Читать книгу Die große Fahrt - Kendran Brooks - Страница 4
Yunnan, 1382
ОглавлениеSoweit ich mich zurückerinnere, lebten meine Eltern, meine Geschwister und ich auf einem großen Anwesen am Rande der Stadt Kunyang, dem heutigen Kunming. Mein Vater war der angesehenste Mann in unserer Gegend und wurde von allen Menschen sehr verehrt. Manchmal bekam er sogar eine Einladung an den Hof von Prinz Basalawarmi. Dann zog er seine feinsten Kleider an und ließ sich mit der Sänfte dorthin tragen. Einmal durfte sogar die gesamte Familie an einem Fest des Prinzen teilnehmen. Basalawarmi ließ es zu Ehren seiner Mutter ausrichten. Ich war so stolz auf meinen Vater.
Ihr müsst wissen, unsere Familie war schon vor langer Zeit in dieses Land gezogen. Viele meiner Ahnen bekleideten immer wieder wichtige Verwaltungsposten. Einige waren sogar Gouverneure gewesen, wie uns der Vater erzählte. Diese Zeit lag zwar schon weit zurück und ich wusste damals als Kind auch noch gar nicht so richtig, was ein Gouverneur war oder was er tat. Doch dass dieser Posten sehr viel Verantwortung beinhaltete, hörten wir schon aus der ehrfürchtigen Stimme unseres Vaters heraus.
Meine Kindheit verlief recht harmonisch, wenn man von den gelegentlichen Raufereien mit Nachbarjungen oder den ständigen Neckereien meiner vier älteren Schwestern absah. Die konnten richtig gemein sein, meine Schwestern meine ich.
Es war ein wunderschöner Januar Morgen. Die Sonne stand fahl und knapp über dem Horizont. Trotzdem wärmten ihre Strahlen unsere Gesichter. Dick in unsere Mäntel gepackt saßen zwei von meinen Schwestern und ich selbst draußen unter dem alten Pflaumenbaum am Tisch. Der Hof zu unserem Haus war von einer hohen Mauer umgeben und ein breites, hölzernes Tor führte auf die Hauptstraße hinaus. Wie die meiste Zeit über stand es auch an diesem Morgen offen, denn ab und zu kamen Menschen zu uns, die den Rat meines Vaters brauchten oder ihn um Fürsprache beim Prinzen baten.
Shu Lin und Mei Lin, zwei meiner vier Schwestern, versuchten schon seit ein paar Tagen, mir das Schachspielen beizubringen. Doch an diesem Morgen war ich nicht ganz bei der Sache, blickte, ohne den Grund zu wissen immer wieder vom Brett und den Figuren auf und durch das Tor hinaus auf die Straße, gerade so, als wenn ich von dort jemanden erwarten müsste. Es war eine unerklärliche Unruhe in mir, die meine Beine beständig zappeln ließ.
»Schach!«, fuhr mich meine Schwester Shu Lin an und fügte fast ärgerlich hinzu, »pass doch besser auf, du Tölpel!«
Ich schreckte hoch und schaute wieder zurück auf das Brett mit den weißen und schwarzen Figuren. Eines ihrer flinken Pferde hatte meine so sorgsam aufgebaute Bauerndeckung übersprungen und meinen armen König Schach gestellt. Doch das war noch gar nicht das ganze Unglück. Bestürzt erkannte ich, dass neben dem König auch meine Dame von demselben Angreifer bedroht wurde. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg. Es musste doch möglich sein, das biestige Pferd meiner Schwester vom Brett zu fegen und so die Gefahr für mein Adelshaus zu bannen? Doch ich fand niemanden, der hätte zuschlagen können. Kein Läufer, kein Turm war da, um meiner königlichen Familie zu Hilfe zu eilen und selbst das Bauernvolk kümmerte sich nicht um seine Herrscher. Das hinterhältige Attentat meiner Schwester war nicht mehr zu vereiteln.
Trotzig und beschämt zugleich schob ich meinen König um ein Feld vor und direkt neben meine Dame. So bekam ich wenigstens das Pferd meiner Schwester zu fassen, wenn es gleich die stärkste Figur auf meiner Seite schlagen würde.
Zu meinem Erstaunen griff Shu Lin jedoch nicht zu ihrem Schlachtross, sondern rückte einen ihrer Läufer bloß um zwei kleine Felder vor. Dann sah sie mich diabolisch lächelnd an und meinte: »Schach, mein kleiner Dummkopf...«
Diesen verflixten Läufer hatte ich völlig übersehen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich ausgesprochen unbeteiligt gezeigt und sich im Hintergrund des Spielbretts herumgedrückt. Von ihm schien darum keinerlei Gefahr auszugehen. Und nun bedrohte dieser gemeine Kerl plötzlich den obersten Herrscher meines Hauses? Meine Augen weiteten sich, als ich das ganze Ausmaß des Unglücks immer klarer erkannte. Mein König war von eigenen und fremden Figuren vollständig eingekeilt. Er hatte keine Möglichkeit mehr zu einer Flucht. Zudem fehlten die aufopfernden Vasallen, die sich zwischen ihn und den Feind hätten werfen können. Mein Blick schweifte fieberhaft von einer Figur zur anderen. Das konnte, ja das durfte doch nicht sein.
