Читать книгу Pfaeux - K.C. Zwilling - Страница 8

Viertes Kapitel

Оглавление

Kurz darauf erreichten sie eine Tür. Sie sah genauso aus wie die, die zu dem Zimmer geführt hatte, indem Lia die letzten paar Stunden verbracht hatte. Silber, mit einem zum Drachen geformten Türknauf. Selbst die Schriftzeichen waren da, jedoch war sich Lia nicht sicher, ob sie nicht ein wenig anders aussahen, als bei der vorherigen Tür. Noch bevor sie näher darauf eingehen konnte, hob Alois die Hand und klopfte laut.

»Herein.«, rief die Stimme von Alois Vater. Bei ihrem Klang erschauderte Lia innerlich. Sie konnte fast noch spüren, wie seine Hände sich fest um ihre Kehle legten, ganz so, als wären sie immer noch da. Alois öffnete durch eine Drehbewegung des Türknaufes die Tür und ging hinein. Lia zögerte kurz, folgte ihm aber dann. Der Raum, den sie betraten, war an den Wänden mit Bücherregalen gesäumt. Nur eine antike Weltkarte bildete die Ausnahme. Vor einer Fensterfront stand ein großer Schreibtisch. Zwei Lampen darauf sorgten für genug Licht, um den ganzen Raum ausreichend zu erhellen. Hinter dem Schreibtisch saß Alois Vater und blickte mit einer nicht deutbaren Miene auf das, was vor ihm auf seinem Schreibtisch lag.

Lia trat zu Alois, der schon vor dem Schreibtisch stand, und spähte an einem großen Himmelsglobus vorbei auf den toten Pfaeux. Sein einst majestätischer Körper war als kümmerliches farbloses Federkleid auf dem Mahagoniholz zusammengesackt. Bei dem Gedanken daran, dass er für sie gestorben war, um ihr seine Magie zu geben, musste Lia schuldbewusst schlucken. Es vergingen einige stumme Sekunden, in denen man nur das leise Ticken einer fernen Uhr hören konnte, die Lia jedoch ewig lang vorkamen. Schließlich räusperte sich Alois Vater, hob den Blick vom Vogel und stand von seinem Sessel hinter dem Schreibtisch auf. Er ging um den Tisch herum, direkt auf Lia zu.

»Thalbach ist mein Name, Theodor Thalbach.« Er reichte Lia die Hand.

»Lia Lindenlaub.«, erwiderte sie und schüttelte diese widerwillig.

»Ich muss dich bitten, mein Verhalten von vorhin zu entschuldigen.« Seine kalten Silberaugen blickten Lia ernst an. »Normalerweise pflege ich gute Manieren an den Tag zu legen, aber die Zeiten sind schwierig und damit –« Er deutete auf den leblosen Vogel. »habe ich absolut nicht gerechnet. Noch weniger damit, dass ich in meinem Leben noch einmal jemand pfaeuxmagischen sehen würde, geschweige denn, dass sich meine eigenen Augen wieder silbern färben.« Lia runzelte die Stirn. Diese Mimik fing Herr Thalbach auf und wandte sich gleich an seinen Sohn. »Ich nehme an, mein Sohn hat es versäumt, dir auch nur irgendetwas von Bedeutung mitzuteilen.« Er funkelte Alois böse an. Dieser setzte zu einer Antwort an, doch sein Vater war schneller. »Nicht, dass ich so viel Verstand von ihm erwartet hätte …« Die Abschätzigkeit seiner Worte brachten Alois jedoch dazu, etwas zu erwidern.

»Ich wusste nicht, ob du es mir erlaubt hättest, beziehungsweise was du mir erlaubt hättest, ihr mitzuteilen.«, presste er hervor.

»Schweig!« Sein Vater drehte sich wieder zu Lia. »Setz dich bitte, Lia.« Er deutete auf einen leeren Sessel nahe des Schreibtisches und Lia befolgte die Aufforderung. Herr Thalbach begann jetzt langsam durch den Raum zu gehen, während er sprach.

»Es gibt sieben Lichttiere, Wesen, die durch den Einfluss von verschiedenfarbigem Licht vor tausenden von Jahren aus herkömmlichen Tieren hervorgingen. Diese sieben wurden in verschiedenen Gebieten unserer Welt erschaffen und ihre Nachkommen zogen dorthin, wo sie die geeignetsten Lebensbedingungen vorfanden.« Er war bei der Weltkarte angekommen und deutete auf die jeweiligen Gebiete, während er sprach. »Wir befinden uns hier in diesem Anwesen meiner Vorfahren im Süden Deutschlands.« Er zeigte auf die Alpen. »Dort siedelte sich einst der erste Mensch mit Drachenkräften an und seitdem nannte er sich Thalbach.« Lia warf Alois einen unauffälligen Blick zu. Dieser erwiderte ihn und nickte leicht. Baldur hatte also die Wahrheit gesagt. Er war die Person gewesen, von der Herr Thalbach sprach. Währenddessen fuhr Alois Vater fort.

