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London 13. Januar 2000 – Tempel der United Grand Lodge / Büro des Sekretärs

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»Es ist mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Sie in die Besonderheiten eines Dekadenprojekts einzuführen, Mister Lederer.«

Jules saß dem Generalsekretär der United Grand Lodge gegenüber und hatte seinen Laptop vor sich auf dem Besprechungstisch stehen. Dass ihn sein Logenbruder an diesem Morgen siezte, empfand er als merkwürdig, denn im Tempel duzten sich alle Freimaurer untereinander und die allermeisten hielten es auch. Außerhalb der Loge so. Doch wenn man von jemandem eine neue Regel aufgezwungen bekam, sollte man erst einmal genau hinhören, bevor man sie zu ändern versuchte. Es zahlte sich meistens aus, die Beweggründe des anderen herauszufinden. Darum blickte Jules den Sekretär nur aufmerksam an und nickte.

»Auf dieser CD hier finden Sie alles, was ich Ihnen gleich erzählen werde, auch noch in schriftlicher Form vor.«

Damit schob ihm der Sekretär eine Kunststoffhülle über das Tischblatt. Jules nahm sie auf und steckte sie unbesehen in die Laptop-Tasche.

»Die Dekadenaufträge der United Grand Lodge sind eine ganz besondere Chance für jeden Projektleiter. Man kann sich damit ein hohes Ansehen verdienen ...«

»... oder man scheitert kläglich und wird von allen anderen ausgelacht«, warf Jules grimmiger als gewollt ein.

»... oder man scheitert und wird von allen anderen ausgelacht«, wiederholte der Generalsekretär ungerührt und ohne ein Lächeln auf den Lippen.

»Als Projektleiter verfügen Sie über umfassende Gestaltungsmöglichkeiten. Überwacht wird Ihre Tätigkeit durch den Ausschuss und durch meine Person. An unserer Vollversammlung am letzten Montagabend haben Sie erwähnt, dass Ihnen jedes Mitglied der United Grand Lodge einhundert Arbeitsstunden schuldig sei. Das stimmt so nicht ganz. Im Prinzip schuldet Ihnen jedes Mitglied jeder Freimaurerloge in Großbritannien die erwähnten hundert Stunden. Das Schreiben an die über siebentausend Logen unseres Landes mit der Bekanntgabe Ihres Namens als gewählter Projektleiter wurde gestern abgeschickt. In spätestens einem Monat kennt jedes Mitglied Ihren Namen.«

»Doch es bringt wohl kaum etwas, Leute für bloß einhundert Stunden innerhalb von zehn Jahren in ein Projekt einzubinden?«, stellte Jules mehr fest, als dass er fragte.

»Ganz wie Sie meinen, Mister Lederer«, gab der Grand Secretary ungerührt zurück.

»Hat eigentlich schon einmal jemand versucht, ein Dekadenprojekt rein auf der Basis von Fronarbeit der Mitglieder aufzubauen und zu leiten?«

»Nein, soviel ich weiß, noch nie. Doch alles beginnt mit einem Anfang… «, gab sein Gegenüber ihm unbestimmt zurück.

»... nur die Wurst, die hat zwei«, ergänzte Jules in abgewandelter Erinnerung an einen älteren Song aus Deutschland, worauf ihn der Sekretär der United Grand Lodge etwas irritiert anblickte, dann aber unbeirrt weiterfuhr.

»Auf der CD finden Sie auch alle Informationen zu einem Bankkonto der Loge, das wir für Projekt 32 einrichten ließen. Sie haben über das Internet elektronischen Zugang zu diesem Konto, brauchen also nicht für eine Unterschrift bei der Bank vorbei zu gehen. Derzeit liegen auf dem Konto eine Million Pfund. Der finanzielle Rahmen für unsere Dekadenprojekte liegt bekanntlich bei zwanzig Millionen Pfund, wobei Sie vor jedem Abruf einer neuen Tranche jeweils einen Status-Bericht zu meinen Händen einreichen müssen. Daraus muss die exakte Verwendung der bisherigen Gelder hervorgehen. Ich gebe dann die nächste Überweisung frei und sie wird Ihnen auf das Konto übertragen. Falls sich abzeichnen sollte, dass die zwanzig Millionen Pfund nicht ausreichen, müssen Sie einen entsprechenden Antrag um Ausweitung des Kreditrahmens an den Ausschuss stellen. Rechnen Sie in diesem Fall jedoch mit einem Zeitraum von mindestens drei Monaten, bis darüber entschieden werden kann.«

Er machte eine kurze Pause, um Jules Gelegenheit für eine Frage zu geben. Doch dieser blickte den Sekretär weiterhin abwartend an. In den Augen des Schweizers zeigte sich jedoch bereits eine Spur von Resignation.

