Читать книгу Moskau und zurück - Kendran Brooks - Страница 5
Drei Monate danach: Montag, 29. Sept. 2008
ОглавлениеJules saß bestimmt seit einer Stunde regungslos im Zimmer der kleinen Alina, hatte sich einen Stuhl neben das leere Kinderbett gestellt, sich gesetzt und starrte seitdem gedankenverloren auf das schneeweiße Laken, das nur leichte Knitter aufwies. Er spürte, dass ihm sein rechtes Bein eingeschlafen war, denn er konnte es nicht mehr bewegen, hing wie tot an seinem Körper, gefühllos und abgestorben.
Sollte er aufstehen und damit die Ameisen in seinen Blutbahnen aufwecken? Doch aus welchem Grund sollte er sich noch einmal von diesem Stuhl erheben?
Draußen brach die Abenddämmerung an. Trübes Herbstlicht drang durch die Fensterscheibe, lullte alles im Zimmer ein. Es war, als wenn der Himmel selbst den Schmerz in der Brust von Jules barmherzig dämpfen wollte. Doch die Trübheit hatte sich längst in sein Herz hineingefressen, hatte sich dort ausgebreitet, vergiftete seine Seele.
Wie konnte es bloß soweit kommen?
Unbewusst schüttelte Jules seinen Kopf.
Zugegeben. Er hatte als Lebenspartner von Alabima und als Vater von Chufu und Alina auf der ganzen Linie versagt. Und er war dafür vom Schicksal hart bestraft worden. Doch durfte eine Strafe so vernichtend ausfallen? War das gerecht?
Sein Hausarzt, Robert, ein wirklich guter Freund, hatte ihm irgendwelche Tabletten verschrieben. Er sollte sie ein paar Wochen lang einnehmen, hatte ihm Robert eindringlich nahegelegt, dann würde er sich rasch wieder besser fühlen.
Doch was wusste sein Arzt schon von seiner Trauer?
Ja, Jules wollte trauern, schämte sich keineswegs dieses tiefen Gefühls der Hoffnungslosigkeit, das von Woche zu Woche immer stärker Besitz von ihm ergriff und ihm seinen Lebenswillen entzog. Ja, es verlangte ihn nach dieser selbstzerstörerischen Stimmung in seinem Herzen, nach der Düsternis, die sein Leben von innen heraus auffraß
Was war der Sinn des Lebens?
Was war der Sinn seines Lebens?
Jules erinnerte sich an einen guten Freund von früher. Der hatte doch eine Kurzgeschichte über den Sinn des Lebens geschrieben. Ja, das Buch müsste immer noch im Regal in seinem Büroraum unten stehen. Sollte er es holen gehen?
Er entschloss sich dazu. Ächzend stand er auf, unfähig, sein gefühlloses rechtes Bein zu belasten, ohne einzuknicken. Er verharrte schnaufend, ertrug stoisch den heftigen Schmerz, als sich das Blut den Weg durch die Adern und Venen bahnte. Immer noch hinkend ging er in die Eingangshalle hinunter, in sein Büro. Ja, dort stand es, so leuchtend orange, dass man es auf den ersten Blick zwischen all den anderen Büchern entdecken musste. Er zog den schmalen Band hervor, ging wieder hoch ins Zimmer von Alina, setzte sich wieder auf den Stuhl neben dem Bettchen, suchte sich die Geschichte heraus.
*
Der Sinn des Lebens
Vor ein paar Wochen war ich am Gymnasium in Tübingen. Eine Lehrerin hatte mich zum Schriftstellerkurs ihrer Abschlussklasse eingeladen. Ich vermutete insgeheim, ich sollte dort als abschreckendes Beispiel eines Nichtskönners präsentiert werden. Doch ich verfügte gerade über die notwendige Zeit und die Lust und wagte deshalb den Auftritt.
Die Lehrerin stellte sich wenig später als eine glühende Bewunderin meiner Bücher heraus und ich ließ sie deshalb drei oder vier Kurzgeschichten auswählen, die ich den Schülern anschließend vorlas. Nach dem eher höflichen, als begeisterten Klatschen der Schüler begann die allgemein übliche Fragestunde. Bereits die Nummer drei war ein echter Hammer: Eine hübsche Blondine mit kessem Blick und spitzer Nase fragte mich, was denn, meiner Meinung nach, der wahre Sinn des Lebens sei.
Bevor ich ihr salopp antworten konnte mit Selbstverständlich Sex, Drugs and Rock’n’Roll, rief ich mich zur Ordnung und meinte stattdessen: »Der Sinn des Lebens? Keine einfach zu beantwortende Frage. Lassen Sie uns doch gemeinsam diesem ewigen Rätsel der Menschheit nachspüren.
Unser Weg zur Findung der Antwort soll dabei möglichst rational und objektiv sein. Lassen wir jede Gefühlsduselei und vor allem die Philosophie beiseite. Denn Gefühle verschleiern die wirklichen Zusammenhänge und mit der Philosophie lässt sich alles und nichts begründen. Halten wir uns stattdessen strikte an die bekannten Tatsachen.