»Durch spezielle Umstände erhielt er vor vielen Jahren durch den Tod eines Drachens auf einem Berg in China dessen Kräfte. So geschah es auch in anderen Teilen der Welt, insgesamt sieben Mal. Als erstes hat ein Phönix seine goldene Magie im heutigen Italien auf einen Mann übertragen. Seine Nachfahren, die Adorazione, leben in Sizilien.« Herr Thalbach zeigte auf die Insel im Mittelmeer und wies dann auf Frankreich.

»In dieser Region kam es zu der Magieübertragung durch ein Einhorn. Seitdem leben die rosaäugigen Ensoleillés dort.« Sein Finger wanderte von Frankreich aus gen Osten und er umkreiste das Meer zwischen Estland und Finnland.

»Als einst Narwale aus den Polargebieten hierherkamen, bekam der erste Valtamerison seine blaue Kraft. Währenddessen kam es auch in Irland zur Kraftübertragung der grünen Hippogryhmagie auf einen Mann. Seitdem wohnt die Familie der Greenlights dort.« Herr Thalbach deutete kurz auf Irland, um sogleich mit dem Finger von der Ost- zur Westküste Afrikas zu fahren.

»In Äthiopien wurde dann die türkisfarbene Magie durch einen magischen weißen Löwen auf eine Frau übertragen, deren Nachkommen sich Nguvus nennen und heute in Nigeria leben. Über deine Magie, Lia, ist leider nicht sonderlich viel bekannt. Denn sie entstand erst wesentlich später, durch eine Kreuzung zwischen einem Phönix und einem Pfau. Warum, wird spekuliert, die Theorien sind verschieden. Jedenfalls war bekannt, dass sie aus Brasilien stammten.« Jetzt deutete Herr Thalbach auf die Küste des südamerikanischen Landes.

»Die Pfaeuxe und die Menschen, die deren Magie in sich trugen, die Ametista, waren schon immer weniger zahlreich als die anderen Magiefamilien. Sie galten als besonders verletzlich durch ihren Hang zum Pazifismus, denn die spezifische Magie ist immer an den Charakter gebunden. Durch diese Umstände wurden sie zum Hauptziel von etwas, für das wir keinen Namen haben.« Alois Vater hatte von der Weltkarte abgelassen, war weiter durch den Raum geschritten und starrte nun düster aus einem Fenster. »Dieses Wesen ist uns nur als Schatten bekannt. Wir nennen ihn so, weil wir nicht wissen, wer er ist, oder eher gesagt was. Im Laufe der Jahrhunderte verschleppte und tötete er tausende Lichttiere und magiebegabte Menschen, darunter dutzende meiner Freunde, unzählige meiner Familie und zuletzt meine wunderschöne Frau …« Für eine kurze Zeit verstummte er und sein Blick verfinsterte sich noch mehr.

»Der Glanz der Magien wurde zum Fluch für uns alle, bis vor mehr als zehn Jahren der Höhepunkt eintrat und der letzte Pfaeux von der Bildfläche verschwand. Als dies geschah, hörten alle Verschleppungen und Kämpfe dieses Schattenwesens zwar auf, aber danach konnten keine Lichtwesen mehr geboren werden. So wurde beispielsweise ein Einhorn nur noch Mutter eines ganz normalen Fohlens. Zur gleichen Zeit wurden die letzten Ametista getötet und so verloren auch schlagartig all die wenigen verbliebenen magischen Menschen ihre bunten Augenfarben und damit ihre Kräfte.« Herr Thalbach drehte sich von der Fensterfront wieder in Lias Blickrichtung. »So färbten sich an diesem Tag meine Augen und die meines Sohnes Alois wieder braun, bis sie vor wenigen Stunden mit deinem Auftauchen das Silber der Drachenkraft erneut annahmen.« Lia war fassungslos. Das war einfach unglaublich, wie konnte man so etwas Kostbares wie die Magien nur missbrauchen und sogar zerstören? Eines erschreckte sie besonders. Diese wunderschönen, bunten Augenfarben hatten all die Menschen erst durch sie wiederbekommen. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, und damit auf den toten Vogel. Nein, nicht durch mich, korrigierte sie sich. Alois Vater fiel ihre Blickrichtung auf.

