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Montag, 23. Juni 2008

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Die Einladung von Wladimir Sokolow war letzten Herbst eingetroffen, als Alabima hochschwanger war und sie unmöglich reisen konnten. Die Geburt ihrer Tochter Alina verlief drei Wochen später ohne Probleme und das kleine Mädchen wuchs seitdem prächtig heran. So sprach diesen Sommer eigentlich nichts mehr gegen einen Besuch des früheren Auftraggebers von Jules. Deshalb machte sich Familie Lederer aus La Tour-de-Peilz am schönen Genfersee gelegen an diesem Morgen ans Packen der Koffer.

»Hast du mein Waschzeug schon verstaut?«, rief Chufu aus seinem Zimmer im ersten Stock in die Wohnhalle hinunter. Jules stand zwischen einem losen Haufen von Koffern und blickte sich verzweifelt um.

»Ja, ich glaub schon. Du hast es doch zu deinem Sportzeug gelegt, oder?«

»Zum Sportzeug? Nein. Meine Sportsachen liegen immer noch hier oben auf dem Bett. Doch das Waschzeug ist bereits weg. Aber mal eine andere Frage: Hast du noch einen leeren Koffer für mich übrig?«

»Noch einen Koffer, Chufu?«, Jules Stimme verriet eine rasch anschwellende Verzweiflung, »wofür brauchst du denn den? Ich glaube, du hast uns falsch verstanden. Wir ziehen nicht um, sondern machen bloß vierzehn Tage Urlaub in Moskau«, und Jules fügte mit einem bissigen Ton hinzu, »du kannst deine Wintersachen und die Skischuhe also ruhig hierlassen.«

Wie die meisten Menschen, die in ihrer Kindheit wenig besessen haben, neigte auch ihr siebzehnjähriger Adoptivsohn dazu, alles und jedes was ihm in die Hände fiel zu horten. Es hatte Monate gedauert, ihm das Anlegen von Vorräten an Esswaren in seinem Zimmer abzugewöhnen. Immer wieder klaubte er aus den Schränken in der Küche Schokolade und andere Süßigkeiten zusammen und versteckte sie in der Kommode unter seiner Unterwäsche oder im Schrank zwischen den Schuhen. Für schlechte Zeiten, hatte er immer wieder achselzuckend und mit einem unschuldigen Lächeln auf den Lippen gemeint.

Jetzt hätte er wohl am liebsten auch noch seine Mini-Stereoanlage und die Playstation in den Urlaub mitgenommen, wahrscheinlich zusammen mit seiner Sammlung an alten Herman Comics. Jules wollte gerade eine diesbezüglich bissige Bemerkung hoch rufen, als seine Frau Alabima mit der kleinen Alina auf dem Arm aus dem Wohnzimmer zu ihm in den Flur trat.

»Mein Gott, Jules. Ihr Männer seid aber auch Chaoten. Ihr sollt doch einfach euer Zeug reisefertig machen. Ist das denn so schwer? Da frag ich mich doch, wie du früher als Junggeselle deine Koffer ganz allein packen konntest?«

»Das ist bloß alles Chufus schuld«, versuchte Jules abzuwiegeln, »der würde doch noch die Schmutzwäsche aus dem Wäschekorb einpacken, wenn ich ihn nur ließe«

»Gar nicht wahr«, tönte es aus dem ersten Stock herunter. Der Sohnemann hatte die Antwort seines Adoptivvaters dummerweise gehört, »Jules spielt hier den großen Organisator, bringt aber selbst nichts auf die Reihe und lässt mir in den Koffern kaum Platz für das Notwendigste. Ich werde in Moskau nackt herumlaufen müssen.«

Jules zuckte ergeben mit den Schultern und flüsterte seiner Frau zu »Schlimmer als jede Diva«, worauf ihm Alabima über zwei große Hartschalenkoffer hinweg die Tochter entgegenstreckte.

»Gib deinem gestressten Vater mal einen dicken Kuss, Prinzessin.«

Die kleine Alina lächelte ihn strahlend an, ja, schien sogar über beide Wangen frech zu grinsen, so als wenn sie ganz genau begriffen hatte, wie sehr sich Jules mit den Reisevorbereitungen überfordert fühlte.

