Читать книгу Moskau und zurück - Kendran Brooks - Страница 6
2005, Sommer
Оглавление»Für die Installation der Wanzen berechnen wir Ihnen eine Pauschale von fünfzigtausend Franken. Darin enthalten ist auch die spätere Entfernung der Geräte. Für die 24/7 Überwachung der Mikrophone und die Fallen Sonderarbeiten an, so beträgt unser Stundenlohn dreihundert Franken. Die Mehrwertsteuer ist in diesen Beträgen noch nicht enthalten.«
Der Mann im unauffälligen, braun-grauen, sportlich geschnittenen Anzug hatte sich ganz vorne auf die Kante des Stuhles gesetzt, den er von Jules angeboten erhalten hatte. Es sah fast danach aus, als wenn er befürchtete, das Möbelstück allzu stark abzuwetzen. Sie hatten sich in Jules Büro in seinem Haus am Genfersee gesetzt und besprachen den geplanten Einsatz des Privatdetektiven und seiner Mitarbeiter im Fall des Bankiers Waffel.
Der vielleicht Fünfunddreißigjährige blickte äußerst freundlich drein, sah auch proper und überaus korrekt aus, hatte ein fein geschnittenes Gesicht und recht feminine Hände, wie Jules bei der Begrüßung aufgefallen war. Seine schmale Nase und die dünnen Lippen, die wie Striche in seinem Gesicht wirkten, zeigten einen Menschen, der niemals mehr verspricht, als er halten wird. Sein Händedruck war angenehm trocken, warm und fest zugleich. Vor Jules Lederer saß kein Blender, sondern ein Fachmann, der auf sein Können, sein Wissen und seine Erfahrung baute.
»Dann sind wir uns einig, Monsieur Glasson«, beantwortete Jules den fragenden Gesichtsausdruck seines Besuchers, stand auf und reichte dem Privatdetektiv über die Pultplatte hinweg seine Hand.
»Sie geben mir Bescheid, sobald die Wanzen installiert sind?«
»Selbstverständlich. Und von da an erhalten Sie jeden Tag eine Liste aller Telefonate im Haus von Herrn Waffel, sowie eine schriftliche Zusammenfassung der wichtigsten Informationen aus den Gesprächen. Bei Bedarf liefern wir Ihnen selbstverständlich auch die Originalaufzeichnungen nach. Die Rechnung über die Installation der Geräte und eine Vorauszahlung für die Betriebskosten im ersten Quartal erhalten Sie noch diese Woche. Es freut mich, dass wir miteinander ins Geschäft kommen, Herr Lederer.«
Der Mann verabschiedete sich und ging zielstrebig zur Tür, öffnete sie, trat in den Flur und schloss sie gleich wieder leise hinter sich. Als Jules aufgestanden war und den Flur erreicht hatte, fiel die Eingangstüre bereits sanft und mit einem Klicken ins Schloss. Jules blickte dem Mann durch den Türspion nach, doch der war bereits aus dem Sichtfeld verschwunden.
Zurück in seinem Büro legte sich Jules auf den Soft Pad Chaise, den er vor wenigen Wochen erstanden hatte. Dieser Liegestuhl war 1968 von Charles und Ray Eames entwickelt worden. Die Idee dazu hatte allerdings Billy Wilder gehabt. Der amerikanische Regisseur war lange Zeit auf der Suche nach einer Liege für kurze Pausen zu seiner Entspannung gewesen. Das Möbelstück musste auf alle Fälle verhindern, dass Wilder für Stunden einschlief. Der Regisseur wollte nicht wertvolle Arbeitszeit durch unerwünscht lange Nickerchen verlieren. Die beiden Designer entwickelten daraufhin mit ihm zusammen eine ausgesprochen bequeme Liege, die allerdings so schmal ausfiel, dass man seine Arme nirgendwo seitlich am Körper ablegen konnte. Man musste sie auf dem Bauch verschränkt halten. Sobald man jedoch drohte einzuschlafen und sich die Muskeln der Gliedmaßen zu entspannen begannen, rutschten die Arme durch die Schwerkraft seitlich hinunter und man wachte auf.
