Читать книгу Die große Fahrt - Kendran Brooks - Страница 8
China, 1382
ОглавлениеNur achtunddreißig von uns Knaben hatten die brutale Kastration überlebt, nicht einmal jeder zehnte, wie wir von unseren Wärtern erfuhren. Zwei Tage ließ man uns im Freien auf dem Strohbett liegen, danach wurden wir wieder in einen der Kellerräume ohne Licht gesperrt. Wir bekamen regelmäßig zu Essen und zu Trinken und auch unsere Wunden versorgte man ein paar Mal. Bei mir hatte sich rasch eine dicke, braunrote Kruste gebildet und wenn ich herumging, dann rieben ihre Ränder manchmal unangenehm an der Innenseite meiner Schenkel. Das Wasserlassen bereitete uns am Anfang große Schmerzen und wir mussten uns dazu wie Mädchen hinhocken, damit uns der Urin nicht an den Beinen hinunterlief. Trotzdem spritzten wir uns immer wieder die Knöchel und Fußrücken voll, denn wir hatten noch längst nicht gelernt, den Druck unserer Blase so zu kontrollieren, dass ein regelmäßiger, nicht allzu starker Strahl entstand.
Es war ein etwas nebliger Morgen, als sie uns wieder aus unserem Gefängnis und auf den Hof hinaufführten. Mitten auf dem Platz stand eine prachtvolle Sänfte, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war riesig, purpurn bemalt und mit silbern glänzenden Beschlägen verziert. Ein großer Mann saß davor auf einem Schemel. Er trug einen mächtigen, schwarzen Bart und war ganz in Seide gekleidet. Ich kannte diesen wertvollen Stoff, weil mein Vater einmal meiner Mutter ein Kleid aus der Hauptstadt mitgebracht hatte, das in allen Farben schillerte. Lange Zeit betrachtete sie damals das so kostbare Geschenk, voller Ehrfurcht und es dauerte einige Tage, bevor sie sich getraute, es zur Probe anzuziehen. Getragen hatte sie es dann ein einziges Mal, auf dem großen Fest am Hof von Prinz Basalawarmi. Ich konnte damals einige der Gäste belauschen, wie sie untereinander tuschelten und meinten, meine Mutter wäre eine der schönsten und vornehmsten Damen an diesem Nachmittag. Selbst der Prinz hatte ihr huldvoll zugelächelt und kurz genickt, so beeindruckt war er von der Schönheit meiner Mutter in ihrem Kleid.
Das Haar des mächtigen Mannes, der vor seiner Sänfte saß, war im Gegensatz zu seinem Bart bereits angegraut. Doch er trug es sehr lang, wild und stolz, hatte es hinten zu einem Zopf zusammengebunden, der bis zwischen seine Schulterblätter reichte. Überhaupt zeigte sein gebieterisch erhobener Kopf mit dem energisch nach vorne gestreckten, breiten Kinn einen Stolz, der nicht etwa auf seiner Geburt beruhte, sondern einzig auf seinen Taten.
Es musste ein bedeutender Herr sein, vielleicht ein General oder ein hoher kaiserlicher Beamte, denn eine große Anzahl von Soldaten waren im Hof verteilt, umringten die Sänfte in einem weiten Bogen. Die Bewaffneten hatten ihr rechtes Bein etwas nach vorne geschoben und ihre Hand an den Schwertgriff gelegt. Sie sahen wie zum Sprung bereit aus, als wenn sie im nächsten Moment blankziehen wollten, um sich mit aller Kraft auf einen Feind zu stürzen und so ihren Vorgesetzten zu beschützen.
Ein paar der Soldaten hielten statt dem Schwertgriff eine lange Holzstange fest. An diesen pendelten rote oder gelbe Banner im aufgekommenen Wind hin und her. Ich konnte Chinesisch recht gut lesen und auch schreiben und so erkannte ich auf den Feldzeichen viele Tiernamen. Es gab die Flinken Eidechsen, die Roten Panther und gleich daneben die Goldene Speerspitze.
Wir Knaben mussten uns in eine Reihe stellen. Dann wurden wir einzeln zu dem sitzenden Mann hingeführt. Der sprach mit jedem ein paar Worte. Danach wurden die allermeisten nach links in eine Ecke des Hofes getrieben, einige wenige jedoch nach rechts hinübergeführt, zu einem Mann, der sich ein Brett vor seinen Bauch geklemmt hatte und eifrig darauf schrieb.
Ich nahm mir vor, mutig und stolz vor diesen mächtigen Herrn zu treten, genauso, wie ich es bei meiner Mutter gesehen hatte, vor einigen Wochen im Hof unseres Hauses, als sie vor den Anführer der chinesischen Soldaten trat. Doch als ich schließlich an die Reihe kam und zu ihm hingeführt wurde und seine funkelnden Augen von ganz Nahem sah, den mächtigen schwarzen Bart, seine breite Nase mit den weiten Nüstern und dem grausamen Mund darunter, begann ich vor Furcht zu zittern.
»Steh still, Junge«, herrschte er mich grollend an, so dass ich heftig zusammenzuckte, dann aber völlig erstarrte und kaum mehr zu atmen wagte.
»Sag mir, wie viel sind zwölf multipliziert mit achtzehn.«
»Zweihundert sechzehn«, antwortete ich, ohne nachzudenken, denn meine Eltern hatten uns Kindern schon sehr früh das Kopfrechnen beigebracht und mich auch fleißig jeden Tag üben lassen.
»Und wie viel sind vierzehn mal einhundert zwölf?«
»Eintausend fünfhundert achtundsechzig.«
Ich fühlte mich auf einmal sicherer, denn ich sah, wie wohlgefällig der fremde Herr meine Antworten aufnahm. Sein zuvor mürrischer Mund zuckte und zeigte nun beinahe schon ein Lächeln.
»Erstaunlich«, meinte er knapp und fügte in einem versöhnlichen Ton hinzu, »wie heißt du, Junge?«
Nun regte sich mein Stolz plötzlich wieder in mir und ich sprach endlich mit derselben festen Stimme, wie seinerzeit meine Mutter: »Ich heiße Ma He. Ich bin der Sohn von Ma Hajji aus Kunyang.«
»Du bist der Sohn von Ma Hajji aus Kunyang?«, fragte mich der Mann überrascht, worauf ich meinerseits die Augen vor Erstaunen aufriss.
»Kennen Sie etwa meinen Vater?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Ja, ich kannte ihn«, sprach er hart, nachdem er mich eine Sekunde lang gemustert hatte, »doch er ist wie die meisten Anhänger von Prinz Basalawarmi gleich während der ersten Schlacht umgekommen.«
Ich schluckte trocken, fühlte gleichzeitig, wie ein unbändiger Schmerz in meiner Brust aufstieg. Es war, als wenn sich ein Stück glühende Kohle in meiner Lunge befände, die mich von innen heraus verbrennen wollte. In meinen Ohren rauschte das Blut und mein Blick verschwamm über die Tränen, die mir in die Augen schossen. Ich schwankte, als mir für einen kurzen Moment lang schwarz vor Augen wurde.
