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Drittes Kapitel
ОглавлениеAls Lia aufwachte, war es immer noch dunkel. Sie hatte unruhig geschlafen und nicht besonders lange. Auf dem Himmelbett erwartete sie ein Stapel frischer Klamotten und auf dem kleinen Tischchen neben dem Sessel ein Tablett voller Essen. Alois hatte also sein Versprechen gehalten und nach ihr gesehen, jedoch war er weder da geblieben um Lia ihre zahlreichen Fragen zu beantworten, noch hatte er es versäumt, die Tür offenzulassen. Sie war sogar verschlossen.
Nach einer Dusche war Lia auf das Bett umgezogen. Die frischen Klamotten waren kuschelig weich und mittlerweile hatte sie fast das ganze Essen aufgegessen. Aus dem schmalen Bücherregal hatte sie sich mehrere Bücher gezogen und sie auf dem Bett ausgebreitet. Leider waren alle voller chinesischer Schriftzeichen und Lia konnte absolut gar nichts verstehen. Vermutlich hatte Alois Vater Wurzeln in China, jedenfalls deutete seine mandelförmige Augenform auf eine asiatische Abstammung hin. Doch Lia war nicht bekannt, dass manche Menschen aus Nordostasien solch seltsame silberne Augen besaßen. Natürlich konnten es auch Kontaktlinsen gewesen sein, aber das würde nicht den Rest erklären. Gedankenverloren strich sich Lia über das Bein, welches ein paar Stunden zuvor wahrscheinlich gebrochen gewesen war. Sie biss von ihrem Brötchen ab und durchblätterte das große Buch direkt vor ihr. Die vergilbten Seiten wirkten so zerbrechlich, dass Lia fürchtete, sie könnten jeden Moment zerreißen, doch es war das Einzige der Bücher, das außer der Schrift noch über vereinzelte Bilder verfügte.
»Schon wieder Drachen.«, raunte Lia Henry zu, der auf einem der Bücher lag und mit seiner rosafarbenen Zunge seine Vorderpfote putzte. Denn die meisten Bilder zeigten silberfarbene Drachen. Drei große flogen auf dem Bild, welches Lia gerade aufgeschlagen hatte, über eine schneebedeckte Bergkuppe.
Gelangweilt blätterte Lia um, voller Erwartung, wieder auf die immer gleichen silbernen Drachen zu stoßen, aber zu ihrer Überraschung war dem nicht so. Denn das nächste Bild zeigte ein Wesen, welches Lia bekannt vorkam, jedoch leicht abgewandelt. Es war ein Narwal, oder jedenfalls so etwas in der Art. Sein Rücken war schwarz und der Bauch schneeweiß. Ein silberner Streifen zog sich auf jeder Seite quer über seinen Körper, aber das war nicht das Auffälligste an ihm. Sondern die Tatsache, dass er nicht ein, sondern zwei langgedrehte Hörner besaß.
Lia blätterte durch das Buch und stieß auf weitere besondere Bilder. Auf den Buchseiten wurde ein strahlender Vollmond, eine goldene Sonne, ein Meteor mit seinem leuchtenden Schweif und grünliche Polarlichter abgebildet. Dazwischen fand sie weitere Fantasiewesen, solche, die sie kannte und nicht kannte. Da war ein stattlicher Phönix mit Federn, die aus reinstem Gold gemacht zu seien schienen. Ein schneeweißes Einhorn mit pastellrosafarbenem Haar und einem goldenen Horn, inmitten eines Blumenmeeres auf einer saftig grünen Wiese. Ihm folgten ein graubrauner Hippogryph mit einem goldenen Schnabel und Krallen, der über grasbewachsene Hügel flog und ein wunderschöner, majestätischer weißer Löwe, dessen Fell silbern schimmerte. Seine Augen waren von einer hypnotisierenden türkisenen Farbe. Den Löwen betrachtete Lia besonders lang, weil sie den Blick nicht von diesen fantastischen Augen abwenden konnte. Zwar war es wieder eine absolut unnatürliche Augenfarbe, trotzdem unglaublich faszinierend und wunderschön. Die gleiche Farbe der Augen hatte auch die Schrift. Mit jedem Tier hatte sie gewechselt. Von Silber zu Blau, gefolgt von Gold und Rosa und schließlich Grün bis hin zu Türkis beim Löwen.