Eine genial einfache Lösung für ein schwieriges Problem und ein eindrucksvolles Beispiel für wirklich gutes Design, das stets die technisch einfachste Lösung für den angestrebten Zweck fand.
Hatte auch er an alles gedacht? War es ethisch vertretbar, dem Bankier Waffel eine Detektei auf den Hals zu hetzen und ihn bei sich zu Hause abzuhören? Aber was konnte Jules sonst tun? Der Schweizer war sich zu sicher, dass dieses vom MI6 abgehörte Telefongespräch echt war und genauso stattgefunden hatte. Nun musste Jules sich einfach Gewissheit darüber verschaffen, inwieweit Waffel die Pläne der CIA tatsächlich umgesetzt hatte oder womöglich immer noch tat.
Das Büro von Waffel an der Bahnhofstrasse in Zürich konnte kaum erfolgreich verwanzt werden. Die Chefetagen der großen Banken wurden alle drei, vier Wochen von internen Sicherheitsleuten durchsucht und elektronisch vermessen. Jules hatte selbst vor Jahren für eine internationale Bank gearbeitet und kannte daher die gängigen Sicherheitsprotokolle. Doch in Waffels eigenen vier Wänden war nicht mit dieser zwinglianischen Gründlichkeit zu rechnen. So hofften zumindest die Detektei und Jules.
Über seine Gedankengänge war er wohl doch kurz eingenickt, denn er zuckte auf seiner Liege erschrocken zusammen und merkte, dass seine Arme rechts und links vom Körper herunterhingen. Rasch setzte er sich auf und versuchte, die letzten Gedanken während des Halbschlafs noch einmal zu fassen. Ein Name stach hervor, Roger Spälti. Roger war sein Mentor bei der großen Anwaltskanzlei gewesen, in die Jules direkt nach Abschluss des Wirtschaftsstudiums eingetreten war. Später wurden sie Freunde. Roger war damals bereits Mitte bis Ende vierzig und einer der sechs Partner der Kanzlei. Und er war ein begeisterter Kenner der asiatischen Kampfsportarten. Jules hatte ihn bei einer Taekwondo Exhibition im Hallenstadium in Zürich kennengelernt. Der Veranstalter wollte damals auch einen Showkampf mit Nunchakus zeigen, diese mit einer kurzen Kette verbundenen Holzstöcke, für deren perfekte Handhabung Bruce Lee berühmt wurde. Neben Jules war Heinz Keller in ihrem Asian Fight Club der Geschickteste mit der schwer zu kontrollierenden Waffe und so schlugen sich die beiden an der Exhibition prächtig, ernteten viel Beifall der Zuschauer. Später kam dann Roger Spälti in den Umkleideraum, fragte sie ein wenig aus und bot ihnen dann einen Job in seiner Kanzlei an. Was sie dort tun sollten, war ihnen nach dem ersten Gespräch noch nicht wirklich klar. Doch die hervorragenden Anstellungsbedingungen und die in Aussicht gestellte, ausgedehnte Reisetätigkeit um den gesamten Erdball herum waren für sie beide einfach zu verlockend, um abzulehnen. Roger lernten sie in den darauffolgenden Wochen und Monaten immer besser kennen. Seinen Freund Keller schickte die Kanzlei schon bald zu betuchten Klienten, für die er wohl kleinere und größere Probleme zu lösen hatte, wie Heinz im Vertrauen ihm gegenüber erwähnte. Was Heinz allerdings genau tat, fand Jules erst einige Monate später heraus. Denn das Motto der Kanzlei lautete: »Je weniger Leute wissen, was du tust und wie du es tust, desto weniger Probleme bekommst du hinterher.«
Nach einem seiner Einsätze kam Heinz Keller allerdings nicht mehr zurück. Auf Jules Frage hin zog ihn Roger Spälti ins Vertrauen.
