauf vorbereitete Alois zu schlagen. Sein zorniger Blick verriet, dass Alois ihm normalerweise keine Befehle erteilte.

»Woher wusstest du von dem Pfaeux?«, fragte er ihn. Sein Sohn warf ihm einen eindringlichen Blick zu. »Natürlich, natürlich …«, murmelte sein Vater. »Bring sie in eines der Zimmer und dann komm in mein Büro.«, befahl er Alois, während er schon wieder die Treppen hinaufeilte. Alois nickte, sah ihm nach und schluckte, bevor er sich Lia zuwandte.

»Komm.« Alois Stimme war nun wieder ganz sanft und Mitleid schwang in ihr mit. Doch Lia reagierte nicht. Alois streckte ihr aufmunternd eine Hand entgegen. »Du musst keine Angst haben, gib mir einfach deine Hand.« Als Lia nach einer Minute immer noch wie eine Statue dastand, unfähig sich auch nur ein Stückchen zu bewegen, griff Alois nach ihren Armen, ganz so, wie er es im Wald getan hatte. Bei der Erinnerung daran, an den seltsamen rotäugigen Mann, schüttelte es sie plötzlich, als ob ein Stromschlag sie durchzucken würde. Lia nahm die Hände von ihrem Hals und drückte Alois so heftig weg von sich, dass er gegen die Drachenstatue knallte, die groß und protzig in der Eingangshalle stand.

»Hey!«, fauchte Alois und rappelte sich wieder auf. »Da rette ich dir das Leben und so dankst du es mir? Und jetzt – nein! Lia, hör auf damit! Du bleibst hier!«

Lia hatte den Türknauf gepackt und rüttelte an ihm. Vergebens. Dann hämmerte sie an der Tür, trat gegen sie und schließlich warf sie sich dagegen. Alois protestierte zwar lautstark, aber es hatte keinen Zweck.

»Hast du dich jetzt abgeregt?«, fragte er sie nach ein paar Minuten, in denen Lia sich mindestens ein Dutzend blaue Flecken bei ihrem Fluchtversuch zugezogen hatte. Trotzig schmiss sich Lia noch ein-, zweimal an die Tür, obwohl sie längst eingesehen hatte, dass es aussichtslos war. Sie kam hier nicht raus. Vorerst jedenfalls. »Danke. Schön, dass du dich nicht weiter selbst verletzt. Ich habe keine Lust, heute noch mehr Knochen zu flicken. Du kommst hier sowieso nicht raus.« Als ob Lia dies nicht auch schon selbst erkannt hätte. Als Antwort schnaubte sie nur kurz und ignorierte Alois Hand, die er ihr wieder entgegenstreckte.

»Nun gut.« Alois seufzte. »Hier entlang.« Er deutete auf die Treppe und begann sie emporzusteigen. Lia folgte ihm mit demonstrativem Sicherheitsabstand. Sie gingen vorbei an einem riesigen Gemälde und bogen links ab. Der Flur war ebenfalls mit Gemälden gesäumt, aber Alois ging so schnell, dass Lia nicht die Möglichkeit hatte, zu erkennen, was auf ihnen abgebildet war. Bei der vorletzten Tür vor dem Ende des Ganges machte er schließlich halt. »Hier wären wir.« Lia musterte die Tür. Sie war ebenfalls silberfarben und ein eingerollter Drachenkörper bildete den Türknauf. Darüber waren winzig kleine chinesische Schriftzeichen eingeritzt. Lia fuhr mit der Fingerkuppe darüber, bis sie von jemandem unterbrochen wurde.

»Henry!« Das flauschige Fellknäuel schmiegte sich schnurrend an ihre Beine.

»Wie ich sehe, bist du in guter Gesellschaft, weshalb meine nun nicht mehr notwendig ist. Ich werde morgen wieder nach dir sehen. Schlaf gut.« Mit einem leichten Nicken verabschiedete Alois sich und schritt schnell den Gang in die andere Richtung entlang.

»Komischer Typ, komisches Haus, komischer Tag.« Lia schüttelte sich, als ob sie so die Erinnerung loswerden könnte, öffnete die Tür und betrat mit Henry den Raum. Ein schönes schlichtes Zimmer erwartete sie, welches von einem schwachen, aber dennoch ausreichendem Licht erleuchtet wurde. In der Mitte stand ein großes Himmelbett, dessen weiße, halbtransparente Vorhänge an den dunklen Holzpfosten festgebunden waren. Die Wände waren beim ersten Hinsehen weiß, doch wenn man sie genauer betrachtete bemerkte man den silbrigen Schimmer. Es gab noch ein kleines Bücherregal, einen Schrank sowie eine Kommode am Bett, alles in einem dunklen Holzton gehalten und einen dunkelgrünen Sessel. Daneben hing ein großes Bild in einem silbernen Rahmen, das einen ebenfalls silbernen Drachen vor einer Bergkuppe zeigte.

Lia öffnete die Tür, die sich gegenüber von dem Bett befand. Ein kleines Bad erwartete sie. Sie trat zum Waschbecken, welches mit Silberranken verziert war. Im schwachen Licht betrachtete Lia sich im Spiegel, der darüber hing. Sie sah müde, erschöpft und verängstigt aus. Selbst das Braun ihrer Augen schien verändert in der Farbe, aber es war zu dunkel um Näheres erkennen zu können und momentan war es Lia auch egal. Wahrscheinlich war es nur irgendeine Spiegelung von dem ganzen Silber, was sich in diesem Haus anhäufte. Also lief sie zurück ins Zimmer und setzte sich in den Sessel, wo Henry ihr maunzend auf den Schoß sprang. Nachdenklich legte sie den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke, was dazu führte, dass sich ihr Mund verblüfft aufklappte. Denn es war keine gewöhnliche Decke. Das schwache Licht, welches den Raum erhellte, kam von Sternen, die neben lilablauen galaktischen Nebeln zart aufleuchteten.

»Henry, ich will echt nicht wissen, welche Medikamente sie mir in dem Krankenhaus gegeben haben. Die sollte man verbieten. Man sieht komische Dinge.«, raunte Lia dem Kater zu, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte und gleichmäßig schnurrte. Das Schnurren beruhigte sie und die Sterne an der Decke wirkten fast hypnotisch.

»Warte ab, Henry.«, flüsterte Lia im Halbschlaf. »Das sind nur die Medikamente. Oder vielleicht doch ein Traum. Ja, das ist nur ein sehr, sehr seltsamer Traum. Du wirst sehen, er ist bald vorbei.« Müde schmiegte Lia sich noch tiefer in den überaus bequemen Sessel. Er war aus weichem Samt, der sie einlud, einfach liegenzubleiben. Und so schloss sie die Augen und schlief ein.


Pfaeux

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