»Ja, es ist äußerst seltsam, dass sich eines dieser schönen Tiere jetzt bei uns befindet und noch mehr, dass es gelebt hat und es geschafft hat, vor seinem Tod seine Kräfte weiterzugeben. Niemand hat damit rechnen können, es ist ein wahres Wunder, das bewahrt werden muss.«

»Warum … warum ich?« Damit sprach Lia die Frage aus, auf die sie hoffte, endlich eine Antwort zu finden.

»Ich wünschte, dass ich dir das beantworten könnte. Zufall würde ich sagen.« Seine blassen Silberaugen strahlten unergründlich. »Aber es könnte auch anders sein.« Herr Thalbachs Stimme war viel sanfter und mitfühlender geworden. Er wollte Lia augenscheinlich nicht zusätzlich einschüchtern. »Ich bitte dich jedoch, erst mal hier zu bleiben. Ich werde nach Antworten suchen und mich mit den Oberhäuptern der anderen Magien beraten.« Er wandte sich befehlshaft an seinen Sohn, der immer noch still neben dem Schreibtisch stand und allem aufmerksam gefolgt war. »Alois, sorg dafür, dass sich unser Gast wohlfühlt.« Alois nickte. Plötzlich klopfte jemand laut an die Tür des Büros.

»Herein!«, bat Alois Vater. Sogleich öffnete sich die Tür und ein Junge streckte seinen wuscheligen Kopf in das Zimmer. »Ares! Komm rein.«, rief Herr Thalbach erfreut. Freudestrahlend ging er zu Tür und geleitete den Jungen namens Ares in sein Arbeitszimmer. Lia musterte ihn und er kam ihr unwahrscheinlich bekannt vor, obwohl sie ihn zum ersten Mal sah. Ares war ungefähr so groß wie Alois, doch sonst sah er komplett anders aus. Aus seinem Kopf quollen große, tief goldblonde Locken, die gleiche Farbe hatten seine Augen und selbst seine Haut fuhr damit fort, denn sie war braun gebrannt, was an einen Goldton erinnerte. Er steckte in einem unauffälligen grauem Pyjama und war barfuß, was sein goldenes Erscheinungsbild zusätzlich noch mehr verstärkte. In all dem Silber, was sich wie ein roter Faden durch das Haus zog, wirkte er fast ein wenig fehl am Platz.

Die Frau auf dem Gemälde, schoss es Lia durch den Kopf. Ares sah ihr unglaublich ähnlich. Waren sie etwa verwandt? Aber was machte er hier bei der Silbermagie des Drachens, wenn seine Magie, die goldene, die Magie des Phönixes aus Sizilien in ihm steckte? Ein unerwarteter Ton riss sie aus ihren Grübeleien. Miau, erklang es. Und noch einmal, miau. Erst dann erkannte Lia ihren Kater Henry, der sich zufrieden an die Brust des Jungen gekuschelt hatte. Er hielt den Kater fest umklammert und streichelte mit der einen Hand sanft über sein langes, zerzaustes Fell.

»Ich – ich habe eine Katze gefunden.«, stotterte der Junge. Doch seine Aufmerksamkeit war ganz woanders. Er starrte seinen Vater entgeistert an, blickte zu Alois, guckte noch verwirrter und als er Lia ansah, wirkte er völlig durcheinander.

»Lia, das ist mein anderer Sohn, Ares.« Herr Thalbach klopfte ihm stolz auf die Schulter, von Ares Verwirrung hatte er wohl nichts mitbekommen. Lia legte leicht den Kopf zur Seite und suchte nach Ähnlichkeiten zwischen Ares und seinem Vater, aber sie konnte absolut nichts finden. Er war wohl ganz nach seiner Mutter gekommen, was die hübsche Frau auf dem Gemälde sein musste.

»Und das ist unser Gast, Lia, sie –«, begann sein Vater, aber Ares unterbrach ihn.

»Ihre Augen! S-si-sie sind LILA!« Mit offenem Mund starrte er seinen Vater an. »Und eure!«, seine Augen waren so weit aufgerissen, dass sie mindestens doppelt so groß wie normal aussahen. »SILBER!«, japste er und blickte abwechseln zu seinem Bruder und zu seinem Vater.

»Und deine sind wieder golden.«, sagte Alois trocken. Das brachte das Fass bei Ares zum Überlaufen. Er ließ erschrocken Henry los, der unsanft auf den Boden knallte. Ärgerlich maunzend sprang er zu Lia auf den Schoß und rollte sich darin beleidigt zu einer Kugel zusammen. Inzwischen hatte Ares einen silbernen Kelch gepackt, den er als Spiegel benutzte. Alois Worte sah er bestätigt und stellte den Kelch zitternd wieder ab.