Der Schweizer musste laut auflachen, als er den listigen Ausdruck im süßen Gesichtchen seiner Tochter erkannte. Dann beugte er sich rasch zu ihr hinüber und drückte erst Alina einen schmatzenden Kuss auf die Wange, umfasste dann aber mit dem Arm die Schulter seiner Frau und zog sie etwas näher zu sich heran. Sie küssten sich lange und leidenschaftlich, während ihre Tochter ihnen mit einem Staunen im Gesicht zuschaute.

»Wenn ich euch zwei nicht hätte«, schnaufte er glücklich.

»Und was ist mit mir?«

Chufu stand oben auf dem Treppenabsatz, beide Arme vollgepackt mit T-Shirts, Trainingshosen und einem Paar Sneakers obendrauf und grinste zu ihnen hinunter.

»Dann komm halt her und hol dir deinen Kuss«, rief Jules gespielt ärgerlich hoch, worauf sein Adoptivsohn nur verächtlich die Lippen schürzte, zum Geländer trat, seine Arme öffnete und dabei schrie: »Achtung eine HG.«

Irgendwoher hatte der Kerl diesen blöden Satz aus dem Schweizer Militär aufgeschnappt, den man ausrufen muss, wenn man eine Übungsgranate abzieht und ins Gelände schmeißt. Seine Sportsachen fielen allerdings recht kompakt herunter und landeten zielgenau auf dem blauen Stoffkoffer, der bereits gut gefüllt am Boden lag.

Jules wurde wütend.

»Aha. Du willst sie wohl da drin verstaut haben, deine Sachen, in diesem Koffer hier?«, rief er aufgebracht hoch, »na schön, mein Junge, kein Problem. Ich stopf deine Sachen gerne auch noch mit rein«, und schon riss Jules den Reißverschluss ein Stück weit auf und begann, die Trainingsschuhe durch den engen Schlitz hineinzupressen.

Alabima sah ihm kopfschüttelnd zu und meinte mitleidig lächelnd: »weißt du eigentlich, dass du gerade deine eigene Wäsche hoffnungslos zerwühlst?«

Jules hielt erschrocken inne, öffnete den Kofferdeckel ganz, schaute genauer hin und direkt auf seine ehemals glatt gebügelten Unterhemden und T-Shirts, die jetzt zusammengewuselt drin lagen.

»Sch......ade«, meinte er kleinlaut, »tut mir leid, Schatz.«

»Reißt euch endlich zusammen, ihr Kindsköpfe«, rief Alabima streng aus, »arbeitet gefälligst planmäßig zusammen und vergesst eure ewigen Sticheleien. Das Taxi holt uns in einer halben Stunde ab. Der Countdown läuft also für euch.«

Oha, dachte sich Jules, so war das also. Seine Frau strebte bereits das Oberkommando über die erste vierköpfige Auslandsexpedition der Familie Lederer an. Na, vielleicht war das auch das Beste.

»Zu Befehl, oh mein General«, antwortete Jules laut, stand gespielt stramm und salutierte zackig, lachte Alabima belustigt an.

»Stehen Sie bequem, Soldat Lederer, und arbeiten Sie zügig weiter. Gefreiter Chufu wird Sie sicher tatkräftig unterstützen, wenn Sie ihn nett darum bitten.«

Dabei lächelte sie ihn süffisant an und Jules dachte in diesem Moment unweigerlich du kleines Biest.

»Das habe ich gehört, Soldat«, war ihre Antwort auf seinen Gesichtsausdruck.

»Und warum machst du Chufu zum Gefreiten und ich bin bloß einfacher Soldat?«

Bevor Alabima antworten konnte, schallte es bereits von oben herunter: »Gefreiter muss man sich verdienen, Soldat Lederer, durch harten, zielstrebigen Einsatz und beispiellosem Kadavergehorsam. Wenn Sie sich weiterhin bemühen, wird aus ihnen in ein paar Jahren vielleicht doch noch ein nützliches Mitglied in unserem Verband. Strengen Sie sich also weiterhin an und geben Sie Ihr Bestes.«

Jules zerknirschte den Fluch auf seinen Lippen, während Alabima mit ihrer Tochter leise lachend wieder im Wohnzimmer verschwand.

Natürlich wurden sie mit Packen rechtzeitig fertig. Als dann aber der Mercedes Kleinbus des Taxiunternehmens auf den Vorplatz zu ihrer Villa einbog, schaute Jules seine Frau völlig entgeistert an.