»Silber, Blau, Gold, Rosa, Grün, Türkis.«, wiederholte Lia und blätterte das Buch erneut durch. »Aber wo ist …«, murmelte sie vor sich hin. Und dann sah sie, wonach sie gesucht hatte. »Lila.«, hauchte sie. Die Schrift war nun tief lavendelfarben und das Bild, was sich zwischen die kunstvollen Schriftzeichen mischte, raubte Lia den Atem. Da war er wieder, der seltsame Vogel. Goldene Federn, die sich mit lilafarbenen vermischen und die schillernden, an den äußersten Spitzen silbrigen, Pfauenfedern an den Enden der Flügel und des Schwanzes, deren Innerstes zugleich einen Hauch von Rosa aufwies. Selbst der goldene Schnabel und der gelockte lila Federkamm am Kopf waren abgebildet. Das war er. Der Vogel, der den lilafarbenen Nebel verursacht hatte. Der Vogel, der vor ihren Augen auf unerklärliche Weise gestorben war. Der Vogel, mit den unnatürlichen lilafarbenen Augen.
Vorsichtig strich Lia an seinem bunten Federkleid entlang. Die Pfauenfedern schienen alle anderen Farben der vorherigen Tiere in sich aufzunehmen, ganz so, als wäre dieser Vogel mit all ihnen auf eine bestimmte Weise verbunden. Bei dem Gedanken musste Lia lächeln. Dieses Buch war bestimmt ein altes Märchenbuch oder eine Sammlung von altasiatischen Legenden und Mythen. Es war wunderschön. Gedankenverloren hob Lia den Kopf und blickte direkt in den Spiegel über dem Waschbecken, denn die Badezimmertür hatte sie offengelassen. Und was sie dort sah ließ sie zu Eis erstarren.
Lia kreischte. Das konnte einfach nicht sein, das war nicht möglich! Sie rannte zum Spiegel, sodass ein paar Bücher unsanft auf den Boden sanken und vereinzelte Seiten umknickten. Henry fauchte erschrocken und sprang vom Bett auf den samtigen grünen Sessel, um dort sein Fell weiter zu pflegen. Mit den Händen fest an das Waschbecken gekrallt blickte Lia zitternd hoch in den Spiegel. Dort starrte sie ihr Abbild erschrocken an. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, welches sich an den Enden leicht lockte. Der Sommer hatte ein paar bronzene Sommersprossen auf ihre Nase gezaubert. Ihre Lippen waren voll und rosig und ihre Wangen leicht gerötet. Dichte, schwarze Wimpern umrahmten ihre ebenfalls dunkelbraunen Augen … jedenfalls war das sonst immer so gewesen.
Das Mädchen, das sie aus dem Spiegel ansah, hatte keine dunkelbraunen Augen. Stattdessen waren ihre Augen von einer unnatürlichen Farbe, dennoch waren sie wunderschön und geradezu leuchtend. Diese Augen hatte Lia bisher nur ein einziges Mal gesehen, nämlich bei diesem exotischen Vogel, dem, der auch im Buch abgebildet war. Lias Augen waren nicht mehr dunkelbraun, so wie sie es gewohnt war, nein, sie waren lila.