»Die Magien sind zurück?«, fragte er seinen Vater ungläubig.

»Ja.«, bestätigte dieser.

»Wie das denn?« Ares raufte sich die Haare.

»Das ist die Frage, die ich momentan versuche zu klären. Lia,« Herr Thalbach drehte sich zu ihr um. »du bist jetzt in ausgezeichneter Gesellschaft.« Er nickte zu seinem neu dazugekommenen Sohn. »Wenn ihr mich entschuldigen würdet, ich muss jetzt gehen, um Informationen zu sammeln.« Herr Thalbach nickte ihnen zu und verließ den Raum. Ares setzte sich neben Lia in einen Sessel. Er blickte sie mit seinen Goldaugen fragend an.

»Wie hast du diese Augenfarbe bekommen?« Als Antwort deutete Lia auf den toten Vogel auf dem Schreibtisch, was Ares wieder verwirrt dreinblicken ließ.

»Auch noch ein Pfaeux … da wacht man eines Tages durch eine fremde Katze auf und alles ist anders.«, seufzte er. Lia streichelte den Kopf ihres Katers, der misstrauisch mit seinem Blick eine Ecke des Raumes taxierte.

»Ich kann dir versuchen, zu erklären, was mit mir geschehen ist.«, bot sie Ares an. Das Gold seiner Iris erstrahlte dankbar.

»Das wäre super.«, nahm er ihr Angebot an. Und so begann Lia ihm zu erzählen, wie erst ihr Haus abgebrannt war, sie anschließend vom Krankenhaus davongelaufen war, von dem Pfaeux, dem rotäugigen Mann im Wald bis sie zu Alois kam und ihrer Ankunft hier. Baldur ließ sie selbstverständlich aus. Als sie geendet hatte, schienen schon die ersten Sonnenstrahlen durch die Fensterfront und erhellten so das dunkle Arbeitszimmer. Ares grübelte noch über dem, was Lia ihm eben erzählt hatte, nach. Dann zog er nachdenklich die Augenbrauen zusammen.

»Du hast gesagt, dass der Mann, der dich im Wald verfolgt hat, rote Augen hatte.«, sagte er nachdenklich. »Ich dachte immer, rote Augen gibt es nicht.« Ares sah Alois entgeistert an.

»Das dachte ich auch, aber ich habe sie selbst gesehen.«, bestätigte Alois. Damit räumte er Lias aufkeimende Zweifel beiseite, sie hätte sich geirrt.

»Lia, erzähl das mit den roten Augen erst mal nicht weiter.«, mahnte er sie.

»Wieso nicht?«, fragten sie und Ares wie aus einem Mund.

»Du musst aufpassen, wem du was erzählst.«

»Warum sollte sie hier aufpassen, in diesem Haus wohnt doch praktisch niemand. Oder meinst du etwa, sie hätte es mir nicht erzählen sollen?« Ares sah gekränkt aus.

»Ich möchte damit nur sagen, dass sie vorsichtig sein soll. Und Ares, du weißt selbst, dass du nichts für dich behalten kannst. Zum Beispiel erzählst du es bestimmt Nevio.« Doch Ares unterbrach seinen Bruder.

»Weißt du Alois, nur weil ich keine Mondkraft habe, heißt das nicht, dass ich dumm bin. Ich weiß ganz genau, wem ich was anvertrauen kann und was nicht.«, fauchte er. Lia war das alles zu viel auf einmal. Die ganzen neuen Informationen und dann stritten die beiden auch noch.

»Ihr seid Brüder, oder? Auch wenn eure Augen eine andere Farbe haben.«, versuchte sie das Thema zu wechseln. Es funktionierte. Die beiden hörten auf zu streiten und wandten sich Lia zu.

»Zwillinge sogar.«, erklärte Alois. Ares nickte bestätigend. Damit hatte Lia nun absolut nicht gerechnet. »Natürlich zweieiig.«, fuhr Alois fort. Lia betrachtete sie abwechselnd. Aber bis auf die ähnliche Größe war praktisch alles an ihnen verschieden. Blasse und braun gebrannte Haut, helle und dunkle Haare, lockig und glatt, goldene und silberne Augen. Die Brüder waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, wie Feuer und Wasser.

»Ja, die Ähnlichkeit ist so offensichtlich, manchmal weiß ich selbst nicht, wer ich bin.«, lachte Ares. Für diesen Kommentar kassierte er einen genervten Seitenblick seines Bruders. »Aber hey, jetzt wo wir alle bunte Augen haben, heißt das doch, dass wir wieder zaubern können!«, rief Ares euphorisch.