»... und Matt«, fügte Shu Lin triumphierend und spöttisch hinzu, als sie in meinen Augen die Ausweglosigkeit meiner Gedanken las.
Mei Lin, meine andere Schwester, lachte schallend auf und gab mir mit der flachen Hand einen Klaps auf die Stirn. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg und starrte sie aufgebracht an. Meine Schwestern waren leider älter als ich und unser Vater hatte ihnen dieses dumme Spiel schon vor einigen Monaten beigebracht. Seitdem hatten die beiden viel Zeit mit Üben verbracht. Und als auch ich Schach von meinem Vater lernen wollte, meinte der bloß, ich wäre noch zu jung, um auf ein Schlachtfeld zu ziehen. So blieb mir nur die Unterstützung meiner Schwestern. Doch längst war ich mir sicher, dass Shu Lin und Mei Lin nicht wirklich fair zu mir waren, mir zum Beispiel nicht alle Strategien und Finten dieses komplizierten Spiels erklärt hatten. Nur darum tappte ich immer und immer wieder in ihre Fallen. Sie wollten sich bloß über mein ständiges Versagen lustig machen.
Tränen schossen mir in die Augen. Das ärgerte mich umso mehr, denn schon im nächsten Monat wurde ich doch elf Jahre alt. Und ein Junge an der Schwelle zum Mann durfte doch nicht mehr weinen?
Zornig wischte ich mit dem Ärmel erst über die Augen und dann über das Spielbrett. Die Figuren purzelten vom Tisch in den Sand. Dann sprang ich auch schon wütend auf und wollte ins Haus rennen, um mich bei meiner Mutter über die ach so gemeinen Schwestern zu beklagen. Doch so weit kam ich nicht mehr. Denn in diesem Moment sprengte ein Reiter im Galopp von der Hauptstraße durch das offene Tor hinein und auf unseren Hof. Er saß auf einem großen, hellen Pferd mit braunen Flecken und wildem Blick. Der Mann riss mit solcher Kraft an den Zügeln, dass sich sein Reittier auf die Hinterhand setzte und dabei noch drei, vier Meter weit durch den Sand rutschte, bis es schließlich stand. Schon war der Mann abgesprungen und blickte sich suchend um. Es war ein wilder Kerl, ein Mongole, mit schwarzem, langem Schnauzbart, deren Enden weit über sein Kinn hinunter hingen. Er war ganz in dunkles, speckig glänzendes Leder gekleidet und seine schwarzen Augen funkelten uns gefährlich an.
»Wo finde ich Ma Hajji?«, fuhr er uns atemlos an. Völlig verdattert standen meine Schwestern und ich da, brachten vor Schreck und Aufregung kein Wort heraus, streckten jedoch alle drei gehorsam einen Arm in Richtung des Hauseingangs. Der Reiter lief sogleich los, die ersten Schritte noch staksig und steif vom wilden Ritt. Trotzdem war er nach wenigen Sekunden im Flur verschwunden, ließ die Haustür achtlos offenstehen.
Wir Kinder sahen uns verständnislos an. Was war geschehen? Was wollte dieser wilde Mongole von unserem Vater? War das etwa ein Überfall? War er vielleicht ein Bandit? Nein, das konnte nicht sein. Die einzige sichtbare Waffe des Mannes war ein kurzer Dolch an seiner Seite gewesen. Und diesen hatte er noch nicht einmal aus dem Futteral gezogen. Einen Überfall ohne Waffen gab es aber nicht. Das wussten selbst wir Kinder schon.
Trotzdem näherten wir uns dem offenen Hauseingang nur sehr vorsichtig, scharten uns dabei unwillkürlich zusammen wie ängstliche Hühner, die zwar voller Neugierde einem jungen Hund nachliefen, ihm aber nicht wirklich vertrauten. Doch der Reiz einer Abwechslung vom täglichen Einerlei war stärker als die gebotene Vorsicht.
Wir hatten die Türschwelle noch nicht erreicht, da hörten wir drinnen bereits die schweren Schritte unseres Vaters um die Ecke des Flurs biegen. Er blieb kurz stehen und rief laut über seine Schulter, damit ihn meine Mutter in der Küche hören konnte: »Lia Su? Ich muss fort. Die chinesische Armee steht an der Grenze zu Yunnan und alle bewaffneten Männer sind aufgerufen, Prinz Basalawarmi zu Hilfe zu eilen. Pack mir bitte Proviant für ein paar Tage ein.«
Mit diesen Worten verschwand er in seinem Zimmer. Er nutzte es vor allem für Schreibarbeiten. In ihm wurden aber auch seine Lederrüstung, der kurze Bogen mit dem Köcher voller Pfeile, sein langes Schwert und der spitze Dolch aufbewahrt.