Mit einem Finger berührte Lia das Glas des Spiegels, nur um sich ganz sicher zu sein, dass es echt war. Dann, nach ein paar weiteren Atemzügen, löste sie langsam den Blick von ihrem Spiegelbild und ging zum Bett, um die Bücher aufzuheben. Sie brauchte einige Anläufe, weil ihre Hände zu sehr zitterten. Der Schock war zu groß. Das farbige Buch mit den Abbildungen hob sie als letztes auf, strich vorsichtig die Buchseiten glatt und schlug die Stelle mit dem Vogel wieder auf. Da war es. Diese Farbe. Dieses Lila. Sie ging mit dem Buch in der einen Hand zum Spiegel, strich sich mit der anderen Hand die Haare aus dem Gesicht und hielt das Buch neben es.
»Richtig geraten, dies ist exakt die gleiche Farbe, junge Dame.«, lobte sie eine unbekannte Stimme. Henry fauchte laut, als er diese vernahm. Lia schrie erschrocken auf und schmiss panisch das Buch in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Aber, aber, Sie müssen doch nicht gleich gewalttätig werden!«, tadelte sie die unbekannte Stimme. Neben dem Sessel trat ein Mann hervor. Er klopfte seine Klamotten zurecht und hob dann das Buch auf, welches hinter ihn gefallen war. Seine Kleidung kam Lia sehr alt vor. Dieser Mann trug eine grüne Kutte, schlichte schwarze Hosen und einen silbernen Gürtel. Er hatte braungraue Haare und – silberne Augen.
»Nicht schon wieder!«, murmelte Lia genervt. Die Tatsache, dass ihr erneut jemand seltsames mit silbernen Augen begegnet war, ließ sie für einen kurzen Augenblick ihre eigene neue Augenfarbe komplett vergessen.
»Entschuldigen Sie bitte, was haben Sie gesagt? Ich habe Sie nicht richtig verstanden. Oh, und dies haben Sie verloren.« Der Mann ignorierte wohl, dass Lia das Buch nicht verloren, sondern sehr bewusst nach ihm geschmissen hatte. Er hielt es ihr hin, aber als sie es nicht beachtete legte er es schnell auf den Bettrand.
»Wer sind Sie? Und wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?« Lia starrte auf die geschlossene Tür. Ob der Mann einen Schlüssel besaß?
»Ach, ich brauche keine Türen.« Der Mann konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Lias Blick glitt zum Fenster. Es war ebenfalls verschlossen. Verwirrt starrte Lia ihn an, was nur dafür sorgte, dass sein belustigtes Lächeln breiter wurde. Plötzlich fiel Lia auf, dass sie die Konturen des Regals durch ihn hindurch erkennen konnte. Zwar schwach, aber trotzdem deutlich genug. Lia lief ein kalter Schauer über den Rücken.
»Ein Gespenst!«, kreischte sie und begann, alles in ihrer Reichweite, hauptsächlich Bücher, auf den Mann zu werfen.
»Also – junge Dame! Ich muss doch sehr bitten!« Er wich ein paar Büchern aus. Der Rest prallte zu Lias erstaunen an ihm ab. »Und beleidigen müssen Sie mich auch nicht! Gespenst, ich?« Der Mann schüttelte sich. Das verwirrte Lia nur noch mehr. Entgeistert starrte sie den Mann an und vergaß dabei komplett, dass sie eigentlich dabei war, ihn mit Büchern zu bewerfen.
»Ich bin ein Geist. Gespenster sind wesentlich durchsichtiger, dazu definitiv nicht farbig, sondern schwarzweiß.« Lia war davon noch nicht überzeugt.
»Und warum sind Sie ein Geist und kein Gespenst?«, hakte sie nach.
»Nun ja. Gespenster sind früher grausame Menschen gewesen. Menschen mit magischen Fähigkeiten. Ihre Seele ist verflucht und auf der Erde gefangen, weil sie schlimme Dinge begangen haben, gewöhnlich Morde. Ihre Getöteten, jedenfalls die, die magisch waren, werden zu Geistern. Sie müssen auf den Tod ihres Mörders warten, dann sind sie frei zu gehen, außer sie wollen noch länger auf der Erde bleiben.« Lia musste das Gesagte erst einen Moment verdauen. Aber nach kurzer Zeit war sie sich sicher, dass alles wohl doch nicht real war. Nach dem Feuer war sie bestimmt wie ihre Pflegemutter Ella ins Koma gefallen. Alles spielte sich eindeutig nur in ihrem Kopf ab.