»Heinz wurde letzte Woche auf Haiti ermordet.«
»Ermordet? Wie? Und von wem?«
»Man hat ihn im Lift seines Hotels überfallen und erdrosselt. Er ist einer Bande von Erpressern in die Quere gekommen. Weißt du, Jules, wir versuchen dort unten schon seit ein paar Monaten drei Ferienhotels für einen unserer Klienten aus den USA zu erwerben. Er braucht sie zwar bloß als Steuerabschreibungsobjekte, doch er hat sich nun Mal in den Kopf gesetzt, dass es unbedingt Haiti und exakt diese Hotels sein müssen. Die lokale Schutzgeldmafia ist jedoch allzu gierig und verlangt für ihr Stillhalten dreißig Prozent des Kaufpreises. Das wären mehrere Millionen Dollar und entschieden zu viel für unseren Kunden. Denn unter dieser Voraussetzung würde sich seine Investition steuerlich nicht mehr rechnen. Heinz war dort unten, um mit den Kerlen zu verhandeln und ihren Preis zu drücken. Wahrscheinlich hat man ihn umgebracht, um uns vor Augen zu führen, wie wenig wir in ihrem Machtbereich ausrichten können.«
»Und du schickst nun mich hinunter?«
»Wie kommst du darauf?«
»Na, du hättest mir die Umstände um den Tod von Heinz bestimmt nicht erzählt, wenn du das nicht vorhättest.«
Roger schaute Jules einen Moment lang forschend an.
»Nur wenn du willst, Jules, nur wenn du wirklich willst.«
»Lass für mich bitte einen Sitzplatz im nächsten Flugzeug buchen und gib mir alle Informationen und Berichte, die wir über den Fall besitzen.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Jules für die Kanzlei und ihre Klienten in erster Linie Probleme mit den Steuerbehörden gelöst, dabei Akten ein wenig zurechtgebogen oder als Vertreter der Kanzlei vor diversen Richtern als Zeuge ausgesagt. Wahrscheinlich dachte sich Roger Spälti damals, Jules sei noch nicht soweit, um auch die wirklich heiklen und vor allem gefährlichen und damit oft auch gewalttätigen Aufgaben zu übernehmen. Er sollte sich aber getäuscht haben. Denn damals begann Jules Karriere als zuverlässiger Beseitiger handfester Schwierigkeiten.
Doch warum war ihm im Halbschlaf der Name von Roger Spälti überhaupt eingefallen? Hatte das etwas zu bedeuten? Was hätte wohl der erfahrene Frontmann der Kanzlei in seiner derzeitigen Situation unternommen? Vielleicht direkt Waffel angegangen und versucht, Gegendruck aufzubauen und ihn so zum Reden zu bringen? Nein. Mit dem Machtapparat der CIA konnte Jules nicht in Konkurrenz treten. Ein solcher Gedanke war einfach lächerlich. Falls Waffel die Forderungen der Amerikaner tatsächlich erfüllt hatte und die Bank in Gefahr geriet, musste Jules einen wesentlich subtileren Weg wählen, um Gegensteuer zu geben.
Vielleicht sollte er Roger einmal anrufen oder sich am besten gleich mit ihm zusammensetzen. Sein ehemaliger Mentor war zwar schon seit Jahren pensioniert und lebte mit seiner malaysischen Frau Yolida auf einer kleinen Insel vor Sumatra, die er sich nach dem Verkauf seiner Anteile an der Anwaltskanzlei gekauft hatte. Ein Besuch bei den Spältis konnte kaum schaden.