»Du hast seit über zehn Jahren nicht gezaubert, du solltest es langsam angehen lassen.«, erklärte ihm sein Bruder.

»Gut, dann fängt unser Pfaeuxmädchen hier an. Komm schon, zeig was du kannst!« Ares sah Lia aufmunternd an.

»Zaubern? Ich?« Lia war absolut begeistert von der Vorstellung, auch wenn sie ein wenig Angst hatte bei dem Gedanken, dass sie in der Lage sein sollte, zu zaubern.

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«, kritisierte Alois.

»Ach Brüderchen. Sei kein Spielverderber.«, spielte Ares den Einwand seines Bruders herunter. Dann wandte er sich an Lia. »Lia, glaub ihm kein Wort. Ich kann dir helfen, schließlich haben wir beide die Sonnenmagie.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Lia lachte.

»Okay. Brauche ich irgendwas, einen Zauberstab vielleicht? Oder soll ich etwas Bestimmtes dabei sagen?«, fragte sie.

»Nein, zum Zaubern brauchst du keine Hilfsmittel.«, lachte Ares.

»Stell dir einfach vor, was du bezwecken willst. Zaubersprüche gehören zur höheren Magie, beginne besser erst mal klein.«, fügte Alois hinzu. Und Lia tat es. Sie dachte fest daran, dass sie zaubern konnte. Und es passierte – einfach nichts.

»Vielleicht, wenn du die Augen zumachst?«, riet ihr Ares, nachdem sie eine Minute ganz stumm dagesessen hatte. Lia probierte es, erfolglos.

»Ach, macht nichts. Ich probiere es mal.« Ares schloss selbst die Augen. Es passierte ebenfalls nichts. Alois schnaubte verächtlich. Sein Zwilling ballte daraufhin die Hände zu Fäusten und ein lauter Rums erfüllte die Stille.

Umgeben von einem leichten Goldnebel war das Bücherregal, welches ihnen gegenüberstand, zu Boden gekracht. Dutzende von Büchern lagen auf dem Boden verstreut. Hustend von dem aufgewirbelten Staub kam Herr Thalbach wieder ins Zimmer.

»Alois! Was hast du angestellt!«, keifte er und rannte zu dem umgefallenen Bücherregal, aus dem er anfing, Bücher zu retten. Lia machte Anstalten, ihm zu Hilfe zu kommen, wurde aber von einer abweisenden Geste Herr Thalbachs aufgehalten.

»Eigentlich war ich das, entschuldige Papa. Ich wollte Lia nur zeigen, wie Magie funktioniert, aber dabei ist meine Magie außer Kontrolle geraten.«, sagte Ares schuldbewusst. Sein Vater, der die Arme voller ausgerissener Seiten und zerknautschter Bücher hatte, hielt inne.

»Ach so.« Sein Blick wurde weicher. »Das ist doch gar nicht schlimm, für den Anfang war es sogar gut.« Er lächelte seinem Sohn aufmunternd zu. »Es ist früh, du hast auch viel zu kurz geschlafen, mein Sohn. Ruht euch erst mal aus und schlaft noch ein wenig.«, fügte er mit einem Blick auf Lia hinzu. Ares stand auf. Lia hob Henry hoch und folgte ihm zur Tür, auch Alois folgte ihnen, doch weit kam er nicht.

»Alois!«, rief sein Vater befehlshaberisch. »Räum das auf.« Die Silberaugen von Alois verengten sich, und im Bruchteil einer Sekunde stellte sich das Regal wieder auf, die Seiten und Bücher, auch aus den Armen seines Vaters, tanzten durch die silberne Funkenluft und fügten sich an ihren Ursprungsort, bis alles an Ort und Stelle war, ganz so, als wäre das Regal nie umgefallen. Schweigend schritt Alois aus dem Raum und ließ die anderen drei tief beeindruckt zurück.

»Nun, das ist Magie.«, raunte Ares Lia leise zu. Sie war sprachlos. Wenn das Magie war, wenn man einen Gedanken ohne jegliche Bewegung auf der Stelle umsetzen konnte, dann wollte sie das auch können. Jedoch fiel ihr etwas ein, was sie momentan noch wichtiger fand.

»Herr Thalbach?«, fragte sie in die Stille hinein.

»Was ist denn, Lia?«

»Wäre es möglich den Pfaeux zu beerdigen?« Ihr Blick ruhte auf dem Vogelkadaver, welcher einst ebenso gestrahlt hatte, wie das Lila in ihren Augen. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich mit ihm so verbunden fühlte. Herr Thalbach überlegte.