»Das ist ja eine ganz interessante …« Sie überlegte kurz. »Idee. Aber das alles hier ist sowieso nur ein Traum, den ich bald vergessen werde.« Lia schämte sich ein wenig. Magie und Geister … wie alt war sie? Fünf? Warum träumte sie von so etwas?
»Sie denken, alles ist nur ein Traum?« Der Mann lachte laut auf. Grinsend streckte er ihr eine Hand zur Begrüßung entgegen. »Entschuldigen Sie bitte meine schlechten Manieren, Baldur Thalbach ist mein Name. Ich hoffe, Sie bald davon überzeugen zu können, dass das alles hier sehr wohl real ist. Wären Sie bitte noch so freundlich und würden mir ihren Namen zuvor noch verraten?« Argwöhnisch betrachtete Lia den Geist. Alois und dessen Vater sah er überhaupt nicht ähnlich, doch er hatte ebenfalls diese silbernen Augen. Ob er mit ihnen verwand war? Zögernd sah sie die ausgestreckte Hand Baldurs an. Ob sie sie überhaupt spüren würde, da Baldur doch ein Geist war? Nein, Geister gibt es doch nicht, wies sie sich selbst zurecht. Aber dann siegte ihre Neugier über ihren Verstand.
»Lia. Lia Lindenlaub.« Langsam streckte sie ihm ihre Hand entgegen. Als sie seine berührte, war sie warm und fühlte sich genau wie eine menschliche Hand an. Das hatte sie beim besten Willen nicht erwartet. Erschrocken blickte sie zu Baldur hoch, der ihr einen verschwörerischen Blick zuwarf und dann spürte sie nur noch warme Luft um ihre Hand. Schnell blickte sie herunter. Seine Hand umschloss noch immer ihre. Panisch riss Lia ihre Hand weg – sie ging glatt durch seine hindurch.
»Glauben Sie mir jetzt, dass ich ein Geist bin?« Baldur hob eine Augenbraue. Lia nickte sprachlos. »Seien Sie froh, dass ich kein Gespenst bin. Die können sich nicht wie Geister materialisieren und sind furchtbar kalt.« Baldur verzog das Gesicht. Und sie sind Mörder, fügte Lia schaudernd in Gedanken hinzu. Dann schoss ihr durch den Kopf, dass der Geist vielleicht die Antwort auf die Frage wusste, die sie seit wenigen Minuten brennend interessierte.
»Wissen Sie, wie ich diese … diese Augenfarbe bekam?«, fragte sie zögernd.
»Ich dachte, dass könnten Sie mir erklären!« Baldur schaute Lia verwundert an.
»Nein, nein ich weiß es nicht.«, seufzte Lia enttäuscht.
»Nun ja,« antwortete der Geist, »ich vermute Sie hatten Kontakt mit dem toten Pfaeux, der sich momentan in diesem Anwesen befindet.« Fragend sah Lia ihn an. »Das ist der Vogel.«, beantwortete er Lias unausgesprochene Frage. Sie nickte bestätigend. »Es könnte natürlich sein … aber wieso?« Seine Silberaugen wurden erst groß vor Überraschung, dann verengten sie sich wieder und er legte den Kopf schief. Lia kam diese Szene bekannt vor und langsam begann sie zu verstehen.
»Habe ich diese Augenfarbe von diesem Vogel, diesem Pf… was war es doch gleich?«
»Pfaeux.«, antwortete Baldur ihr langsam. »Ich glaube, dass es so gewesen ist. Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Denn Sie hatten davor keine lilafarbenen Augen nehme ich an?« Lia schüttelte den Kopf.