»Größer ging wohl nicht, mein Schatz?«

»Na, drei Hartschalenkoffer, den blauen Stoffkoffer, drei Taschen und dazu der Kinderwagen. Hätte ich etwa einen Smart bestellen sollen, mein Schätzchen?«, meinte sie spöttisch, »die kluge Frau baut eben vor, wenn sie mit zwei männlichen Chaoten wie euch verreisen muss.«


*


Am Flughafen angekommen packten sie ihre Sachen auf zwei Rollwagen. Chufu übernahm den einen, Jules den anderen. Sein Stiefsohn und er verstanden sich wie die meiste Zeit über, ohne ein Wort zu wechseln. Wie auf Kommando rannten sie plötzlich los und in Richtung der Check-In Schalter der Swiss. Es war der ewige Wettkampf der beiden. Wer würde das Ziel als erster erreichen und über den anderen triumphieren? Chufu gewann diesmal knapp, weil Jules einer älteren Frau mit ihrem verdammten Kofferwagen ausweichen musste. Die Frau kam von links und nahm ihm eindeutig die Vorfahrt, was sein Sohn kaltschnäuzig ausnutzte, elegant dem Beinahe-Zusammenstoß auswich und zuerst den Schalter erreichte.

Natürlich plärrte Chufu seinen Sieg ungebührlich laut heraus und klopfte sich zufrieden auf die Schenkel. Und Jules erntete zum Gelächter seines Adoptivsohns auch noch den mitleidigen Blick der Frau hinter dem Check-In Schalter der ersten Klasse.

Vater und Sohn mussten dann aber noch eine geraume Zeit auf Alabima warten. Sie kam gemächlich, mit Alina auf dem Arm und den Tickets und Pässen in ihrer Handtasche näher. Zwanzig Sekunden waren verdammt lang, wenn man untätig vor einer Schalterperson herumstand und ihren Blicken ausgesetzt war.

Als das Gepäck endlich aufgegeben, die Zollkontrolle abgewickelt, die Shoppingmeile abgeklappert und ihr Flug aufgerufen war, atmete Jules das erste Mal an diesem Morgen auf. Ihr Urlaub konnte beginnen.


*

»Du hast mir bisher nur wenig über die Sokolows erzählt. Wie immer machst du wieder ein Riesengeheimnis um deine Vergangenheit. Du kennst die beiden von früher her, hast du gesagt?«

Alabima hatte sich über die breite Lehne ihres Sitzes in der ersten Klasse des Airbus 320 zu Jules und Alina hinübergebeugt und schob ihrer Tochter den eben verlorenen Schnuller routinemäßig wieder zwischen die schmatzenden Lippen. Chufu saß hinter den drei und vergnügte sich mit dem elektronischen Unterhaltungsprogramm an Bord des modernen Flugzeugs. Neben ihm saß eine attraktive Frau von Mitte zwanzig mit langen, blonden Haaren. Chufu musterte sie immer wieder verstohlen von der Seite her. Mit seinen siebzehn Jahren war er für weibliche Reize längst empfänglich, selbst wenn ihm die Frau doch eher als zu alt für sich erschien. Immerhin zeigten sich bei ihr schon die ersten, feinen Fältchen um die Mundwinkel herum. Doch ihr Parfum betörte ihn mit seinem dezenten Moschusduft, der von starken Zitrusfrüchten überlagert wurde. Er lenkte seine Augen immer wieder von seinem elektronischen Spiel ab und zu ihr hin.

Ihr leichtes Make-Up war makellos, wie er bewundernd feststellte. Die glutroten Lippen schienen wie mit dem Meißel herausgearbeitet, so scharfkantig waren die Ränder. Chufu seufzte unbewusst leicht auf, worauf die junge Frau ihm ihr spitzbübisches Gesicht kurz zudrehte und ihn spöttisch anlächelte.

Sie kannte ihre Wirkung auf jüngere und ältere männliche Semester sehr genau. Chufu lief auch prompt rot an und vertiefte sich wieder in die Schachpartie, die er gegen den Computer längst verloren hatte. Hoffentlich erkannte das die Blondine neben ihm nicht. Rasch beendete er das Spiel und startete ein neues.

»Ja. Ich habe vor neun Jahren für Wladimir Sokolow einen Auftrag erledigt«, meinte Jules leise zu Alabima gewandt. Sie sah in seinen Augen den tiefen Ernst und die Bilder, die ihm die Erinnerung an den Fall zurückbrachten.