»Das ist eine gute Idee, diesem Lichttier gebührt die letzte Ehre. Jedoch müssen wir diese verschieben. Du musst wissen, dass auch die anderen Oberhäupter der Magien sich für ihn interessieren werden und aus diesem Grund habe ich ihn bereits konserviert. Sonst nähmen wir uns selbst unsere Glaubwürdigkeit.« Er lächelte beschwichtigend. »Wenn der Tag gekommen ist, werden wir ihn beerdigen. Ich verspreche dir, sein Körper wird nicht zu Schaden kommen. Aber nun ist es wirklich Zeit für euch beide, euch auszuruhen.«

Nun war es Mittag. Lia hatte den Rat befolgt und hatte versucht, zu schlafen. Doch sie konnte es einfach nicht. Unruhig starrte sie an die Decke über ihrem Himmelbett, die anscheinend nur abends den Weltraum abbildete. Henry schien der ganze Trubel jedoch nichts auszumachen. Friedlich döste er neben Lias Schulter. Beiläufig fragte sich Lia, wie es Ella ging. Ob sie schon wieder aus dem Koma erwacht war? Wann würde sie sie wiedersehen können? Abermals ließ sie ihre Hände durch die Luft gleiten, aber es kam einfach kein einziger lila Funke daraus hervor. Immer wieder hatte sie versucht, etwas Magie aus sich herauszukitzeln, aber es hatte nicht geklappt. Plötzlich bohrten sich Henrys Krallen in ihre Schulter.

»Zaubern ist schwer.«, seufzte eine ihr mittlerweile bekannte Stimme. Der Geisterkörper Baldurs erschien am Fußende ihres Bettes. Lia richtete sich auf und zog Henry seufzend aus ihrer Schulter. Er konnte sich wahrscheinlich einfach nicht an die Tatsache gewöhnen, dass Baldur ein Geist war. Er machte ihm augenscheinlich Angst.

»Warum klappt es denn nicht.«, jammerte sie enttäuscht.

»Weil Magie nicht so ist, wie in den Büchern und Filmen, die sich die magielosen Menschen ausdenken. Es braucht Zeit und Kraft, um sich so konzentrieren zu können, dass vor deinem inneren Auge wirklich das entsteht, was sich dann als Magie zeigt. Während meiner Zeit hier auf der Erde habe ich schon manche schwere Verletzung und sogar den ein oder anderen Tod durch Magie miterlebt. Wegen Dummheit, Unwissen oder durch Erschöpfung. Du musst wissen, dass das Zaubern dem Körper Energie raubt.«, erklärte ihr Baldur. »Dir fehlt einfach Übung.«, beschwichtigte er sie. Lia war nicht überzeugt.

»Ares und Alois haben ihre Kräfte auch ewig nicht gehabt, trotzdem konnten sie sie einsetzen.« Lia vergrub den Kopf in einem Kissen. Da gab es auf einmal Magie, doch sie schaffte es nicht, diese zu benutzen.

»Mit Alois solltest du dich nicht vergleichen, er war schon als Kleinkind in dieser Hinsicht sehr begabt. Und was Ares angeht, du hast im Büro ja selbst gesehen, wie gut er seine Kräfte unter Kontrolle hat …«, gluckste Baldur.

»Du warst dabei?«, murmelte Lia ungläubig durch ihr Kissen.

»Ja, so etwas lasse ich mir doch nicht entgehen. Aber sei unbesorgt, ich treibe mich natürlich nicht an unpassenden und privaten Orten herum.«, fügte er hastig hinzu.

»Na, da bin ich aber beruhigt.«, lachte Lia. »Du als Geist kannst doch auch noch zaubern, nicht wahr?«, fragte sie.

»In der Tat.« Baldur schnippte mit den Fingern und Lia flog das Kissen vom Kopf. »Nur sind meine Kräfte weniger stark als die der Lebenden.«

»Wie war das damals eigentlich?« Während sie die Frage stellte, rappelte sich Lia auf.