*
In den nächsten Wochen und Monaten erhielt Jules Bericht um Bericht aus der Detektei. Als die Gesamtkosten die dreihunderttausend Franken Marke erreicht hatten, wusste er genug, um die nächsten Schritte anzugehen. Waffel hatte mehr als einmal geschäftliche Sitzungen am Sonntagnachmittag in seinem Haus abgehalten und so war Jules klar geworden, dass die Großbank, für die Waffel als Chief Executive Officer tätig war, ihre bislang vorsichtige Anlagepolitik längst aufgegeben hatte. Seit gut zwei Jahren wanderte immer mehr Geld in den amerikanischen Häusermarkt und in Verbriefungen von Krediten an Universitäten und an Studenten. Waffel hatte dem Vorstand zudem einen unglaublich hohen Hebel von über sechzehn verkaufen können. Das bedeutete, es wurde das Sechzehnfache des Eigenkapitals der Bank auf eigene Rechnung in Wertpapiere und andere Anlagen gesteckt, finanziert durch zinsgünstige, kurzfristige Kredite anderer Banken. Der Sinn eines so hohen Leverages lag selbstverständlich darin, dass man sechzehn Mal eine Zinsdifferenz von wenigen Basispunkten erzielte, die durch diesen Hebel aber auf viele Prozent des Eigenkapitals anwuchs. Zusammen mit dem traditionellen Bankgeschäft, der Vermögensverwaltung, dem Asset Management und dem Investment Banking für Kunden konnte so eine Rendite von weit über zwanzig Prozent auf dem Firmenkapital erzielt werden.
Doch langfristige Investitionen in Immobilienpapiere und in Schuldverschreibungen mit Hilfe von kurzfristigen Krediten zu finanzieren, war seit Menschengedenken eine meist tödliche Strategie. Sobald irgendeine Krise eintrat und die langfristigen Papiere nicht mehr rasch und kostendeckend über den Markt abgestoßen werden konnten, rissen einen die kurzfristig wegfallenden Kredite der Geldgeber unweigerlich in den Konkurs.
Hatte der Vorstand der Bank den Verstand verloren? Oder waren sie alle so sehr von ihren mathematischen Modellen zur Berechnung der angeblichen Risiken überzeugt? Vertrauten sie tatsächlich nur noch auf Computerauswertungen, Formeln und Analysen und nicht mehr dem gesunden Menschenverstand, der sich in den letzten dreihundert Jahren im Bankwesen doch längst heraus geformt hatte? Oder wurden neben Waffel tatsächlich weitere führende Köpfe der Bank bedroht und erpresst?
Besonders erschreckend fand Jules den hohen Anteil der Investitionen in den amerikanischen Häusermarkt über sogenannte strukturierte Produkte auf den Subprime Krediten. Er erinnerte sich noch gut an den Immobiliencrash in Japan, zu Beginn der 1990er Jahre. Selbst heute, nach fünfzehn Jahren, war der finanzielle Schock noch nicht überwunden. Nach dem Börsencrash 1987 war auch in der Schweiz das zinsgünstige Geld zu lange von der Nationalbank angeboten worden, so dass die Häuserpreise erst stark anstiegen, um anschließend noch stärker nach unten zu korrigieren. 1992 waren die Immobilien in der Schweiz wieder so viel Wert wie sechs Jahre zuvor. Und die Banken mussten in der Folge fünfzig Milliarden an Hypothekarkrediten abschreiben.
Im damaligen Amerika sanken die Häuserpreise flächendeckend um mindestens zwanzig Prozent und tausende von Sparkassen meldeten Konkurs an. Etwas Ähnliches bahnte sich nach Meinung von Jules seit 2003 wiederum an. Die jährlichen Wertsteigerungen im US-Häusermarkt hatten Rekordwerte erreicht und im Gegensatz zur konservativen Finanzierung in den meisten europäischen Ländern, wo die Häuser in der Regel höchstens zu achtzig oder neunzig Prozent des Kaufpreises belehnt wurden, waren im US-Immobilienmarkt längst Finanzierungen von hundertzehn oder gar hundertzwanzig Prozent üblich. Der neue Hausbesitzer sollte sich neben der viel zu hohen Hypothek auch gleich noch mit einem Neuwagen beglücken. Oder er bezahlte in den ersten drei Jahren die Hypothekarzinsen bequem mit dem Geld aus dem viel zu hohen Kredit. Nach ein paar Jahren war die Immobilie eh stark im Wert gestiegen und konnte bei Bedarf mit einem satten Gewinn verkauft werden. So jedenfalls die Theorie der ewigen Verlierer.