Mein Vater war mir immer Vorbild gewesen, stark und unbezwingbar. Und jetzt sollte er einfach so tot sein? Bilder stiegen in mir hoch, wie er noch vor so kurzer Zeit in seiner furchterregenden Rüstung vor uns stand, dabei riesig und unüberwindlich schien. Mein ganzes Leben lang würde ich mich an seine schwielige Hand erinnern, wie sie mir zum Abschied schmerzhaft durch das Haar und über die Kopfhaut fuhr.
Die Stimme des mächtigen Mannes auf dem Schemel riss mich zurück auf den großen Hof mit den vielen Soldaten.
»Dein Vater trug den Namen Hajji. Er hat also die Pilgerreise nach Mekka als eine der fünf Säulen des Islams erfüllt. Kannst du, He, vielleicht sogar Arabisch sprechen?«
»Ja, meine Eltern haben mich Arabisch und Mandarin gelehrt. Ich kann es Lesen und Schreiben.«
»Und worin wurdest du noch unterrichtet?«
Ich überlegte einen Moment.
»Mein Großvater und mein Vater haben mir viel über die Welt im Westen erzählt, auch von dem großen Meer im Süden und von den reichen Handelsstädten in Persien und Ägypten. Sie haben von seltsamen Bräuchen und Sitten dort berichtet. Und ich kann auch Schach spielen«, fügte ich in einem Anflug von Überheblichkeit hinzu, »allerdings nicht besonders gut«, beendete ich meine Aufzählung etwas kleinlaut.
Der Mann fletschte seine so brutal wirkenden, wulstigen Lippen nun endgültig zu einem freundlichen Lächeln.
»Du hast großes Glück, kleiner He, denn wir nehmen dich mit nach Nanjing. Geh hinüber zu diesem Schreiber dort und lass dich registrieren«, dann wandte er sich auch schon an einen Leutnant in seiner Nähe und sagte, »bring den nächsten Jungen«. Ich war damit entlassen, ging zum Mann mit dem Brett vor dem Bauch und der schrieb meinen Namen auf, tätschelte mir danach aufmunternd auf den Rücken.
So kam ich wenige Wochen später in der Hauptstadt von China an, genauer gesagt brachte man uns auf ein großes Anwesen, das in einem Vorort lag. Dort unterrichtete man mich zusammen mit vielen anderen Knaben in allen möglichen Fächern, in Musik und Poesie, in Sprache und Mathematik, aber auch in den Sitten am kaiserlichen Hof. Wir alle waren Kastraten und uns stand ein Leben im Dienste der kaiserlichen Familie bevor. Ich lernte während diesen Monaten viel und dachte immer seltener zurück an zu Hause, an meine Mutter, meine Schwestern und den älteren Bruder. Wie mochte es ihnen ergangen sein?
*
»Wer ist dieser hochaufgeschossene Junge da, der dritte von rechts.«
Mehr als zwanzig Zwölfjährige hatten sich auf der weiten Grasfläche vor den Zielscheiben aus Stroh aufgereiht und übten fleißig das Bogenschießen. Einer von ihnen überragte die anderen um Haupteslänge.
»Das ist Ma He, einer der Geschicktesten in diesem Jahrgang.«
Aus der Stimme des Lehrers klang eine rechte Portion Stolz mit, als er sich dem Hofeunuchen lächelnd zuwandte.
»Und wie stellt er sich sonst so an?«
»Oh, als er zu uns kam, ehrenwerter Sun Wa, konnte er sich bereits recht gut in Mandarin und Arabisch ausdrücken. Heute schreibt er in beiden Sprachen Gedichte, die weit über sein Alter hinausgehen.«
»Ist er zuverlässig und gewissenhaft?«
»Über alle Massen, ehrenwerter Sun Wa. Er arbeitet sehr zielstrebig und widerspricht nie. Er tut das, was man ihn heißt, ohne Murren, aber mit viel Geschick und großem Einsatz. Er ist aber auch sehr intelligent und leicht formbar.«
»Dann nehme ich ihn auch noch mit mir«, meinte Sun Wa abschließend, »zusammen mit diesem Ho Tau. Sie werden ihre Ausbildung am Hof von Zhu Di vervollständigen.«
»Welch große Ehre für die beiden Knaben, zum ehrenwerten Prinzen Zhu Di an den Hof von Beiping zu kommen«, hauchte der Lehrer ehrfürchtig und während der Hofeunuch Sun Wa bereits auf dem Weg zu seiner Sänfte war, verneigte sich der Lehrer immer noch tief.
*
Es vergingen einige Jahre und Ma He wuchs in Beiping, im Norden von China, am Hofe von Prinz Zhu Di heran. Nicht nur im Bogenschießen stellte er sich äußerst geschickt an. Längst führte der fast zwei Meter große, überaus stattliche Eunuch das Schwert mit viel Kraft und Gewandtheit und den Speer schleuderte er weiter als alle anderen. Stieg er aber auf ein Pferd, so verschmolzen die beiden Körper sogleich miteinander und reagierten wie ein einziger Organismus.
Prinz Zhu Di hatte den außergewöhnlichen jungen Mann aus Kunyang längst in sein Herz geschlossen und ließ ihm die beste militärische Ausbildung angedeihen, eine außergewöhnliche Bevorzugung und höchste Ehre für einen Eunuchen. Denn in der Regel übernahmen Kastraten am Hof nur Verwaltungsaufgaben. Doch der Prinz setzte sich gegen den Rat seiner Mandarinen durch. Es wäre eine Schande, wenn man diesen Eunuchen in der Gestalt eines Kriegsgottes hinter einem Schreibpult versauern ließe, hatte der Prinz gemeint.
Sein Vater, Kaiser Hongwu, hatte Zhu Di die nördliche Provinz Yan zur Verwaltung und zur Verteidigung gegen die Mongolen übertragen. Yan war die größte und wichtigste Provinz des gesamten Landes und die gestellte Aufgabe darum eine sehr ehrenvolle für den noch jungen Prinzen. Von seinem Schwiegervater Xu Da, dem erfahrenen General, lernte Zhu Di alles über Kriegstaktik und militärische Führung. Jedes Jahr zogen die beiden mit ihren Truppen zu Manövern weiter in den Norden, führten immer wieder kleinere, aber stets erfolgreiche Feldzüge gegen feindlich gesinnte Mongolen. Auch Ma He schlug sich dabei wacker und zeichnete sich einige Male durch besondere Tapferkeit aus, erntete viel Lob von seinen militärischen Vorgesetzten. Sein Name wurde unter den Soldaten bekannter und viele redeten längst nur noch vom gewaltigen Krieger aus Kunyang, was Ma He natürlich sehr schmeichelte, auch wenn er das nie zugegeben hätte.