»Was soll damals wie gewesen sein?«

»Wie war das, als du deine Kräfte bekommen hast?« Baldur wurde starr. Sofort schämte sich Lia für ihre Neugier. Natürlich wollte er darüber nicht reden, schließlich war ein Drache für ihn gestorben. Aber obwohl Herr Thalbach das Thema bereits kurz angeschnitten hatte, fragte sie sich doch, was einen Drachen zu so einem Schritt bewegte. »Entschuldige. Du musst es mir nicht erzählen, es war unhöflich von mir, dich danach zu fragen.«

»Nein, nein. Es ist schon gut.« Langsam begann sich Baldur wieder zu regen. Er überlegte kurz und setzte sich dann auf den samtigen grünen Sessel, um ihr seine Geschichte zu erzählen. »Ich war ein einfacher Kaufmann, ein Händler, und mein Weg führte mich einst nach Asien. Dort, auf einem Marktplatz am Fuße eines Berges, hörte ich Legenden von Drachen, die dort angeblich im Gebirge lebten. Doch niemand hatte es je gewagt, sich ihnen zu nähern. Das machte mich natürlich neugierig, daher machte ich mich auf die Suche nach ihnen und in einer Nacht, da sah ich sie.« Seine Augen leuchteten begeistert auf, gerade so, als ob er die Lichttiere erneut zum ersten Mal gesehen hätte.

»Es waren drei. Riesengroße echsenhafte Wesen, mit silbrigen Schuppen. Aus Ehrfurcht näherte ich mich ihnen nicht, sondern ging zurück zu dem Marktplatz. Euphorisch wie ich war, erzählte ich am nächsten Morgen mein Erlebnis, mit schrecklichen Folgen …« Baldur seufzte und rieb sich die Hände. »Leider war einer meiner Zuhörer skrupellos. Erst sagte er mir nur, dass er alles dafür geben würde, solche Tiere einmal mit seinen eigenen Augen zu sehen und so führte ich ihn zu den Drachen. Aber was er wirklich wollte, war ein toter Drache, denn es gab Menschen, die damals unvorstellbar viel Geld für einen Drachen oder bloß einen winzigen Teil von einem bezahlt hätten. Noch bevor ich ihn aufhalten konnte, rannte er mit gezücktem Messer auf einen zu.« Angewidert schüttelte Baldur den Kopf. »Natürlich war das nutzlos im Vergleich zu den stählernen Schuppen und er wurde von einem der drei zermalmt.« Lia schluckte.

»Und dich haben sie am Leben gelassen?«, wunderte sie sich.

»Naja, sie hätten mich sofort auf die gleiche Weise getötet, wenn da nicht Yue gewesen wäre.« Er lächelte verträumt.

»Yue? War sie ein Drache?«, fragte ihn Lia.

»Ja, ein wunderschönes Drachenmädchen.«, bestätigte Baldur Lias Vermutung. »Sie setzte sich für mich ein und so wurde ich lediglich eingesperrt. Und sie besuchte mich, jeden Tag. Lichttiere können die menschliche Gestalt annehmen, aber dann können sie ihre Kräfte nicht mehr benutzen. Yue hatte so wunderschöne braune Augen …«, schwärmte er.

»Wurdest du freigelassen und bist mit ihr zusammengekommen?«, hoffte Lia.

»Das wäre wunderbar gewesen. Aber es verlief anders. Das Verschwinden von mir und dem Händler sorgte wahrscheinlich für Gerüchte unter den anderen Händlern und die Aussicht auf teure Drachenschuppen ließ sie ihre Angst vergessen … nach ein paar Wochen kamen sie massenweise. Sie griffen uns an. Die Drachen wollten fliehen, doch Yue blieb treu bei mir. Sie wurde vor meinen Augen umgebracht.« Baldur zitterte vor Wut bei dieser Erinnerung.

»Zu dem Zeitpunkt hatte Yue wieder ihre Drachengestalt angenommen. Und was taten die Händler? Schlachteten sie ab wie irgendein Vieh! Jedoch befreiten sie mich, denn sie wussten nicht, dass sie für mich ebenfalls die Feinde waren. Als Yues Vater, Amar, und ihr Bruder, Ryu, aus Rache zurückkamen, wurden auch sie angegriffen. Aber diesmal wollte ich nicht tatenlos zusehen. Ich war bereit mein Leben für sie zu opfern und verteidigte sie, bis kein Händler mehr übrig war.«, berichtete er. Lia schlug sich erschrocken die Hände vor den Mund.

»Erzähl weiter!«, bat sie Baldur.