Was für eine irrsinnige Idee auch, anzunehmen, die Immobilienpreise würden ewig im Preis steigen, ungeachtet den Konjunkturzyklen, die jede Wirtschaft seit Menschengedenken durchlebte. Irgendwann kam jede Spirale aus Wirtschaftswachstum, steigenden Einkommen, höheren Preisen, weiteren Unternehmensgewinnen und vermehrten Investitionen zum Stillstand. Dann fiel das geschäftige Treiben plötzlich in sich zusammen und Katzenjammer kehrte für ein Jahr oder auch länger ein.
Konjunkturdellen ließen stets auch den Wert von Investitionsgütern stark sinken. Denn eine neue Maschine, die nicht ausgelastet wurde, war plötzlich nur noch einen Bruchteil des Kaufpreises wert. Und wenn Käufer ausblieben, so korrigieren Immobilienpreise sofort und stark nach unten. Wenn zum Beispiel steigende Zinssätze auf den Hypotheken die Besitzer übermäßig drückten, konnten sie in der Masse ihre viel zu hoch bezahlten Häuser nicht mehr kostendeckend abstoßen Sie wurden obdachlos und verloren all ihr Erspartes.
Schon während der Depression in den 1930er Jahren gab es in den USA die gefürchteten Jingle Mails. Damit waren Briefumschläge gemeint, in denen die bisherigen Eigentümer die Schlüssel zu ihren überschuldeten Häusern einfach ihrer Bank zusandten, während sie still und heimlich die Habseligkeiten zusammenpackten und den Staat verließen, um sich anderswo schuldenfrei eine neue Existenz aufzubauen.
Früher oder später würde auch der aktuelle Konjunkturzyklus zu Ende gehen. Doch allein in den letzten drei Jahren waren die Immobilienpreise in den USA um satte fünfundzwanzig Prozent angestiegen. Und die Spirale noch oben schien sich immer schneller zu drehen. Bei dieser Entwicklung war ein Absturz der Häuserpreise in den USA um mindestens dreißig Prozent vorprogrammiert. Wer in diesem Moment in amerikanische Immobilien investiert war, musste mit empfindlichen Verlusten rechnen.
Jules erinnerte sich gerne an das Jahr 2000 zurück. Damals hatte sich ein völlig unrealistisches Verhältnis zwischen den erzielten Gewinnen in der Internet Branche und den an den Börsen erreichten Aktienkursen etabliert. Beim Suchmaschinen-Unternehmen Yahoo beispielsweise lag der Aktienkurs zeitweise fünfhundert Mal höher als der erzielte Jahresgewinn. Normal wäre bei einem stark wachsenden Unternehmen jedoch ein Verhältnis von fünfundzwanzig bis dreißig gewesen. Die an der Börse bezahlten Preise für Yahoo Aktien waren also mindestens fünfzehnmal zu hoch. Das war für Jules eine wunderbare Gelegenheit, Geld in rauen Mengen und ohne wirkliches Risiko zu scheffeln. Durch den Kauf von Put Optionen auf die Yahoo Aktie konnte er sein Vermögen innerhalb weniger Monate verdreifachen. Denn Yahoo stürzten damals von ihrem Höchst von hundertzwanzig Dollar auf ein Tiefst von fünf Dollar. Die unglücklichen Anleger verloren damals also sechsundneunzig Prozent ihres Einsatzes, während der Schweizer im Gegenzug mehrere Millionen an Gewinnen einstrich.