Den größten und klügsten Sieg über die Mongolen errang Prinz Zhu Di im Jahre 1390. Der März war ungewöhnlich kalt ausgefallen und immer noch herrschte der Winter uneingeschränkt über das Land. Trotzdem brach er mit seinem Heer auf, überschritt die Grenze Chinas und fand mit Hilfe von Spionen das Lager von Naghachu, dem mächtigen Stammesführer der Mongolen, der ihm in letzter Zeit viel Ärger mit seinen Grenzüberfällen bereitet hatte. Trotz Schneefall ließ Zhu Di seine Truppen ausschwärmen und das Lager von Naghachu vollständig umzingeln. Dann schickte er Nayira zu ihm. Der war ebenfalls Mongole und einige Monate zuvor von chinesischen Soldaten gefangen genommen worden. Er hatte sich den Truppen von Zhu Di angeschlossen und war dem chinesischen Prinzen seither treu ergeben. Und weil er zugleich ein guter Bekannter von Naghachu war, wurde er tatsächlich zum Stammesführer vorgelassen. Nayira erzählte Naghachu von der Umzingelung des Lagers durch die Chinesen. In einer ersten Reaktion wollte sich der mongolische Stammesführer den kaiserlichen Truppen von Zhu Di entgegenstellen und lieber kämpfend sterben, als in Gefangenschaft zu geraten. Doch Nayira konnte ihn zu einer ehrenvollen Kapitulation überreden. Im Namen von Prinz Zhu Di wurden alle mongolischen Anführer in das Lager der Chinesen eingeladen und dort wie gute Freunde empfangen und bewirtet. Am nächsten Tag schlossen sich viele von ihnen der chinesischen Armee an und dienten fortan treu und zuverlässig. Mit diesem Sieg ohne jegliches Blutvergießen erwarb sich der Prinz hohes Ansehen in ganz China, bei den militärischen Führern genauso, wie am kaiserlichen Hof und in der Verwaltung.
Es war im Jahre 1398 als Kaiser Hongwu mit einundsiebzig Jahren verstarb. Sein ältester Sohn und natürlicher Nachfolger, Kronprinz Zhu Biao, war damals allerdings schon lange tot und auch die beiden anderen, älteren Brüder von Zhu Di lebten nicht mehr. Alles am kaiserlichen Hof erwartete deshalb, dass Zhu Di, der Prinz von Yan, die Nachfolge seines Vaters antrat. Doch der launische Kaiser Hongwu hatte in den letzten Jahren seiner Regentschaft immer mehr Misstrauen gegen seine vielen Söhne gefasst. Er entschied sich deshalb für Zhu Yunwen als Nachfolger. Sein zwanzigjähriger Enkel war der Sohn des verstorbenen Kronprinzen Zhu Biao.
Kaiser Hongwu war selbstverständlich nicht dumm und rechnete mit großem Widerstand durch das Militär und auch in der Verwaltung gegen die Wahl seines Enkels als Nachfolger. Darum ließ er vor seinem Tod noch fünfzehntausend mögliche Gegner des neuen Kaisers vorsorglich exekutieren. Und er ordnete an, dass alle militärischen Führer, seine eigenen Söhne eingeschlossen, nach seinem Ableben in ihren Provinzen bleiben müssten und nicht in die Hauptstadt zu seinem Begräbnis erscheinen durften.
Der zwanzigjährige Zhu Yunwen nannte sich als Kaiser Jianwen. Schon kurze Zeit nach der Thronbesteigung begann er auf Drängen seiner Berater, die Macht der Prinzen im Land zu beschneiden. Seine Onkel bekamen Hausarreste auferlegt, ihre Truppen wurden teilweise aufgelöst und einige von ihnen wurden des Hochverrats beschuldigt und gefangen genommen.
Zhu Bo, der Regent der Provinz Xiang und Bruder von Zhu Di, lehnte den Befehl seines Neffen ab, am kaiserlichen Hof zu erscheinen. Er wusste, dass man ihn dort wegen irgendeinem aus der Luft gegriffenen Vergehen anklagen würde. Er tötete deshalb seine gesamte Familie, zündete den Palast an und ritt auf seinem Lieblingspferd in die Flammen.
Nach wenigen Monaten Regentschaft von Jianwen waren bereits sieben der mächtigsten Prinzen im Land auf die eine oder andere Weise beseitigt worden. Nur zwei von ihnen starben auf natürliche Weise. Die übrigen hatten wie Zhu Bo Selbstmord begangen oder wurden wegen Verrats zum Tode verurteilt.
Zhu Di war das älteste männliche Mitglied der kaiserlichen Familie. Er versuchte darum mehrere Male, bei seinem Neffen eine Audienz zu erhalten. Zhu Di wollte den jungen Kaiser von einer notwendigen Änderung seiner Politik der Furcht und des Unrechts überzeugen. Doch Jianwen lehnte jedes Gespräch mit seinem Onkel ab, verweigerte eine Zusammenkunft. Und so erklärte Zhu Di, der Prinz von Yan, im Jahre 1399 dem chinesischen Kaiser den Krieg. Er rechtfertigte seinen Schritt damit, dass er seinen Neffen aus den Fängen übler Berater befreien musste.
Der Bürgerkrieg verlief anfangs sehr günstig für den jungen Kaiser und seinen Hofstaat. Sie verfügten über mehr Truppen und mehr Geld und schon bald stand die kaiserliche Armee vor den Toren von Beiping. Doch die starke Befestigung der Stadt widerstand mehreren Angriffen erfolgreich. Die Verteidigung von Beiping wurde von der Dame Xu, der tapferen Ehefrau von Zhu Di organisiert. Letztlich mussten sich die kaiserlichen Generäle erfolglos nach Nanjing zurückziehen. Doch die Belagerung seiner Provinzhauptstadt Beiping verschaffte Zhu Di genügend Zeit, um seine Truppen zu ordnen und zu verstärken. Mit dreihunderttausend loyalen Soldaten zog er gegen die Hauptstadt von China. Mit Unterstützung der verbündeten mongolischen Reiterverbände schlug er die kaiserliche Kavallerie vernichtend und im Jahre 1402 gelang seinem Heer der endgültige Durchbruch bis vor die Mauern von Nanjing. Immer mehr kaiserliche Kommandeure liefen in der Folge zum Prinzen über und am 13. Juli 1402 öffnete man ihm nach kurzen Verhandlungen kampflos die Tore der Stadt.