»Aus Dankbarkeit schenkte mir Ryu seine Kraft, ohne seine Schwester wollte er nicht länger leben und er war beeindruckt von meinem Mut. So zog ich zurück nach Westen, mit silbernen Augen und dem Willen, im Gedenken an Yue und Ryu eine Dynastie aufzubauen, die ihnen würdig ist. Bald darauf gründete ich hier, am Fuße eines Berges, mein Silberreich, dort, wo der silbrig schimmernde Thalbach entspringt. So wurde ich zu dem, was ich noch heute bin: Baldur Thalbach.«

»Das ist … grausam.« Lia starrte schockiert auf die Bettdecke. »Warum muss Magie immer so grausam sein?«

»Ja, ich wünschte, es wäre anders gekommen. Ich wünschte, ich hätte meine Yue bekommen und nicht die Drachenkraft. Es sind viele zu Tode gekommen, doch aus Grausamkeit kann manchmal etwas Wunderbares entstehen. Du solltest die Magien trotz alledem nicht als Fluch, sondern als Segen betrachten.« Auf einmal hielt er inne und es sah so aus, als bohrte sich sein Blick durch den Boden. »Hast du Lust noch mehr Magier kennenzulernen?«, fragte er Lia.

»Sag bloß, du hast jetzt durch den Fußboden geguckt.«, antwortete sie ungläubig.

»Sie stehen in der Eingangshalle.« Baldur ging in seinem leicht schwebenden Gang zur Tür, bevor Lia überhaupt genug Zeit hatte, über das, was er ihr eben erzählt hatte, richtig nachzudenken. Bereits kurz bevor beide an der Doppeltreppe der Eingangshalle angelangt waren, hörte sie Stimmen. Lia erkannte die von Herr Thalbach, aber da waren noch zwei andere, zwei unbekannte Stimmen. Sie sprachen kein Deutsch, sondern schnelles Französisch.

»Ensoleillés.«, stellte Baldur fest.

»Wer sind sie nochmal?«, wollte Lia wissen.

»Sie stammen aus Frankreich und tragen die rosa Sonnenmagie der Einhörner in sich.«, klärte er Lia auf. »Oh, da kommen sie auch schon.« Baldur deutet auf die drei Personen, die auf Lia zuliefen. »Zeit zu verschwinden.« Er zwinkerte Lia zu und begann zu verblassen, bis er schließlich komplett unsichtbar geworden war. Noch bevor sie sich Gedanken darüber machen konnte, ob er trotz der Unsichtbarkeit noch anwesend war, standen die drei vor ihr.

»Lia! Schön, dass du hier bist, um unsere Gäste zu treffen.«, lobte sie Herr Thalbach.

»Oui! C'est vrai, elle a les yeux violets. Incroyable!«, hauchte ein Mann entzückt, als er Lia sah. Der Mann war schätzungsweise Mitte vierzig, trug einen beigen Mantel, hatte helle Haut, weizenblondes, leicht gelocktes Haar und blassrosafarbene Augen.

»Magnifique!«, sagte das zierliche Mädchen, welches neben ihm stand. Ein langer, geflochtener, gelbblonder Zopf hing ihr weit über die rechte Schulter. Und ihre Augen waren so besonders, dass sie ebenfalls mit dem Wort wunderschön beschrieben werden konnten. Sie waren nicht blassrosa, sondern intensiv pink.

»Darf ich vorstellen, Lia, das sind Olivier und seine Tochter Rosa, Angehörige des Hauses der Ensoleillés. Olivier, Rosa, das ist Lia.«, stellte er die drei einander vor.

»Bonjour!«, flöteten sie im Chor und gaben Lia je zwei Begrüßungsküsschen auf die Wangen.

»Olivier, Sie haben sicher viele Fragen und auch ich habe Dinge zu klären. Ich danke Ihnen beiden natürlich vielmals, dass Sie auf Geheiß ihres Oberhauptes so schnell kommen konnten. Wenn Sie mir bitte in mein Büro folgen würden.« Danach wandte sich Herr Thalbach an Lia und Rosa. »Ihr müsst uns entschuldigen, jedoch haben wir noch einiges zu bereden. Geht wohin ihr wollt in diesem Haus, aber verlasst es bitte nicht.«, mahnte er die beiden Mädchen.

»Bis später.«, verabschiedete sich Olivier in einem leichten französischem Akzent von Lia und seiner Tochter und folgte Herr Thalbach, der bereits rechts in einem Gang verschwunden war. Das Mädchen namens Rosa lächelte Lia freundlich an.

»Hast du Hunger? Ich sterbe beinahe!«, fragte Rosa in einem perfekten Deutsch, ohne jeglichen Akzent.

»Und wie!« Lia war gar nicht aufgefallen, wie leer ihr Magen war. Sie hatte seit Stunden nichts mehr gegessen. Auch war sie sehr froh darüber, dass Rosa Deutsch konnte, so musste sie nicht ihr schlechtes Schulfranzösisch einsetzen. »Leider weiß ich nicht, wo hier die Küche ist.«, sagte sie bedauernd.

»Ach, die finden wir schon.«, sagte Rosa optimistisch.


Pfaeux

Подняться наверх