»Nein, sie waren braun. Dunkelbraun, um genau zu sein.«
»Dunkelbraun …« Baldur lächelte kurz, anscheinend ganz in Erinnerungen versunken. Dann schüttelte er kurz den Kopf, um sich von diesen zu lösen. »Lia, möchten Sie wissen, warum es diese Augenfarben gibt?« Er deutete erst auf ihre Augen, dann auf seine, deren Silber etwas matter und dunkler war, als bei Alois und seinem Vater.
»Ja!« Lias lila Augen blitzten begeistert auf. »Sehr gerne, Herr Geist – oh, ich meine Herr Thalbach, entschuldigen Sie.«
»Wie wäre es mit Baldur, das ist nicht so formal.« Er lächelte und Lia nickte bestätigend. »Na dann, los geht’s!« Plötzlich schwang die Tür lautlos auf, während ein Hauch von Silber sie umgab.
Baldur lief voraus, seine Füße berührten zwar den Boden, aber er schien trotzdem manchmal ein wenig zu schweben. Lia hatte den Verdacht, dass er extra darauf achtete, wie ein Mensch zu laufen, um sie nicht noch mehr zu verwirren, denn das war sie definitiv schon genug. Bald waren sie wieder bei der Doppeltreppe der Eingangshalle angelangt, die sie hinuntergingen, vorbei an der Drachenstatue und rechts in einen weiteren Gang. Mondlicht schien durch die weißen Vorhänge der großen Fenster, die den Gang säumten. Es erhellte die Umgebung gerade ausreichend genug, dass Lia noch erkennen konnte, wohin sie trat. Eines von ihnen war geöffnet und blies kalte Nachtluft in den Gang. Generell war es auffallend kühl im Gebäude und Lia wünschte sich, sie hätte Henry mitgenommen. Dann hätte sie nicht nur jemand Vertrautes, sondern der kleine Katzenkörper und das lange, weiche Fell könnten ihr noch ein wenig Wärme spenden.
Der Gang war lang und zur Beschäftigung betrachtete Lia im Vorbeigehen die Gemälde, die in akkuraten Abständen jeweils den Fenstern gegenüber hingen. Plötzlich zog sie eines der Gemälde so in den Bann, dass sie stehen blieb, um es genauer ansehen zu können. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und betrachtete es. Darauf war eine junge Frau zu sehen. Sie war so schön, dass sie fast surreal wirkte. Im Mondlicht war es schwer zu erkennen, aber ihre Haut war goldbraun gebrannt und unglaublich ebenmäßig. Ihr Gesicht war fast vollkommen symmetrisch und ihre Lippen waren voll, herzförmig und von einer rosigen Farbe. Glänzend lange goldene Haare flossen in großen perfekten Locken von ihrem Kopf herab bis weit über ihre Schultern und ihre Augen waren groß und strahlten pure Freude und Glück aus. Lange, geschwungene Wimpern umrahmten die Iris, die wie aus flüssigem Gold war.
»Sie sieht wie ein Engel aus.«, flüsterte Lia Baldur zu, der ebenfalls stehen geblieben war und das Bild nun zusammen mit ihr betrachtete.
»Das war sie auch.« Baldur lächelte schwach. »Siehst du ihre Augen?« Er deutete auf das Gold. Es gibt noch viel mehr Farben.« Und bevor Lia fragen konnte, wer genau diese Frau gewesen war, war Baldur ihr schon wieder weit vorausgeeilt.
Ein paar Minuten später stieg Lia die letzten Stufen einer Steintreppe hinab, wo schon Baldur auf sie wartete. Schweigend liefen beide die letzten Meter, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie befanden sich in einer Art Höhle aus dunklem Stein, die in das Gestein der Berge gehauen war, an dessen Fuß sich das Herrenhaus der Thalbachs befand. Die Decke war ein rundes Gewölbe, in dessen Mitte eine gläserne Halbkugel eingelassen war, durch die das Mondlicht den Raum erhellte. Darunter stand ein mit Wasser gefülltes Becken, ebenfalls in den matten dunklen Stein gehauen. An seinem Rand waren wieder die chinesischen Schriftzeichen, die Lia bereits in den Büchern gesehen hatte. Zu gern hätte sie gewusst, was diese bedeuteten.