Der junge Kaiser Jianwen ließ seinen Palast anzünden und verbrannte zusammen mit seiner Frau bis zur Unkenntlichkeit. Er bekam von seinem Onkel ein ehrenvolles, aber eher bescheidenes Begräbnis, während gleichzeitig sämtliche Ratgeber seines fehlgeleiteten Neffen zusammen mit ihren Familien wegen schlechter Regentschaft exekutiert wurden.
Doch es gingen Gerüchte um. Der Tod des jungen Kaisers Jianwen wäre vorgetäuscht worden. Einige vermuteten, die beiden gefundenen Leichen wären Diener gewesen und Jianwen lebe als Mönch in Yunnan. Andere wollten in Guangxi beobachtet haben, wie der frühere Kaiser einen wertvollen Jadegürtel gegen Essen eingetauscht hatte. Er lebe glücklich und zufrieden in Fujian, habe eine neue Frau und mit ihr vier Söhne, war ein anderes Gerücht. Und eine weitere Geschichte erzählte, der frühere Kaiser hätte auf der Straße nach Yunnan den Palastoffiziellen Yan Zheng getroffen. Yan Zhen habe den ehemaligen Kaiser sofort erkannt und sich noch in derselben Nacht in einem Wirtshaus erhängt, nur damit er niemandem von der Begegnung erzählen konnte. Doch das alles waren im Grund genommen bloß wilde Spekulationen. Dennoch ließ der neue Kaiser vorsichtshalber Hu Ying, einen seiner treuesten Hofbeamten, nach dem Verbleib des ehemaligen Kaisers Jianwen forschen. Die Suche sollte fünfzehn Jahre andauern und ohne Ergebnis enden.
Prinz Zhu Di ließ sich zum neuen Kaiser von China ausrufen. Er nahm den Namen Yung-Lo an, was immerwährende Freude bedeutete. Und tatsächlich erlebte China in den zwanzig Jahren seiner Regentschaft eine Zeit des inneren Friedens.
Und der Eunuch Ma He aus Kunyang?
Er hatte sich während der Revolution gegen den jungen Kaiser als willensstarker, unerschrockener Soldat mehrfach ausgezeichnet. Während einer Schlacht in der Nähe von Beiping, an einem Ort, der Zhenglunba hieß, wurde sein Pferd inmitten feindlicher Truppen getötet. Ma He stürzte schwer, rappelte sich jedoch wieder auf und kämpfte sich durch dichte Reihen kaiserlicher Soldaten zurück zu seinem Heer. Er überlebte ohne größere Verletzungen. Prinz Zhu Di verlieh ihm später als Auszeichnung und Anerkennung für den gezeigten Mut und die unbändige Tatkraft den Namen Zheng He.
Der Schwiegervater des Prinzen, General Xu Da, und auch andere hohe Militärs, hatten Ma He allerdings schon eine geraume Zeit zuvor einen ganz anderen Ehrennamen verpasst. Sie nannten ihn Ma San Bao, Ma mit den drei Juwelen. Der Name war bestimmt keine böswillige Anspielung auf den fehlenden Penis mit den beiden Eiern des Eunuchen. Vielmehr war er ein Ausdruck der höchsten Achtung vor der Tapferkeit und der Willensstärke von Ma He. Denn er war mit seinen damals einunddreißig Jahren ein Eunuch, der kämpfen konnte wie ein vollwertiger Mann.
*
Kaiserlicher Befehl von 1402:
»Wir, der Kaiser, ordnen an: Es soll eine Flotte gebaut werden, wie sie einzig in der Welt ist. Sie soll dreißig tausend Soldaten tragen können und die reichen Länder im Westen besuchen. Die Verantwortung für den Bau der Werften, für die Beschaffung des Holzes, für das Anstellen der benötigten Baumeister und Handwerker, wird dem neu ernannten großen Direktor Zheng He übertragen. Wir, der Kaiser, erwarten, dass die Flotte in zwei Jahren bereitsteht.«
So lautete das kaiserliche Edikt im Jahre 1402. Es war der Startpunkt zu einem der größten Abenteuer in der Geschichte der Menschheit.
*
»Ehrenwerter Zheng He. Der ehrenwerte Kaufmann Hsia Yuan-chi bittet dich, ihn in seinem Haus aufzusuchen, wann immer es dir beliebt.«
Der Bote von Hsia Yuan-chi war ihm ein paar Minuten zuvor gemeldet worden und Zheng He hatte nicht gezögert, ihn in seinem Büro in den Longjiang Schiffswerften vorzulassen. Insgeheim hatte er längst mit einer solchen Einladung des reichen Kaufmanns gerechnet, eigentlich seit er von Kaiser Yung-Lo die Anweisung erhalten hatte, die Schatzflotte nicht nur zu bauen, sondern sie auch als oberster Admiral zu führen und auf ihrer ersten Fahrt nach Calicut im fernen Indien zu befehligen. Und so antwortete der große Direktor dem Boten sichtlich zufrieden: »Richte deinem Herrn aus, dass ich ihn noch heute Abend, um acht Uhr, aufsuchen werde.«
»Vielen Dank, ehrenwerter großer Direktor Zheng He. Mein Herr wird entzückt sein, dich zu empfangen.«
Der Bote verließ das Büro rückwärts und begleitet von tiefen Verbeugungen. Zheng He widmete sich bereits wieder seiner Arbeit. Er glich die neuesten Kostenaufstellungen aus den Werften mit den budgetierten Zahlen ab, stellte dabei eine Handvoll Abweichungen fest und schrieb Anweisungen an seine Vorarbeiter. Sie sollten die Differenzen in den nächsten zwei Tagen kontrollieren und ihm Rechenschaft darüber ablegen. Danach widmete sich Zheng He den letzten Frachtaufstellungen. Er hatte für den Bau der Schiffe ein Heer von Administratoren eingesetzt. Sie führten über die gesamte Logistikkette genauestens Buch, vom Schlagen der Bäume im fernen Hunan, über den mühsamen Transport mit Ochsenkarren nach Nanjing, bis hin zur Verarbeitung in die zuvor exakt berechnete Anzahl an Balken und Brettern. So gelang es Zheng He, den Materialverlust in Form von Abfallholz und Diebstählen auf ein Minimum zu senke und rund drei Prozent der Gesamtkosten gegenüber dem Voranschlag einzusparen. Er hatte auch von Anfang an ein Programm zur Sicherung der Qualität eingeführt. Einige Konstrukteure waren für die Überwachung der Richtlinien ausgebildet worden und sandten ihre regelmäßigen Berichte direkt an Zheng He. Sie kontrollierten nicht nur das angelieferte Material auf Fehler, sondern sorgten auch für die zielgerichtete und umsichtige Verarbeitung aller Einzelteile. Jedes Brett, jedes Tau, jedes Stück Segel musste erst ihr Gütesiegel erhalten, bevor es überhaupt auf das Gelände der Werft gelangen durfte. Dank der umsichtig geplanten Anlieferung verkürzte sich die Bauzeit der Schiffe um die Hälfte und Zheng He konnte doppelt so viele Einheiten in derselben Zeit erstellen. Gleichzeitig war sichergestellt, dass die fertigen Dschunken dem höchsten Qualitätsanspruch gerecht wurden. Zheng He war überzeugt davon, die besten Schiffe der Welt gebaut zu haben.