Für Jules stand eines darum fest: Falls die Großbank, für die Waffel tätig war, ihre Strategie nicht in den nächsten zwei Jahren anpasste, musste sie ins offene Messer laufen und konnte Dutzende von Milliarden an Abschreibungen einfangen. Das würde die Großbank an den Rand des Ruins führen. Doch warum sollte die CIA darauf erpicht sein, eine Schweizer Großbank zu vernichten? Was hatte der Agent im Gespräch mit Waffel gesagt? Sie denken viel zu kurz.
Ein Schauder jagte über Jules Rücken, als ihm klar wurde, was dieser Texaner mit seinen Worten wohl gemeint hatte. Er entschloss sich augenblicklich zu handeln.
*
»Was soll denn so ungewöhnlich an der Strategie der Bank sein? Jedes Unternehmen versucht doch, seinen Reingewinn unter Berücksichtigung aller Rahmenbedingungen zu maximieren.«
Der Wirtschaftsjournalist der Neuen Zürcher Zeitung sah ihn skeptisch an, seine Mundwinkel zynisch nach unten gezogen, die Stirn in Falten gelegt. Jules hatte sich mit ihm in einer Konditorei an der Bahnhofstrasse in Zürich getroffen. Er wollte ihm seine Befürchtungen hinsichtlich der erhöhten Risikobereitschaft der Großbank darlegen, hatte ihm allerdings nichts vom Telefonat zwischen dem Texaner und Waffel erzählt, sondern beschränkte sich auf die veränderte Anlagepolitik der Bank.
»Es ist nicht ungewöhnlich, wenn Investment Banken ihre Bilanzen auf das Sechzehnfache ihres Eigenkapitals aufblähen. In den USA benutzen einzelne Institute manchmal Hebel von fünfundzwanzig oder gar dreißig. Nur so lassen sich Renditen von 25 % und mehr erzielen. Wir sind im neuen Jahrtausend angekommen, Herr Lederer. Die Risiken sind dank der umfassenden Kommunikation, der blitzschnellen Informatik und den ausgereiften Modellrechnungen mittlerweile besser im Griff als jemals in der Geschichte zuvor. Ihre Bedenken halte ich deshalb für völlig unberechtigt. Die Amerikaner zeigen uns seit Jahren, wie man dieses Geschäft erfolgreich betreibt. Die Großbanken in der Schweiz bewegen sich heute in ihren Fußspuren, folgen ihnen, haben dabei aber noch durchaus Potential. Es würde mich nicht wundern, wenn die Schweizer Banken dank ihrer größeren Verwaltungsvermögen die Finanzgiganten in den USA bald einmal überflügeln könnten, nicht nur von ihrer Größe her, sondern auch von der Rentabilität.«
»Und es stört Sie nicht, dass die Bank vor allem in festverzinsliche, strukturierte Produkte investiert, bei denen amerikanische Subprime-Hypotheken und Studentenkredite als Sicherheit dienen? Bei einer Konjunkturabschwächung in den USA könnten gleich beide zu Klumpenrisiken werden und große finanzielle Verluste für die Bank bedeuten?«, fragte Jules etwas ärgerlich zurück. Er hatte sich vom Treffen mit dem Journalisten einiges versprochen. Ein scharf formulierter Artikel in einer der renommiertesten Wirtschaftszeitungen der Schweiz hätte den einen oder anderen Verantwortlichen in der staatlichen Bankenaufsicht oder in den Organen der Großbank bestimmt aufgerüttelt, sie vielleicht sogar zu einem vorsichtigeren Vorgehen gezwungen.