Ein paar Meter von dem steinernen Becken entfernt standen mehrere Skulpturen. Diese waren kreisförmig um es angeordnet. Insgesamt waren es vierzehn, wobei sie immer paarweise standen. Jeweils ein Mensch und eines der Tiere aus dem Buch mit der farbigen Tinte. Da war ein hochgewachsener Mann mit Locken, zu dessen Rechten ein großer Vogel auf einem Sockel stand. Beide hatten Augen aus einem golden strahlenden Kristall. Neben den zwei stand eine zierliche Frau mit langem Haar. An ihrer Seite befand sich ein Einhorn. Ihre Augen erstrahlten beide rosa. So ging es weiter, von einem Mann mit grünen Augen, der bei einem Hippogryph stand, einer türkisäugigen Frau mit krausem Haar, die sich in Gesellschaft eines majestätischen Löwens befand, bis hin zu einem schmal gebauten blauäugigen Mann und einem Narwal mit doppeltem Horn.
Doch Lia schenkte ihre Aufmerksamkeit zunächst einzig und allein der Frau mit den lila Augen und dem ihr jetzt auf seltsame Weise fast schon vertrautem Wesen. Wie der erste Vogel thronte es auf einem Sockel und blickte starr wie alle anderen in die Mitte des Kreises. Jedoch fehlte etwas Entscheidendes. Vorsichtig fuhr Lia über seinen glatt gehauenen Steinkopf bis zu den Kristallaugen, die völlig farblos waren. Irgendwie enttäuschte es sie ein wenig, da all die anderen Tiere diese wunderbar farbigen Kristallaugen besaßen und man diesen Vogel, den Pfaeux, wohl einfach übergangen hatte. Oder waren die Augen vielleicht beschädigt worden?
Baldur winkte sie zu sich und Lia wandte sich von den zwei Statuen ab. Er deutete auf den Drachen und den Mann neben ihm, die mit entschlossenen Silberaugen in den Raum starrten. Beim näheren Hinsehen erkannte Lia die verblüffende Ähnlichkeit, die der Steinmann mit dem Geist hatte. Mehrmals blickte sie von Baldur zu der Statue, verglich Größe und Gesichtszüge, aber alles war absolut identisch.
»Ja. Das dort.«, Baldur deutete auf die Statue und seine Brust blähte sich auf vor Stolz. »Das bin ich.«
»Was hat das zu bedeuten und warum gibt es all diese Statuen?« Lia wusste nicht, was sie mit diesem Ort und diesen neuen Informationen anfangen sollte. Alles erschien ihr noch wie ein kompliziertes Rätsel.
»Ich weiß, alles muss sehr verwirrend für dich sein.« Baldur sah sie verständnisvoll an. »Aber bald wirst du alles verstehen. All diese Tiere, all diese Menschen –« Er machte eine ausladende Geste zu den Skulpturen hin. »und ich selbst, besitzen magische Fähigkeiten. Beziehungsweise besaßen diese einst. Denn die Magien kamen vor Jahrtausenden durch das Licht auf die Erde. Zuerst durch die Sonne und den Mond, die die unsterblichen Urväter der Lichtwesen formten, besser bekannt als Phönix und Drache. Danach erschufen beide weitere Wesen, die Sonne die Einhörner und der Mond den Narwal mit doppeltem Horn. Durch das Polarlicht entstanden Hippogryphe und ein Meteor brachte das Licht zur Entstehung der magischen weißen Löwen. Doch die magielosen Menschen haben stets Jagd auf diese wunderbaren Tiere gemacht, weil sie neidisch auf ihre Kräfte waren oder die Tiere aus Profitgier töten und verkaufen wollten. Die wenigen Überlebenden leben nun meist im Schutz der mit ihrer Magie begabten Menschen, denn die sieben Menschen hier waren die Ersten ihrer jeweiligen Magie, die diese damals durch die magischen Tiere übertragen bekamen. Jedoch ist das nicht einfach zu erreichen, weil die Lichttiere sterben müssen, um ihre Kräfte auf einen Menschen zu übertragen.« Baldur seufzte lang und strich dem Steindrachen liebevoll über den Kopf. Mit von Trauer und Schmerz belegter Stimme fuhr er fort.