Um halb acht legte der kaiserliche Eunuch das Schreibzeug auf die Seite, wusch sich Gesicht und Hände mit einer duftenden Seife und trocknete sie sorgfältig ab, bevor er sich ein frisches Gewand überzog, aus dem Haus trat und sich in seine ständig bereitstehende Sänfte setzte.
Er traf um Viertel nach acht auf dem Anwesen des Kaufmanns ein, wie es die Höflichkeit gebot. Hsia Yuan-chi erwartete ihn persönlich an der Pforte seines Hauses, eine überaus deutliche Bestätigung dafür, wie wichtig dem Kaufmann die Unterredung mit Zheng He war.
Die beiden so ungleichen Männer traten nach der förmlichen Begrüßung nebeneinander durch das breite Eingangsportal in das große, ganz aus Stein gebaute Haus. Zheng He erschien mit seinen fast zwei Metern Körpergröße, der breiten Brust und der mächtigen Taille wie ein urzeitlicher Riese neben dem feisten, kaum eins siebzig großen Kaufmann. Die Türwächter und Diener des Hauses traten vor Ehrfurcht unwillkürlich einen halben Schritt zurück, als die beiden mächtigen Männer an ihnen vorbeischritten.
Der Kaufmann hatte eine äußerst großzügige Tafel herrichten lassen, die keine Wünsche offenließ. Dutzende von Schälchen und Platten boten viele verschiedene Speisen an. Zheng He erkannte die berühmten kandierten Aale aus Neijang und es fehlten nicht einmal die äußerst seltenen schwarzen Eier der Python aus dem fernen Bengalen. Wie wichtig dem Händler diese Besprechung war, erkannte der kaiserliche Eunuch auch an diesem auserlesenen und äußerst kostspieligen Mahl.
Die beiden Männer setzten sich, bedienten sich ungeniert aus den herrlichen Porzellangefäßen und aßen eine ganze Weile lang, wobei Zheng He angemessen lobende Worte für die delikaten Speisen fand. Beide Männer beherrschten die Etikette der Höflichkeit in Vollendung, gaben sich darin keinerlei Blöße. Es schien allerdings, als ob der Blick des Kaufmanns immer unsteter, zwischendurch aber auch immer wieder lauernd wurde, je länger ihr Beisammensein andauerte.
Endlich fand Hsia Yuan-chi den Mut, das Gespräch auf sein eigentliches Anliegen und den Grund für die Einladung zu lenken.
»Ehrenwerter Zheng He. Es hat mich mit außerordentlicher Freude erfüllt, als ich erfuhr, dass unser göttlicher Kaiser dich zum Admiral der Schatzflotte bestimmt hat. Einen fähigeren Mann für diese verantwortungsvolle Aufgabe dürfte in ganz China kaum zu finden sein.«
Zheng He wusste, dass dies eine glatte Lüge war. Er hatte bereits vor Monaten erfahren, mit welchen Mitteln der Kaufmann versucht hatte, ihn hinter seinem Rücken beim Kaiser anzuschwärzen. Nichts hatte der Händler unversucht gelassen, um einen ihm nahestehenden General als Flottenführer ins Gespräch zu bringen. Es war allerdings selbst auf den zweiten Blick für niemanden am Hof verständlich, warum der Kaiser ausgerechnet ihn, einen in der Seefahrt völlig unerfahrenen Eunuchen, zuerst mit dem Bau der riesigen, Ozean tauglichen Flotte betraut hatte und ihm nun sogar das Kommando übertrug. Doch Kaiser Yung-Lo hatte das Organisationstalent und den Durchsetzungswillen seines Chef-Eunuchen schon vor langer Zeit erkannt und setzte bei diesem Projekt auf dessen Können. Und die bisherigen Erfolge beim reibungslosen Bau der Schiffe gaben dem Kaiser uneingeschränkt Recht. Warum sollte das Multitalent Zheng He darum nicht auch als Kommandant der Flotte großes leisten?
Gelassen und ohne dem Kaufmann seine Gedankengänge zu zeigen, antwortete Zheng He: »Dass die Wahl unseres göttlichen Kaisers Yung-Lo gerade auf mich gefallen ist, hat viele Menschen überrascht, nicht zuletzt auch mich selbst. Das Vertrauen unseres himmlischen Kaisers ist eine hohe Ehre und ein großer Ansporn für mich.«
Die Augen des reichen Kaufmanns funkelten, denn er hatte den leichten Spott aus den Worten des Eunuchen herausgehört, genauso, wie es Zheng He beabsichtigt hatte. Doch Hsia Yuan-chi schluckte den aufsteigenden Groll über den anmaßenden Eunuchen hinunter und lächelte ihn weiterhin auf eine aufgesetzt freundlich wirkende, möglichst gewinnende Art an, die jedoch auch ein wenig schmierig wirkte.
»Wie ich hörte, wird die Schatzflotte eine sehr starke Kampfkraft besitzen. Es sollen mehr als zehntausend Soldaten mitgenommen werden?«
»Weit über zwanzigtausend, ehrenwerter Hsia Yuan-chi.«
»Und bei einer Besichtigung der Werften sah ich auch, dass die Schiffe sehr stark gebaut sind und über eine ausgezeichnete Bewaffnung verfügen, sogar über weitreichende Kanonen.«
»Ja, die Reise über die Ozeane soll von allerlei Gefahren begleitet sein«, antwortete der Eunuch ausweichend. Doch der Händler bohrte sogleich nach.
»Allerdings sollen es allesamt Landkanonen auf Rädern sein, wie ich hörte, und von daher wohl kaum auf den Schiffen zu gebrauchen.«
Hsia Yuan-chi konnte das Lauern in seiner Stimme nicht völlig unterdrücken. Die Neugier brannte zu stark in ihm, endlich herauszufinden, was denn der chinesische Kaiser tatsächlich mit seiner riesigen Schatzflotte beabsichtigte. Sein Erlass sprach bloß von Reisen nach dem Westen und nannte keine spezifischen Gründe dafür. Viele am Hof und in der gesamten Hauptstadt spekulierten darum seit Monaten darüber, was die wirklichen Pläne ihres Herrschers waren.