»Wir erwarten im Übrigen, dass Sie die Buchhaltung des Projekts nach den Richtlinien des IFRS führen lassen. Sie müssen mir auch jeden Monat die aktuelle Bilanz und Erfolgsrechnung einreichen, vierteljährlich ergänzt mit einer Geldflussrechnung. Rüsten Sie Ihr Projektbüro also bitte entsprechend ein. Es ist immer wieder ärgerlich, wenn ich solch grundsätzlichen Dingen nachrennen muss.«

Jules nickte düster, nicht wegen der verlangten Rechnungslegungsvorschrift, sondern generell wegen dem administrativen Aufwand, der ihn in den kommenden zehn Jahren begleiten würde. Als selbständiger Problemlöser war er es gewohnt, mit seinen Kunden direkt und möglichst formlos zu kommunizieren. Der ganze Bürokram war ihm verhasst und einer der wichtigeren Gründe gewesen, warum er vor Jahren den gut organisierten und äußerst interessanten Job bei der Zürcher Anwaltskanzlei aufgegeben und sich selbständig gemacht hatte.

»Jährlich, im Juni, findet im Übrigen eine Revision der Buchhaltung statt. Ich bitte Sie deshalb, den Jahresabschluss jeweils bis Ende Mai bereitstellen zu lassen. Einen umfangreichen Jahresbericht nach IFRS über den Projektfortschritt können Sie sich allerdings sparen...«, Jules atmete etwas auf, »... denn der Ausschuss erwartet diesen selbstverständlich vierteljährlich.«

Jules ließ seine Schultern noch tiefer sinken.

»Haben Sie noch eine Frage an mich?«, hörte er den Sekretär anfügen. Jules schrak aus seiner steigenden Lethargie auf und blickte auf den Bildschirm seines Laptops. Die Textverarbeitung von OpenOffice war hochgefahren und auf der ersten Zeile stand PROJEKT 32, in Arial 11.5 und fett. Sonst war die Seite immer noch leer.

»Äh, nein, Herr Generalsekretär. Ich denke, alles Notwendige finde ich wohl auf der CD.«

»Dann wünsche ich Ihnen einen erfolgreichen Start«, wurde er vom Sekretär verabschiedet. Jules klappte seinen Laptop zu und verstaute ihn in der Tasche. Dann reichte er dem Generalsekretär die Hand zum Abschied.

»Eine Frage hätte ich doch noch. Projekt 31 endete vor zwei Jahren in einem Desaster. Einige ältere Logenmitglieder haben mir erklärt, dass auch die Projekte 29 und 30 keinen Erfolg brachten und nur viel Geld und Zeit gekostet haben.«

Der Generalsekretär nickte zustimmend zu seinen Worten und hatte zum ersten Mal während ihres Gesprächs etwas Ähnliches wie ein Lächeln im Gesicht stehen, wartete dabei sichtlich auf die angekündigte Frage.

»War überhaupt jemals eines dieser Projekte erfolgreich? Ich meine, war der Ausschuss oder die Vollversammlung zu irgendeiner Zeit jemals zufrieden mit dem abgelieferten Ergebnis eines Dekadenprojekts?«

»Diese Frage habe ich, ehrlich gesagt, erwartet, Mister Lederer. So viel ich aus den Aufzeichnungen meiner Vorgänger erfahren konnte, liefert etwa jedes fünfte Projekt ein allseits anerkanntes, positives Ergebnis. Bei weiteren dreißig Prozent fallen die Antworten befriedigend aus. Doch bei der Hälfte der Projekte sind die Leiter regelmäßig überfordert und scheitern an der Aufgabe.«

Jules blickte den Mann nachdenklich an, nagte dabei an seiner Unterlippe und schien abzuwägen.

»Vier zu eins also? Na gut. Immerhin eine größere Chance als ein Schneeball in der Hölle.«

*

In den nächsten Tagen und Wochen begann Jules das Projekt zu organisieren. Zurück in der Schweiz mietete er sich Büroflächen in einem neuen Gewerbegebiet nahe Lausanne. Dann heuerte er Ruth Schnetzler an, eine Buchhalterin mit Fachausweis, die er seit vielen Jahren kannte. Ruth würde das zentrale Projektbüro führen und dafür sorgen, dass die Zahlen jederzeit griffbereit vorlagen und dass sie vor allem stimmten. Für ihre Infrastruktur an Büromöbeln und Geräten musste Ruth selber besorgt sein. Jules richtete ihr den Zugang auf das Bankkonto des Projekts ein und gab ihr schriftlich die notwendigen finanziellen Vollmachten, damit sie bei Bedarf selbständig und ohne Rücksprache mit ihm Infrastruktur besorgen und notwendige Hilfskräfte einstellen oder Dienstleistungen einkaufen konnte.