»So war es vor vielen, vielen Jahren auch bei mir. Und diese Wesen sind so zart, so rein, dass sie sich nur bestimmte Personen zur Magieübertragung auswählen. Diese Tiere opferten ihr Leben für uns sieben, damit wir ihre Magie erhalten, nutzen und an unsere Nachkommen weitervererben können. Dies ist bisher wirklich nur sieben Mal geschehen. Jedenfalls war das so. Bis du kamst, Lia.« Lias Augen weiteten sich. Das Lila in ihnen leuchtete strahlend hell. Wenn diese Magiewesen ihre Kraft normalerweise nicht weitergaben, warum war dann der Pfaeux gestorben um sie ihr zu geben? Was hatte er davon? Und warum ausgerechnet sie, warum nicht eine andere Person? Es gab Milliarden von Menschen, Milliarden von Möglichkeiten und er hatte ausgerechnet sie gewählt. Angst vermischte sich mit Stolz, als Lia daran dachte.
»Als die sechs ersten magischen Tiere bereits viele Jahre existierten, kam ein weiteres dazu. Mit lila Augen. Der Pfaeux. Auch bekannt als die Tochter des Phönixes, eine Mischung aus Pfau und Phönix, das siebte Lichttier.« Baldur lief jetzt langsam im Kreis an den vierzehn Statuen entlang, während er ein Gedicht zitierte und an jedem Menschen und an jedem Wesen mit seinem Geisterfinger entlangstrich und die bunten Kristallaugen bei der kurzen Berührung dabei zum Aufleuchten brachte.
Zwei Kinder der Jahre,
Zwei Kinder des Lichts,
Gewachsen, unsterblich,
Sie schwinden auch nicht.
Schimmer der Blüte,
Nass nächtlicher Schein,
So wuchsen heran,
Wurd vier aus den zwein.
Danach noch zweimal,
Das Wunder vollbracht,
Verbunden aus zwei,
Geschaffen durch weit ferne Macht.
Und enden, nein enden,
Es endet noch nichts,
Das Kind des Phönix,
Wird Tochter des Lichts.
So strahlen die Sieben,
Verbunden im Schein,
Nur zusammen vollkommen,
Sind gar nichts allein.
»Baldur, zitierst du wieder diesen Kinderreim?« Lia schnellte herum und sah, wie Alois die letzte Stufe der Treppe herunterstieg. Er verschränkte die Arme und lehnte sich lässig an die Steinwand der Höhle.
»Das ist kein Kinderreim!« Baldur hatte die Unterlippe ein winziges Bisschen nach vorne geschoben und schmollte.
»Nein, natürlich nicht.«, antwortete Alois abschätzig.
»Wenigstens habe ich Lia über die Lichttiere und die sieben Magien informiert! Du hast sie ja völlig allein, verängstigt und uninformiert in diesem Zimmer eingesperrt!«
»Eigentlich war ich gar nicht allein, Henry –«, doch Lias Versuch, sie zu unterbrechen, scheiterte.
»Ich hätte sie informiert, gleich nach dem Gespräch mit meinem Vater. Aber es gab Dinge zu klären. Die Lage ist schwierig, angespannt, schon seit Jahren. Und ihr Auftauchen,« Alois sah Lia an. »das hat alles komplett verändert!«
»Als ob ich das nicht wüsste!« Baldur schnaubte verächtlich. Seine Nasenlöcher bebten vor unterdrückter Wut. »Ich mag zwar schon tot sein, trotzdem bekomme ich alles noch sehr gut mit.« Lia reichte es langsam. Sie wollte nicht, dass sich die beiden stritten. Und noch weniger gefiel es ihr, dass sie so einfach über sie sprachen, obwohl sie sich im selben Raum befand. Doch sie bekam keine Chance, auch nur irgendetwas zu sagen, was die beiden besänftigen konnte.