Wollte er vielleicht die vor langer Zeit verlorene chinesische Provinz Annam zurückerobern? Wollte der Kaiser zu diesem Zweck eine starke Truppe weit im Süden, zum Beispiel in Champa absetzen und von dort aus das Königreich Annam bedrohen, während er gleichzeitig ein Heer von Norden aus durch Burma hindurch aussandte, um auf diese Weise Annam in die Zange zu nehmen? Oder plante Yung-Lo gar einen Feldzug gegen das mächtige Siam? Das expandierende Reich im Süden war bereits den früheren chinesischen Kaisern ein Dorn im Auge gewesen. Siam hatte in der Vergangenheit Teile von Java besetzt und bedrängte seitdem Sumatra.
Es war jedoch auch möglich, dass der Kaiser irgendwelche strategischen Ziele in Indien verfolgte. Vielleicht wollte er die überaus reiche Hafenstadt Calicut im sagenumwobenen Kerala erobern? Doch das Königreich Kerala sollte nicht nur unglaublich reich, sondern auch riesengroß sein, wie erfahrene Kapitäne dem Kaufmann erzählt hatten. Selbst eine Million Soldaten würden kaum ausreichen, um das Land zu erobern.
Möglich war aber auch, dass der Kaiser bloß einige Militärgarnisonen einrichten lassen wollte, vielleicht entlang der Straße von Malakka, um so den Seeweg von Westen her sicherer vor Piratenübergriffe zu machen?
Fragen über Fragen und keine Antworten. Wie immer wussten nur die verdammten Chef-Eunuchen, was wirklich gespielt wurde, denn sie hatten als Einzige freien Zugang zum kaiserlichen Palast und kannten darum alle Geheimnisse. Doch diesmal schwiegen sie sich ebenso aus, wie alle hohen Minister. Es gab im gesamten Umfeld des Kaisers niemanden, der dem Kaufmann Informationen zu den tatsächlichen Zielen der Schatzflotte verkaufen wollte. Das war schlichtweg zum Haare raufen.
Zheng He schien das Lauern in der Stimme von Hsia Yuan-chi überhört zu haben. Jedenfalls beantwortete er die Frage des Kaufmanns völlig gelassen: »Ja, da hast du sicher recht. Die Kanonen sind uns auf See nicht gerade von Nutzen. Doch wir haben selbstverständlich auch Fei tian pen tong an Bord, um jedes feindliche Schiff schon aus weiter Entfernung in Brand zu schießen Darum müssen wir auch keinerlei Furcht vor den Piraten von Chen Zuyi im Süden haben.«
Jetzt war es Zheng He, der den Spieß umgedreht hatte. Er wusste, dass dieser Chen Zuyi ein rotes Tuch für den Kaufmann Hsia Yuan-chi war. Ursprünglich standen sich die beiden noch vor wenigen Jahren als erbitterte Rivalen in China gegenüber, jagten einander die fettesten Handelsverträge und Lizenzen ab und bekämpften sich auf vielen Gebieten. Schließlich entschloss sich eines Tages Chen Zuyi, China für immer den Rücken zu kehren, sich nach Süden abzusetzen und auf Sumatra eine neue Machtbasis zu schaffen. Er hatte sich in der Hafenstadt Palembang niedergelassen und dort begonnen, die ansässigen Piraten zu organisieren. Nach wenigen Monaten beherrschte Chen Zuyi mit seinen Kriegs-Dschunken den Handelsverkehr zwischen Indien und China, zwang alle vorbeifahrenden Handelsschiffe in seinen Hafen, knöpfte ihnen dort hohe Steuern und einen Teil der Ladung ab. Der finanzielle Schaden für den Handel zwischen China und Indien war beträchtlich. Mindestens zehn Millionen Taels im Jahr schöpften die Piraten in Palembang jedes Jahr ab, wie Hsia Yuan-chi schätzte. Und um dieses Geld wurde Chen Zuyi jedes Jahr reicher und mächtiger. Die Schar seiner Anhänger in Palembang und entlang der gesamten Straße von Malakka wuchs auch beständig an und längst hatte sich von dort aus ein verhöhnendes Volkslied verbreitet.
Seinen Refrain kannte man selbst am kaiserlichen Hof:
So mächtig die Kaiser auch sind,
was hat ihre Macht mit uns zu tun?
Den wachsenden Reichtum von Chen Zuyi empfand Kaufmann Hsia Yuan-chi als persönliche Schmach, denn aus einer bereits kräftig ausgepressten Zitrone konnte er hier in China nur noch wenig Saft für sich selbst gewinnen, egal, wie skrupellos er dabei auch vorging.
All das wusste Zheng He längst und so hatte er seit seiner Ernennung zum obersten Befehlshaber der Schatzflotte fast schon ungeduldig auf die Einladung des reichen Kaufmanns gewartet. Dieser durfte sich die Gelegenheit einer starken kaiserlichen Flotte in den Gewässern seines Konkurrenten nicht entgehen lassen. Der Kaufmann wusste, Zheng He besaß die Macht und die Möglichkeit, eine Konfrontation mit den Piraten anzuzetteln und sie für alle Zeiten auszuschalten. Für den überaus mächtigen Kriegsverband des Kaisers waren die paar tausend Freibeuter doch bloß ein kleiner Happen.
Zheng He genoss das Gespräch mit dem Kaufmann je länger es dauerte. Es war für ihn äußerst amüsant, Hsia Yuan-chi bei seinem bevorstehenden Bestechungsversuch zuzusehen und zu beobachten.
»Chen Zuyi ist ein gemeiner Pirat«, stellte Hsia Yuan-chi verächtlich fest, »und mit den zu Unrecht erhobenen Steuern auf den Handelsgütern und den Diebstählen schadet er China in ganz besonderem Masse.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung, ehrenwerter Hsia Yuan-chi«, pflichtete ihm der Chef-Eunuch lächelnd zu und hatte damit sein Netz endgültig ausgelegt. Der Kaufmann musste nur noch hinein schwimmen. Äußerlich konnte man dem großen Direktor der Schatzflotte allerdings nichts von seinen Gedanken ansehen. Freundlich blickte er seinem Gegenüber ins Gesicht und lächelte ihn unbestimmt an. Der versuchte selbstverständlich, die Gedanken hinter der Stirn des Eunuchen zu lesen, doch er hatte keinen Erfolg damit.
»Vielleicht muss sich die Schatzflotte trotz ihrer starken Bewaffnung gegen Angriffe dieses Piraten wehren?«, unternahm der Kaufmann einen taktischen Vorstoß. Hoffnung hatte sich in seine Stimme gemischt. Doch Zheng He parierte diesen plumpen Versuch umgehend, lächelte den Kaufmann fast schon spöttisch an und meinte leichthin: »Nach unseren Informationen besitzt Chen Zuyi keine drei Dutzend Kriegsschiffe mit weniger als zehntausend Mann Besatzung. Unsere Flotte verfügt über fünfmal mehr Kriegsschiffe und fast dreimal so vielen Soldaten. Er wird es kaum auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen.«
Zur Unterstreichung seiner Worte schlenkerte Zheng He kurz mit seiner rechten Hand, so als wenn er eine Fliege von einem Stück Kuchen verscheuchen müsste.