»Die Mehrzahl der Finanzprodukte auf amerikanische Immobilien genießen das AAA Rating der führenden Ratingagenturen. Und dies zu Recht, denn ihre Emittenten sind ausnahmslos große Investmenthäuser. Zudem stehen im Hintergrund die beiden Riesen Fanny Mae und Freddy Mac, die auch ein kurzzeitiges Stottern der Konjunktur problemlos verkraften können. Auch die von Ihnen angesprochenen Studentenkredite haben sich seit vielen Jahren bestens bewährt. Die Ausfallrate ist äußerst gering. Solange die Bank nur in solch erstklassige Anlagen investiert, sehe ich wirklich kein Haar in der Suppe. Vergessen Sie nicht, Herr Lederer. Die USA sind ein riesiges Land. Jedes Jahr steigt ihre Wohnbevölkerung allein durch Zuwanderung um zwei bis drei Prozent. Das ist doch der wahre Grund für die seit Jahren steigende Nachfrage nach Wohnraum und auch der Preistreiber im Immobiliensektor. Haben Sie schon einmal eines dieser Mega-Bauprojekte in den USA besucht? Nein? Da werden riesige Gebiete auf einen Schlag eingezont und erschlossen. Es werden neue Highways gebaut und danach zehntausend Einfamilienhäuser geplant und in Etappen realisiert, daneben Einkaufszentren, Schulen und Kinos. Ganze Trabantenstädte entstanden so innerhalb weniger Jahre. Es ist ein ungeheurer Drive, der längst die gesamte USA erfasst hat und vor sich hertreibt. Im Übrigen haben die Professoren Kimbel und Haggerty in ihrer neuesten Studie über das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung der Häuserpreise in den USA seit den späten 1950er Jahren doch glasklar und abschließend nachgewiesen, dass hier eine Korrelation besteht und dass die Preissteigerungen der letzten Jahre exakt dem von ihnen berechneten Aufholpotential entspricht, das sogar noch längst nicht ausgeschöpft sei. Nein, Herr Lederer, ich denke, Sie liegen völlig falsch mit Ihrer Skepsis und machen aus einer gründlich nachgewiesenen Mücke einen unkontrollierten Elefanten, ohne jedoch schlüssige Beweis für seine Existenz anzuführen.«
Die Enttäuschung war Jules anzusehen. Er hatte den Journalisten von seinem Anliegen überzeugen wollen, ohne zu viel von den Hintergründen zu verraten. Sollte er dem Mann mehr verraten und ihn in das abgehörte Telefongespräch zwischen dem Texaner und Waffel einweihen? Doch welche Beweise hatte er für die damaligen Drohungen des CIA Agenten? Einzig seine Aussage. Und die heimlich aufgezeichneten Gespräche aus Waffels privater Villa zeigten nur auf, dass sich die Bank durchaus bewusst war, ein größeres Anlagerisiko einzugehen, sich im Gegenzug davon aber auch einen fortwährend sprudelnde Gewinnquelle versprach und die Gefahren im Griff glaubte.
Der Journalist verabschiedete sich mit einem etwas schrägen Blick ihn und ließ Jules allein am Tisch zurück, mit den beiden leeren Kaffeetassen und der Rechnung der Konditorei.
Was sollte Jules als nächstes tun?
Mit einer direkten Intervention beim Präsidenten des Vorstands der Großbank war er längst abgeblitzt. Ob der Mann selbst unter einer Bedrohung durch den amerikanischen Geheimdienst stand oder einfach an seine Mathematiker glaubte, war im Grund genommen egal. Nach seiner Absage war Jules bei einigen der größeren Aktionäre der Bank vorstellig geworden. Doch auch diese Vorstöße blieben ohne jedes Ergebnis. Man nahm ihn schlicht nicht ernst. Die Erträge der Bank stiegen doch von Jahr zu Jahr stetig an und immer neue Gewinnrekorde wurden erzielt. Das Risiko blieb weiterhin im Griff und damit alles in bester Ordnung.
Was wollte dieser Narr aus der Westschweiz bloß von ihnen? Niemand auf der Welt brauchte einen zweiten Doktor Doom.