»Trotzdem muss ich Lia jetzt zu meinem Vater bringen.« Alois machte sich gar nicht erst die Mühe, auf Baldur einzugehen. »Es gibt Dinge, die wir bereden müssen.« Er warf Baldur einen auffordernden Blick zu.
»Jaja. Ich gehe schon.« Baldur drehte sich um und schritt, ein paar Zentimeter über dem Boden gleitend, zur Wand. »Da sorgt man dafür, dass man silberne Augen bekommt und was bekommt man als Dank von seinen Nachfahren? Gar nichts, das ist einfach …« Baldurs Stimme verlor sich in der Dunkelheit. Lia fragte sich, ob er einfach durch den Stein gegangen war.
»Wo ist er hin?«, fragte sie Alois.
»Ach, der kommt bestimmt früher wieder als dir lieb ist.« Alois starrte die Stelle an, an der Baldur verschwunden war und schüttelte leicht den Kopf. Er machte mit seiner Hand eine Geste in ihre Richtung und Lia verstand das als Aufforderung, ihm zu folgen. Während sie denselben Weg, den Lia vorhin mit Baldur gegangen war, zurückliefen, schossen Lia dutzende Fragen durch den Kopf. Wer war diese Frau auf dem Gemälde, die mit den goldenen Augen? Was war das für ein Ort, dort unten in der Höhle? Wozu war er gut? Warum hatte die Pfaeuxstatue keine bunten Kristallaugen gehabt? Warum war die Lage schon so lange angespannt? Warum hat der Pfaeux mir seine Kräfte übertragen? Sie wusste gar nicht, womit sie anfangen sollte. Am liebsten hätte sie Baldur noch mehr Dinge gefragt. Bei ihm hatte sie sich wohlgefühlt. Alois war ihr ein wenig unsympathisch. Er wirkte oftmals so kalt. Doch dann drängte sich ihr plötzlich eine Frage auf, die sie ihm auch wirklich stellte.
»Warum durfte Baldur uns nicht begleiten?« Alois hatte wohl mit keiner Frage gerechnet, denn er zuckte zusammen, vermutlich hatte Lia ihn aus seinen Gedanken gerissen. Dann sammelte er sich wieder und lief ein wenig langsamer.
»Nun, wir sind die Einzigen hier, die ihn sehen können.«, antwortete er. Das überraschte Lia.
»Und dein Vater? Kann er ihn nicht sehen?« Alois schüttelte den Kopf. »Warum nicht?«, hakte sie nach.
»Weil sich Geister aussuchen können, wer sie sehen soll und wer nicht. Es gibt aber eine Einschränkung: Wenn man keine Magie in sich trägt, sehr eng mit ihnen verwandt ist oder dem Geist zu seinen Lebzeiten viel bedeutet hat, dann kann der Geist sich einem niemals offenbaren. Außer kurz bevor man stirbt, dann kann man alle Geister sehen, jedenfalls wird das gesagt.«, eröffnete ihr Alois. Lia stockte der Atem.
»Das ist aber gemein.«, sagte sie entrüstet.
»Es ist nun mal so. Das kann nicht geändert werden.«
»Und warum will er nicht, dass dein Vater ihn sieht?« Sie bogen links ab und näherten sich der Treppe der Eingangshalle.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber Baldur hat es so entschieden. Wahrscheinlich lauscht er sowieso wieder.« Alois Mundwinkel zuckten leicht. Lia konnte nicht sagen, ob er verärgert war, oder ob es sich um den Anflug eines Lächelns handelte.