Der fremde, mongolische Reiter war hinter meinem Vater aufgetaucht und im Flur stehen geblieben, schien darüber nachzudenken, was er als nächstes zu tun hatte. Dann lief er auch schon los und direkt auf uns zu. Wir Kinder drückten uns ängstlich an die Wand, als er achtlos an uns vorbeischritt und auf den Hof ging. Durch die offene Türe sahen wir ihm nach. Er blickte sich draußen um und schlug dann mit seinem Pferd die Richtung zu den Ställen ein, vielleicht um das Tier zu füttern.
Wir Kinder berieten uns flüsternd, was da wohl vor sich ging. Chinesische Soldaten, hatte mein Vater gesagt. Und Prinz Basalawarmi benötigt seine Hilfe. Gab es vielleicht Krieg? War vielleicht sogar Kunyang bedroht?
Als unser Vater aus seinem Zimmer wieder zu uns in den Flur hinaustrat, zuckten wir erschrocken zusammen. Bis zu diesem Tag hatten wir seine Rüstung immer bloß ehrfürchtig auf ihrem Gestell in der Ecke bestaunt. Sie wirkte mit ihrem schwarzen Leder auf uns immer sehr bedrohlich. Gleichzeitig schimmerte sie aber auch geheimnisvoll. Und sie roch nach großen Taten. Manches Mal war ich heimlich in den Raum geschlichen und hatte mit meinen Fingern sanft über die mit Eisenbeschlägen verstärkten Lederlappen gestrichen. Ich stellte mir vor, wie ich selbst als stolzer Kämpfer in den Krieg zog und wichtige Schlachten gewann.
Das Schwert unseres Vaters hatte für uns unerreichbar hoch an der Wand gehangen. Es war uns Kindern bei Strafe verboten, es auch nur anzurühren. Doch nun stand unser Vater mit Helm, Harnisch und Beinschutz vor uns, das Schwert an seiner Seite, den Dolch hinter den breiten Gürtel geschoben. Den Köcher mit den Pfeilen hatte er mit der Lederschnur um seine Schulter gelegt und den Bogen hielt er in der einen Hand. Nie hatte unser Vater so stark, ja so unüberwindlich auf uns gewirkt, aber auch nie so wild, fremd und gefährlich.
Er trat auf uns zu und streichelte meinen beiden Schwestern kurz und aufmuntern mit dem Zeigefinger über die Wange, fuhr mir dann mit seiner großen Hand durch die Haare und über die Kopfhaut, so hart, dass es mich schmerzte.
»Ihr müsst jetzt tapfer sein, meine Lieblinge. Seid folgsam und tut, was eure Mutter euch befiehlt, bis ich zurück bin.«
Danach stakte er mit langen Schritten in Richtung der Küche davon. Wir folgten ihm nur zögernd, waren immer noch verstört, sahen unter der Tür, wie er unserer Mutter einen zärtlichen Kuss gab und dann den Beutel mit dem zusammengesuchten Proviant an sich nahm.
»Sag Wenming, wenn er vom Markt zurückkommt, dass er sich ein Pferd satteln und zum Hof von Onkel Pho reiten soll. Dort soll er bleiben, bis ich Nachricht sende.«
Was wohl das wieder zu bedeuten hatte?
Unser Vater würde wohl mit Prinz Basalawarmi in den Krieg gegen die Chinesen ziehen. Und wir mussten hierbleiben. Unseren älteren Bruder schickte er jedoch zwei Tagesreisen weit weg zu Onkel Pho? War Wenming hier bei uns vielleicht bedroht? Doch warum schickte der Vater dann nicht seine gesamte Familie dorthin?
Wir Kinder wussten es nicht, sahen nur verstört auf unsere Mutter, die ihr Gesicht hinter den Händen vergraben hatte und zu schluchzen begann. Mein Vater war längst aus der Küche gestapft und im Flur verschwunden. Wir hörten nur noch seine schweren Schritte in Richtung der Haustür davon gehen.
Shu Lin, Mei Lin und ich blieben bei unserer Mutter stehen und versuchten sie zu trösten. Wir fassten sie an den Händen und streichelten ihre Unterarme und auch über ihren Rücken. Doch sie beachtete unsere Liebkosungen kaum, hörte auch nicht auf zu weinen. Dann hörten wir im Hof plötzlich zwei Pferde laut wiehern und stürzten alle drei nach draußen. Zwischen den Torpfosten zur Straße hing noch die Staubfahne. Unseren Vater würden wir nicht mehr wiedersehen.