»Um was ging es denn?«

»Du weißt, dass ich nicht gern über meine Arbeit von früher rede und dich nicht damit belasten will. Doch ich denke, du hast in diesem Fall ein Recht darauf mehr zu erfahren. Wladimir Sokolow hatte damals Probleme mit einer lokalen Verbrecherorganisation. Diese versuchten, Schutzgeld von einigen seiner Unternehmen zu erpressen. Er hatte mich beauftragt, das zu beenden.«

»Eine Verbrecherorganisation? Etwa die russische Mafia?«

Alabimas Stimme klang besorgt.

»Nicht die Mafia, bloß ein paar unbesonnene, aber äußerst brutal vorgehende Jungs, die sich überschätzten und glaubten, sich in Moskau selbständig machen zu können.«

»Und du hast dieses Problem für Sokolow gelöst?«

»Ja, das habe ich. Genau genommen hat die Armee die Arbeit für uns erledigt. Ich kenne aus meiner ersten Zeit in Russland noch ein paar der Generäle, du weißt, als sich damals Jelzin nach Beendigung des Augustputsches an die Macht schwingen konnte und Gorbatschow ablöste. Ich sprach mit einem dieser Generäle über die Banditen und er ordnete wenig später eine Anti-Terrorübung im Gebäude an, in dem das Hauptquartier der Gangster lag. In deren Verlauf stießen die Soldaten auf das umfangreiche Waffenarsenal und im anschließenden heftigen Feuergefecht wurden alle Mitglieder der Bande erschossen. Auch drei Soldaten kamen dabei ums Leben.«

Alabima sah ihren Ehemann entsetzt an.

»Das ist ja schrecklich.«

Jules schaute sie schuldbewusst an.

»Glaub mir, ich bin wirklich nicht stolz auf diese Lösung, ganz bestimmt nicht. Doch es war eine üble Bande, die mit aller Härte ein Stück des Erpresser-Kuchens abzubeißen versuchte. Mit zwei Bombenanschlägen gegen Einrichtungen von Sokolow wollten sie ihn gefügig machen. Dabei starben mehr als ein halbes Dutzend Unschuldiger. Jemand musste diesen Irrsinn einfach beenden.«

»Und die Polizei konnte gegen diese Gangster nicht vorgehen?«

»So einfach war das im damaligen Russland leider nicht und ist es wohl auch heute noch nicht. Da gibt es unterschiedliche Interessengruppen, die sich von der Politik, über die Wirtschaft, über den Geheimdienst, die Armee und die Polizei bis hin zur Mafia und anderen Verbrechersyndikaten ausstrecken. Nach der Perestroika war in ganz Russland auf allen Ebenen der Gesellschaft ein Verteilungskampf um die Wirtschaftsgüter entbrannt, ein Kampf, der sich seit dem Explodieren der Energiepreise vor zwei Jahren sogar noch verstärkt hat. Denk an die Verhaftung des früheren russischen Milliardärs Michail Chodorkowski. Er wurde wegen Steuerhinterziehung verurteilt, zwangsenteignet und verbüßt nun eine achtjährige Haftstrafe, bloß weil er pro-westliche Parteien in Russland unterstützt hat und es wagte, gegen Putin zu opponieren und die grassierende Korruption anzuklagen.«

»Und in ein solch gefährliches Land nimmst du uns mit?«

Aus Alabimas Stimme schwang ernste Besorgnis mit.

»Ach, wir sind doch bloß vier Touristen aus dem Westen, so wie viele Millionen andere, die sich jedes Jahr in Moskau tummeln. Mein Einsatz für Sokolow liegt auch fast zehn Jahre zurück. Niemand erinnert sich dort noch an mich.«

»Zumindest die Sokolows tun es noch, wie ihre Einladung an uns beweist«, meinte seine Frau skeptisch, »und vielleicht tun es auch noch andere? Was ist dieser Wladimir Sokolow eigentlich für ein Mensch?«

»Er ist ein Oligarch der ersten Stunde, einer, der sich seine ersten Milliarden bereits Anfang der neunziger Jahre verdient hat.«

»Seine ersten Milliarden? Ich dachte, Russland war damals noch ein kommunistischer Staat? Wie kann da jemand Milliarden zusammenraffen?«