Hsia Yuan-chi war enttäuscht, sah seinen Gast jedoch weiterhin aufmerksam an. Wie konnte er dieses Gespräch mit dem mächtigen Chef-Eunuchen bloß in die von ihm gewünschte Richtung lenken? Zheng He musste im Grunde doch ganz genau wissen, warum er ihn zu dieser Unterredung eingeladen und das Gespräch auf den verhassten Chen Zuyi gelenkt hatte. Und mit der Annahme der Einladung hatte er doch eigentlich bereits zugestimmt. Warum spielte der große Direktor bloß mit ihm herum? Oder war er vielleicht tatsächlich so naiv und ohne Argwohn?
In Gedanken versunken ergriff der Kaufmann mit seinen Essstäbchen eine mit Reis gefüllte in Kokosfett gebratene und mit Safran und Sesam abgeschmeckte Jakobsmuschel, schob sie in den Mund und kaute auf ihr herum. Zheng He musste ein spöttisches Lächeln unterdrücken, denn Hsia Yuan-chi sah in diesem Moment nicht wie der mächtigste und reichste Kaufmann von ganz Chinas aus, sondern wie ein äußerst nachdenklicher Esel, der mit einem allzu schweren Karren im Tal vor einer steilen Bergstraße stand und nicht mehr weiterwusste. Es war wohl an der Zeit, ihm den entscheidenden Ball zuzuwerfen.
»Allerdings könnte man eine Auseinandersetzung mit den Piraten auch ganz bewusst provozieren und so das lästige Problem im Süden für alle Zeiten beseitigen«, ließ Zheng He verlauten. Das war die unverhohlene Aufforderung an den Kaufmann, ihn, den obersten Kommandanten der kaiserlichen Flotte zu bestechen und auf diese Weise den verhassten Konkurrenten auf Sumatra aus dem Weg räumen zu lassen.
Die bisher unstet flackernden Augen von Hsia Yuan-chi richteten sich verwundert auf den Eunuchen, suchten in dessen Gesicht nach Bestätigung für das ungeheuerliche Angebot. War es möglich, dass sich der Chef-Eunuch bestechen ließ? War dieser besondere Vertraute und Günstling des chinesischen Kaisers tatsächlich mit Geld zu locken?
Zheng He saß stumm und abwartend da, blickte sein Gegenüber bloß ruhig an und wartete auf dessen Antwort, gab dem Händler so die Gewissheit, dass sich dieser ganz bestimmt nicht verhört hatte. Ja, er, Zheng He, der große Direktor und oberster Befehlshaber der Schatzflotte war in dieser Angelegenheit durchaus käuflich.
Sollte Hsia Yuan-chi den Bestechungsversuch also wagen?
Noch zögerte der Kaufmann, schien in sich hinein zu horchen. Und so sah sich Zheng He genötigt, nachzudoppeln.
»Selbstverständlich wäre ein solches Vorgehen kaum im Sinne unseres himmlischen Kaisers. Unsere Vereinbarung dürfte ihm selbstverständlich nicht zu Ohren kommen. Es müsste wie ein Angriff der Piraten auf die Flotte aussehen.«
Er sah den Kaufmann nun seinerseits abschätzend an. War der Mann nun endlich bereit, den unsicheren Pfad eines Bestechungsversuchs zu gehen?
»Ja, ehrenwerter Zheng He, ein solches Abkommen müsste tatsächlich vertraulich behandelt werden«, antwortete ihm Hsia Yuan-chi vorsichtig abwägend, »doch wäre es überhaupt durchführbar? So viel ich gehört habe, werden die Truppen der Schatzflotte von Zhu Zhen und Wang Heng geführt, zwei hervorragende und als äußert besonnen geltende Männer.«
»Ja, das stimmt. Und sie sind zudem absolut unbestechlich. Doch auf See bin ich der oberste Kommandant und selbst die beiden militärischen Kommissare Zhu und Wang unterstehen meinem Befehl. Nur bei Landoperationen können sie mich gemäß kaiserlichem Befehl überstimmen.«
Damit war alles gesagt und es lag nun an Hsia Yuan-chi, den entscheidenden Schritt zu unternehmen. Falls der Kaiser jemals vom Bestechungsversuch seines Chef-Eunuchen erfahren sollte, wären der Kaufmann und seine gesamte Familie verloren. Der Händler dachte deshalb weiterhin angestrengt darüber nach, ob er es wirklich wagen durfte. Doch dann entschloss er sich plötzlich das Risiko einzugehen. Der zusätzliche Gewinn auf den Importgütern ohne die Piraten in Palembang war selbst für den überaus reichen Kaufmann kaum vorstellbar, so riesig musste er ausfallen. Dafür lohnte sich jedes Risiko.
Hsia Yuan-chi leckte sich über die trocken gewordenen Lippen und fragte dann heiser geworden: »Wie viel würde Ihre Unterstützung, ehrenwerter Zheng He, denn kosten?«
Die Frage stand im Raum. Zheng He ließ sie dort erst einmal stehen, widmete sich der kleinen Porzellantasse mit dem warmen Reiswein, der köstlich nach Aprikosen und Mandeln duftete. Er nippte genüsslich davon und stellte die Tasse danach vorsichtig auf das Tellerchen zurück. Dann wandte er sein Gesicht wieder dem Kaufmann zu und lächelte zufrieden.
»Wie viel wäre Ihnen, ehrenwerter Hsia Yuan-chi, die Beseitigung von Chen Zuyi denn Wert?«
Seine Gegenfrage kam ihm leicht über die Lippen, so als wenn sie sich über die kommende Reisernte unterhalten würden und nicht einen Hochverrat am Kaiser planten.
»Fünfhunderttausend Taels Silber jetzt und noch einmal fünfhunderttausend nach Ihrer Rückkehr.«
Der Kaufmann hatte sich endgültig für die Flucht nach vorne entschieden und mit seinem Angebot eine erste Marke gesetzt. Eine Million Taels in Silber war ein fantastisch hohes Bestechungsgeld. Doch Hsia Yuan-chi war sich sicher, dass er diesen Betrag ohne die Piraten im Süden in wenigen Monaten zusätzlich verdienen konnte. Falls ihm Zheng He aber bloß eine Falle gestellt hatte, so war er mit diesem offenen Bestechungsversuch bereits verloren. Die Anspannung stand dem Kaufmann darum ins Gesicht geschrieben und er begann zu schwitzen. Seine Augen flackerten unruhig, während er sich mit dem Ärmel fahrig über die Stirn fuhr und auf die Antwort des Chef-Eunuchen wartete. Denn alles hing von dessen Erwiderung ab, Leben oder Tod, riesiger Gewinn oder unendliche Schmach für ihn, seine Familie und alle seine Vorfahren. Warum antwortete ihm der verdammte Eunuch immer noch nicht? Warum hockte der Kerl einfach da und sah ihn bloß dämlich lächelnd an? Verdammt noch Mal. War er vielleicht doch in eine Falle getreten?