Gemeinsam engagierten sie eine Woche später Jean Bapte, einen Informatik-Studenten. Er würde den Internetauftritt für Projekt 32 aufbauen und später betreuen. Denn für Jules war von Anfang an klar, dass nur dieses Medium den Informationsaustausch der verschiedenen für das Projekt notwendigen Expertenteams sicherstellen konnte.

Lederer besorgte sich in diesen Tagen aber auch sämtliche Bücher, die er über Zheng He und die chinesische Schatzflotte finden konnte.

Je mehr er sich in die Geschichte des Eunuchen hineinlas, umso mehr faszinierte ihn die gestellte Aufgabe der Loge. Es rankten sich so viele Geheimnisse um das Leben und Wirken dieser herausragenden Persönlichkeit. Das war ganz nach dem Geschmack des Schweizers und bald einmal war er Henry Huxley nicht mehr allzu böse, dass er ihn als Projektleiter vorgeschlagen hatte.

Als Junge kam Ma He, wie Zheng He damals hieß, an den chinesischen Kaiserhof. Hier zeichnete er sich durch Intelligenz, Ehrgeiz und strategische und organisatorische Fähigkeiten aus. 1403 wurde er vom Kaiser beauftragt, eine Flotte bauen zu lassen. Und in den nächsten dreißig Jahren befuhr er mit ihr siebenmal die Weltmeere, stieß mit seinen Schiffen zumindest bis zur Ostküste von Afrika vor. Manche Forscher behaupteten sogar, dem chinesischen Seefahrer wäre die erste Erdumrundung gelungen und er hätte zudem die Arktis und die Antarktis erforscht, die Karibik und Australien besucht und sogar den Westen Amerikas erreicht und besiedeln lassen. Damit wäre Zheng He den europäischen Entdeckern nicht nur um viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte voraus gewesen. Er hätte gleichzeitig zu den Menschen gehört, die in ihrem Leben am meisten geleistet hätten.

Schon während dieser ersten Annäherung an das Thema machte sich Jules beständig Notizen. Er suchte nach dem richtigen Schlüssel für eine sinnvolle Strukturierung des Projekts, für den Aufbau und die Vorgehensweise. Welche Fachteams in welcher Zusammensetzung sollten welchen zentralen Fragen nachspüren? Wie konnte man an stichhaltige Beweise herankommen, wenn die Taten der Chinesen sechshundert Jahre in der Vergangenheit lagen?

Ein wichtiger Schlüssel zur Lösung all der Fragen konnte im Grabmal von Zheng He zu finden sein. Wie Jules erfuhr, hatte man damals in der alten Hauptstadt Nanjing ein Mausoleum für den Seefahrer errichtet, nicht weit von den Werftanlagen entfernt, in denen er die Schiffe bauen ließ. Doch das Mausoleum war nachweislich nie benutzt worden. Es gab nicht einmal gesicherte Daten darüber, wann, wie und wo Zheng He gestorben war. Obwohl er zu den einflussreichsten chinesischen Beamten seiner Zeit gehört hatte, wusste man nicht, ob er 1433 auf seiner letzten Fahrt in den Westen verstorben und irgendwo begraben lag oder doch irgendwann nach China zurückgekehrt war. Die kaiserlichen Aufzeichnungen bewiesen jedoch, dass Zheng He nicht nur Seefahrer, sondern auch oberster Kommandant der Schutztruppen von Nanjing war. Dieser Posten wurde nachweislich erst 1435 neu besetzt. Zheng He musste also zwischen 1433 und 1435 gestorben sein, jedoch kaum in China, sondern eher im Ausland. Sonst wäre sein Mausoleum wohl kaum leer geblieben. Entsprechend unsicher und gewagt waren darum sämtliche Spekulationen darüber, wo sein Grab liegen konnte, denn selbst eine Seebestattung lag durchaus im Bereich des Möglichen.

Die gestellte Aufgabe wurde durch zwei Umstände weiter erschwert, wie Jules in einem der Bücher las. Denn die chinesischen Kaiser hielten nicht allzu viel von der Wahrheit und fälschten regelmäßig die Aufzeichnungen in den Akten. Zudem wurde die Geschichte Chinas erst von der Hang Dynastie, ab dem Jahr 1650, systematisch erforscht und aufgezeichnet. Das aber war mehr als zweihundert Jahre nach dem Verschwinden von Zheng He aus der Geschichte.