»Sokolow hat es mir einmal ausführlich erzählt. Damals muss es für einen entschlossenen Mann lächerlich einfach gewesen sein, ein großes Vermögen zu verdienen. Über seine guten Verbindungen zur Parteizentrale konnte er einige Verwaltungsbeamte bestechen. So erhielt er Importlizenzen für verschiedene technische Geräte aus dem Westen. Anfang der 1980er Jahre begann er zum Beispiel im großen Stil Faxgeräte in Europa und den USA aufzukaufen. Du musst wissen, damals waren Faxgeräte etwas recht Neues. Sie revolutionierten die Kommunikation zwischen den Unternehmen, vielleicht nicht so stark, wie das Internet mit seinen Emails ein paar Jahre später, aber immer noch gewaltig. Denn plötzlich konnte man innerhalb von Minuten detaillierte Informationen austauschen oder Verträge abschließen, wofür man zuvor viele Tage benötigt hatte. In Russland waren Faxgeräte damals Mangelware und heiß begehrt. Die meisten Unternehmen besaßen aber nicht die notwendigen Importbewilligungen, verfügten auch nicht über westliche Devisen. Dies wusste Sokolow selbstverständlich und hat darum als Bezahlung für die Geräte Naturalien akzeptiert, vor allem Schrott.«

»Schrott? Wie kann man mit Schrott Milliarden verdienen?«

»Es kommt bloß auf die Menge an. Ein Faxgerät kostete ihn damals im Einkauf rund tausend amerikanische Dollar. Verkauft hat er die Geräte dann für beispielsweise sechzig Tonnen erstklassigen Stahlschrott oder zwanzig Tonnen Aluminiumschrott. Du weißt sicher, dass die mangelhafte wirtschaftliche Koordination im zentral geführten Sowjetreich zu ruinösen Fehlleistungen führte. Doch in diesem gewaltigen Land gab und gibt es so viele natürliche Ressourcen, dass man sich nie um Verschwendung scheren musste. Der anfallende Schrott wurde deshalb gar nicht wiederverwertet wie im Westen. Jahrzehntelang stellte man nur neuen Stahl und neues Aluminium her, während sich die ausrangierten Fahrzeuge und Maschinen auf riesigen Schrottplätzen anhäuften. Sechzig Tonnen Stahlschrott oder zwanzig Tonnen Aluminium besaßen damals im Westen einen Gegenwert von etwa fünftausend Dollar. So kaufte Sokolow also ein Faxgerät für tausend ein und verkaufte es für fünftausend. Kein schlechtes Geschäft, wenn du daran denkst, dass die Sowjetunion in wenigen Jahren hunderttausende von diesen Geräten benötigte. Und wenig später folgten dem Fax viele Millionen Personal Computer. Sokolow verdiente über all die Jahre hinweg sein Geld wie Heu und ohne das geringste wirtschaftliche Risiko.«

Alabima sah ihren Ehemann ungläubig an.

»Millionen von Computern?«

»Vergiss nicht, die Wirtschaft der Sowjetunion war damals in zehntausende von Kolchosen mit Millionen einzelner Unternehmen aufgeteilt. Der Bedarf nach modernen Bürogeräten und später, nach der Öffnung der Grenzen zum Westen, auch nach hochwertigem Büromobiliar, war einfach gigantisch. Ich habe selbst erlebt, wie Mitte der neunziger Jahre in Europa die Lieferfristen für Büromöbel von vier auf zwölf Wochen anstiegen, weil der größte Teil der Produktion zu Fantasiepreisen in den Ostblock verscherbelt wurde. Der Schrotthandel der Sowjetunion mit dem Westen erreichte in diesen Jahren solch enorme Ausmaße, dass die Preise weltweit auf die Hälfte zusammenbrachen. Eisenerzminen und Stahlhütten in ganz Europa wurden für Jahre unter starken finanziellen Druck gesetzt, mussten ihre Produktion verringern oder gar geschlossen werden. Dass die Stahlpreise weltweit in den letzten zehn Jahren wieder angestiegen sind, liegt weniger an der ungebrochenen Nachfrage als an den aufgelösten Schrottlagern der Sowjetunion, die heute leer stehen. So fehlt der billige Nachschub und die Preise können endlich wieder steigen. Doch Sokolow und andere Oligarchen hatten ihre Milliarden längst im Trockenen.«