Zheng He ließ sich mit seiner Antwort bewusst viel Zeit, nahm nun seinerseits erst einmal eine der köstlichen Jakobsmuscheln in den Mund, kaute sie mit sichtlichem Genuss und Vergnügen, schluckte sie und nickte dem Kaufmann dann zufrieden zu.
»Lassen Sie uns, ehrenwerter Hsia Yuan-chi, verhandeln.«
*
»Ist alles für die Reise vorbereitet?«
Die Stimme des mächtigen chinesischen Kaisers Yung-Lo klang ungeduldig und Zheng He senkte seine Stirn unwillkürlich noch ein Stück tiefer zu Boden. Er kannte seinen Herrn schon seit über zwanzig Jahren, hatte ihm immer treu gedient und war von ihm mehrfach ausgezeichnet und belohnt worden. Doch als Untertan des himmlischen Kaisers musste er entsprechend der Etikette vor ihm knien und durfte ihn nicht anblicken, so wie alle anderen Untertanen.
»Ja, oh Himmlischer«, sprach er zur Marmorplatte vor seinem Gesicht, »die Schiffe sind gerüstet, die Männer ausgebildet, die Vorräte verstaut. Und wir werden Handelswaren im Werte von drei Millionen Taels an Bord nehmen.«
»Und die tausend Holzkisten?«
»Sie sind bereits auf dem Hauptschiff untergebracht und werden von fünfhundert ausgesuchten Männern bewacht. Niemand wird sich den Kisten nähern können.«
»Viel hängt davon ab, dass du Erfolg hast, Zheng He«, sprach der Kaiser väterlich und ermahnend zugleich. Er mochte den Eunuchen seit seinen ersten Tagen an seinem Prinzenhof in Beiping. Er war klug, belesen, nicht allzu religiös oder abergläubisch, jedoch energisch und absolut furchtlos, alles Eigenschaften, die Yung-Lo sehr schätzte. Wäre er immer noch Prinz, so wären er und dieser hochaufgeschossene Chef-Eunuch längst zu Freunden geworden.
»Ja, oh Himmlischer, die Verantwortung ist mir sehr bewusst, doch gleichzeitig beflügelt mich das Vertrauen seiner Göttlichkeit in meine bescheidene Person.«
»Ja, ja«, winkte der Kaiser ungeduldig ab, denn er konnte übertriebene Unterwürfigkeit nicht ausstehen, auch wenn er sie ständig und von allen Seiten hören musste, »mich interessiert vielmehr, wie viel Hsia Yuan-chi letztendlich ausgespuckt hat. Wie mir berichtet wurde, hast du dich gestern mit ihm in seinem Haus getroffen. Hast du gut verhandelt?«
Es war von Anfang an der Plan des Kaisers gewesen, seine Schatzflotte nicht durch den Staat, sondern durch jemand anderen bezahlen zu lassen. Auch er wusste von der Rivalität zwischen Hsia Yuan-chi und Chen Zuyi und auch wenn er sich als Regent normalerweise aus den kleinlichen Geschäften der Händler heraushielt, so kam ihm diese Gelegenheit, seinen Staatshaushalt zu schonen, äußerst gelegen.
»Seine Kostenbeteiligung beträgt eine Million Tales in Gold und drei Millionen Taels in Silber. Der Betrag wurde mir heute Mittag übergeben und ist bereits der kaiserlichen Schatzkammer zugeführt.«
Die Stimme von Zheng He konnte den Anflug von Triumph nicht ganz unterdrücken. Nach mehreren Stunden nervenaufreibender Verhandlung hatte er einen gewaltigen Berg an Gold und Silber aus dem Kaufmann herausgeschlagen.
Entweder hatte der Kaiser den nur mühsam unterdrückten Stolz in der Stimme von Zheng He nicht erkannt oder er war ihm egal, denn nun begannen seine Augen unternehmungslustig und gleichzeitig gierig zu funkeln.
»So viel konnte der Kerl bezahlen? Meine Güte. Unsere Steuern scheinen wohl immer noch nicht hoch genug zu sein, wenn ein einfacher Händler so viel Reichtum anhäufen kann. Aber gut. Du hast meine Erwartungen erfüllt, Zheng He.«
Der Chef-Eunuch wusste, dass dies eine starke Untertreibung war. Der Bau der gesamten Flotte hatte einiges weniger als das Bestechungsgeld des Kaufmanns gekostet und selbst wenn man die Ausgaben für die siebentausend Mann Besatzung, für die über zwanzigtausend Soldaten und die tausenden von Tonnen an Lebensmitteln für die lange Reise hinzuaddierte, so würde das Geld des Kaufmanns immer noch sämtliche Kosten für die Fahrt nach Indien decken. Doch von seinem Kaiser sollte man nicht allzu viel Dankbarkeit erwarten. Auch das war dem Eunuchen bewusst.
»Dann wünsche ich dir und der Flotte viel Erfolg in Calicut. Ich bin mir sicher, dass du mich auch weiterhin nicht enttäuschen wirst.«
Die Worte des Kaisers beendeten ihre Unterredung. Zheng He neigte seine Stirn noch einmal bis auf den Marmor, dann kroch er auf Knien und Händen gestützt rückwärts zur Tür des privaten Besprechungszimmers. Erst dort stand er auf, öffnete sie, trat hinaus und schloss sie leise hinter sich. Allein der Umstand, dass ihn sein Kaiser unter vier Augen und ohne Wachsoldaten empfangen hatte, zeigte das unerschütterliche Vertrauen, das dieser seinem großen Direktor entgegenbrachte.
Kaiser Yung-Lo saß immer noch auf dem breiten und mit weichen, seidenen Kissen gestopften Sessel. Er schien nachzudenken, ließ sich auch nicht vom eintretenden Diener mit seinem Tablett und dem darauf stehenden, reich geschmückten Kelch ablenken. Mit halb geschlossenen Augenlidern griff er tastend nach dem Wein und trank einen langen Schluck. Dann öffneten sich seine Lider, die Augen begannen zu funkeln und sein Mund verzog sich voller Triumph.
Ich, Kaiser Yung-Lo, werde bald Herrscher über den gesamten Erdball sein.