Könnte man sein Grab jedoch aufspüren, so lägen darin wahrscheinlich Beweise für den tatsächlichen Umfang seiner Fahrten, irgendwelche Artefakte oder Schriftrollen. Viele Historiker, Forscher und Schatzsucher hatten sich in den vergangenen Jahrzehnten darum auf die Suche nach seinem Bestattungsort gemacht. Sie alle waren gescheitert. Wie aber sollte er das schaffen, was so vielen Experten misslungen war?

An diesem kalten Sonntagmorgen stieg Jules die Hügel von Morges hinauf, bewegte sich zwischen den endlos scheinenden Reihen von Rebstöcken, glitt auf dem gefrorenen Februarboden immer wieder aus und musste sich mit den Händen am Boden abfangen, schrammte sich die Haut an den scharfen Kanten der Steine und der Erdkruste auf. Trotzdem kehrte er nicht um, stapfte breitbeinig weiter, wirkte dabei trotzig und verbissen.

Zheng He hatte einige Dutzend riesiger Dschunken und hunderte von Kriegs- und Versorgungsschiffen bauen lassen, zwar im Auftrag des Kaisers, jedoch gleichzeitig gegen den Widerstand der Mandarinen. Die chinesische Beamtenschaft verwaltete damals das Reich, während die Eunuchen im Wesentlichen nur für den Kaiserhof zuständig waren und manchmal für Sonderaufgaben und diplomatische Missionen eingesetzt wurden. Dass ausgerechnet ein Eunuch ein solch gewaltiges, nautisches Projekt geleitet hatte und nicht einer der hohen Beamten oder ein Militär, musste die Kluft zwischen den beiden Lagern noch verschärft haben. Die Mandarinen, ganz dem konfuzianischen Gedankengut verhaftet, lehnten Expeditionen ins Ausland generell ab, während die weltoffenen Eunuchen darin wohl eine große Chance für das Reich sahen. Wie riesig musste wohl das Pflichtbewusstsein und die Willenskraft dieses Zheng He gewesen sein, gegen alle Widerstände in der Verwaltung zuerst in weit entfernten Waldgebieten hunderttausende von Bäumen fällen zu lassen, sie nach Nanjing zu flössen und hier in eine riesige Flotte zu verwandeln?

Ja, Jules spürte an diesem Sonntagmorgen, hoch über dem Städtchen Morges, ein wenig vom Geist dieses chinesischen Pioniers. Mit jedem Schritt, jedem neuerlichen Ausgleiten und Auffangen fühlte er sich dem Wesen des Eunuchen ein kleines Stückchen näher verbunden. Er war bestimmt ein Machtmensch gewesen, dieser Zheng He, vielleicht sogar skrupellos bis hin zu gewissenloser Menschenverachtung. Doch ebenso sicher musste er auch Poet und Träumer gewesen sein. Denn nur schöpferische Menschen sind zu wirklich großen Taten befähigt.

Als Jules auf der Hügelspitze ankam, hatten sich die letzten Nebelfetzen über dem Genfersee aufgelöst und das Wasser begann in der kalten, klaren Luft verführerisch zu glitzern. Jules stellte sich einen Moment lang vor, wie Zheng He vor vielen Jahrhunderten vielleicht selbst auch auf einem solchen Hügel stand und stolz auf seine Werftanlagen hinunterschaute, sich ein Meer von Schiffen betrachtete, die auf sein Geheiß hin gebaut worden waren, eine riesige Schatzflotte, die fast dreißigtausend Menschen befördern sollte und die er für Entdeckungen und Eroberungen gleichermaßen einsetzen konnte.

Plötzlich erfasste den Schweizer ein starkes Fernweh, einen inneren Drang, für sich selbst die Welt neu zu entdecken und zu erobern. Dieses Gefühl entsprang zuerst in seiner Bauchhöhle, breitete sich dann jedoch rasend schnell aus und stieg hoch. Jules atmete tief ein. Sein Brustkorb weitete sich, so als müsste er unsichtbare Fesseln sprengen, die ihn bislang einschnürten. Befreit stieß er die Luft aus, spürte gleichzeitig, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete, der wie ein Korken auf den Gefühlen in seiner Brust saß, sie nicht weiter hochsteigen ließ. Jules schluckte mühsam und trocken und auf einmal war dieser Druck weg, wurde abgelöst von einem warmen, weichen Strom, der sich langsam bis zu seinem Gehirn hoch ausbreitete. Ein unglaubliches Glücksgefühl überkam den Schweizer, verlieh ihm Ruhe und Zuversicht für seine kommenden Aufgaben im Projekt 32.

War es dem großen chinesischen Seefahrer vor sechshundert Jahren beim Anblick seiner Flotte vielleicht ebenso ergangen? Hatte auch er große Zweifel zu bekämpfen und seine ganze Kraft erst bündeln müssen?

Die große Fahrt

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