Jules sah Alabimas Stirn an, dass sie sich dies alles vorzustellen versuchte, wie Russland durch einige entschlossene Männer in wenigen Jahren ausgeplündert wurde, wie der während der Sowjet-Zeit angesammelte viele Millionen Tonnen wiegende Schrott nach und nach zu Dumpingpreisen in den Westen gelangte, wie die Stahlindustrie weltweit von diesem Segen aus dem Osten bedrängt wurde. Und so ergänzte Jules: »So etwas passiert eben überall dort, wo der Staat seine Märkte vor dringend benötigten Importen künstlich abschottet, gleichzeitig gewisse Hintertürchen offenstehen lässt. Es treten dann immer Profiteure auf, die in wenigen Jahre riesige Vermögen anhäufen. Eine Variante davon findest du beispielsweise im Verkauf von Medikamenten in Afrika. Viele Staaten kennen dort eine strickte Devisenbewirtschaftung. Für die meisten Güter bestehen wertmäßige Beschränkungen für den Import, so auch für die teuren Medikamente aus dem Westen. Der Bedarf im Land übersteigt jedoch die vorgesehenen Import-Mengen. Doch weil der Staat nicht über genügend viele Devisen verfügt, muss er auf eine flächendeckende Versorgung seiner Bevölkerung verzichten. Sobald jedoch eine Regierung abgewählt wird, schmieren die Pharmakonzerne noch rasch die alten Minister und erhalten im Gegenzug eine Sonderbewilligung für zusätzliche Importe. Später muss dann die neue Regierung einen Weg finden, wie sie den massiven Abfluss an Devisen anderweitig stoppen kann, um ihre eigene Währung stabil zu halten.«

»Ist das etwa auch in meinem Heimatland so?«

Alabima blickt Jules sichtlich besorgt an.

»Ja, es wäre wahrscheinlich auch bei deinen Leuten so, wenn die Regierung jemals wechseln würde. Aber dank des Wahlbetrugs von 2000 und 2005 steht die EPRDF ja weiterhin an der Spitze deines Landes. Und so spart sich Äthiopien wenigstens diese teuren politischen Ablösekosten«, meinte Jules sarkastisch.

»Und was ist dieser Sokolow für ein Mensch?«

»Du wirst ihn mögen, denk ich. Er ist sehr gebildet, wie viele Russen. Er kennt sich in der Literatur aus und umgibt sich gerne mit ausgesuchten Kunstwerken. Mittlerweile ist er weit über sechzig Jahre alt und sicher etwas ruhiger geworden. Manchen Menschen erscheint er wohl ein wenig überheblich, was aber bei einem Selfmade-Milliardär nichts Besonderes ist.«

»Und seine Geschäfte laufen heute immer noch problemlos?«

»Er hatte damals eine Vereinbarung mit Jelzin getroffen. Der ließ ihn in Ruhe. Bestimmt hat er später auch mit Putin einen Weg gefunden. Er wird wohl der Partei einen angemessenen Anteil an seinen Gewinnen überlassen und zusätzlich viel Geld für soziale Belange spenden. Soviel ich weiß, hat er sein Vermögen heute vor allem im Erdgassektor und in russischen Banken angelegt. Forbes schätzt ihn zurzeit auf acht bis zehn Milliarden Dollar.«

»Und so ein Mann lädt uns einfach so zu sich nach Hause ein?«

»Sokolow ist zwar einiges älter als ich. Doch wir verstanden uns auf Anhieb ausgezeichnet. Er war damals noch ein echter Pirat, oder vielleicht besser ausgedrückt ein Freibeuter, der die Umstände seines Landes genau kannte und danach handelte. Er ist immer noch mit seiner ersten Frau Irina verheiratet, eine Seltenheit im modernen Russland, wo die Reichen ihre Frauen öfters wechseln, als wir unsere Autos. Sie haben einen Sohn, der Nikolai heißt, und zwei Töchter, die etwa in deinem Alter sind, Jelena und Natascha.«

»Und wo leben die Sokolows? Direkt in Moskau oder außerhalb?«

»Wo sie wohnen? Sie werden bestimmt ein paar Häuser oder Wohnungen in der Stadt besitzen. Doch ich denke, sie leben immer noch die meiste Zeit über auf ihrer Datscha, etwa dreißig Kilometer außerhalb von Moskau.«

»Eine Datscha? Ist das nicht ein russisches Wochenendhaus?«

»Als Wochenendhaus würde ich es in diesem Fall nicht bezeichnen, Liebling. Aber du wirst es ja selbst in ein paar Stunden sehen. Lass dich überraschen.«



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