Pflanzen und Tiere sind Teile der Natur. Natur heißt ständige Veränderung der Umweltbedingungen. Um mit diesem Wechsel zurechtzukommen, hat die Natur das Konzept der Evolution entwickelt: Eine Generation folgt der vorherigen und mit jeder von ihnen werden kleine Veränderungen in den Genen als mögliche Antwort auf sich wandelnde Lebensbedingungen eingebaut.
Pflanzen und Tiere sind bei der Vermehrung stark von ihren Instinkten geleitet und weniger von Erfahrung. Zwar geben bei einzelnen Tierarten die Mütter den Kindern etwas an Wissen mit auf den Lebensweg, doch beschränkt sich diese Weitergabe von Informationen mangels Aufzeichnungsmöglichkeiten auf die direkte, persönliche Anleitung. Das schränkt die Menge und die Qualität der Informationen stark ein.
Aus diesem Grund müssen sich Pflanzen und Tiere auch in Zukunft fast ausschließlich auf die Evolution verlassen. Um das Aussterben der eigenen Art zu verhindern, liegt der Sinn des Lebens von Pflanzen und Tieren darum einzig in der Reproduktion der eigenen Art.
Bei uns Menschen liegt die Sache etwas anders gelagert. Wir haben die Sprache, später Bilder und Schrift entwickelt, um Erfahrungen direkter und umfangreicher weitergeben zu können. So steht uns nicht nur das Wissen unserer Eltern, sondern die Erfahrungen und Erkenntnisse von Jahrtausenden zur Verfügung. Ich glaube, es war Terry Pratchett, der Autor der Scheibenwelt Romane, der den Menschen als einen Geschichten-erzählenden-Affen beschrieb hat, was uns wohl sehr treffend karikiert.
Dank dem Reservoir an bestehendem und weiter gegebenem Wissen können wir uns rascher als die übrige Natur auf Veränderungen einstellen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Grippe-Viren. Kaum sind sie von der Natur erschaffen, wird ihre Wirksamkeit durch die moderne Medizin zunichte gemacht.
Diese Überlegenheit gegenüber der Natur besteht bereits seit längerer Zeit. Vor einigen hunderttausend Jahren hat der Mensch das Feuer für die Zubereitung von Speisen entdeckt und so seine Ernährungsmöglichkeiten stark erweitert. Mindestens seit dieser Zeit ist er deshalb auf der Suche nach einem zweiten Sinn in seinem Leben, neben der Reproduktion.
Leider bringt uns das Streben nach mehr Sinn laufend in neue Schwierigkeiten. Denken Sie an die Religionen, die uns Dinge erklären, welche uns die Wissenschaft nicht zweifelsfrei beweisen kann. Die Religionen befriedigen unser metaphysisches Bedürfnis. Doch wer einzig in der Religion seinen zweiten Lebenssinn findet, ruft leicht Kriege gegen andersgläubige aus, gegen die Feinde seines zweiten Lebenssinns. Oder denken wir an die großen Eroberer, an Könige und Wirtschaftskapitäne. Sie schaffen sich ohne Rücksicht und mit allen Mitteln ihre Reiche, über die sie herrschen können. Dabei spielt für sie das Schicksal ihrer Untertanen nur eine geringe Rolle. Beide, der religiöse Fanatiker, wie der nach Macht strebende Mensch, haben allerdings zumindest zeitweise ihren Götzen gefunden, dem sie huldigen können und der sie glücklich macht.
Auch Künstler haben Momente voller Glück, wenn sie etwas Einmaliges geschaffen haben. Oder nehmen Sie die Sieger im Sport oder Spiel. Sie fühlen sich allesamt großartig und sind überglücklich. Ja selbst der Unterlegene spürt ein Glücksgefühl, wenn er nur gut genug gekämpft hat. Und genau dies dürfte der zweite und eigentliche Sinn unseres Lebens sein, nämlich Glück zu verspüren.
Vielleicht fragen Sie sich nun, wie man sein Glück finden kann? Das ist einfacher, als man gemeinhin annimmt. Kehren wir für die Beantwortung dieser Frage zum ersten Sinn des Lebens zurück.
Der Sinn der ständigen Reproduktion beruht auf dem Konzept der Evolution: Was sich ständig erneuert, kann sich anpassen. Den zweiten Sinn des Lebens, Glück zu verspüren, können wir erfüllen, in dem wir nach dem Konzept Freude haben und Freude geben leben. Denn wer sich Freude verschafft und im selben Masse Freude verschenkt, verspürt nicht nur Glück allein, er lässt auch andere am Glück teilhaben. Suchen Sie sich also möglichst viele Freuden und verteilen Sie so viel Freude wie Sie nur können. Wägen Sie dabei aber immer ab, welche Freude Ihnen hier und jetzt am meisten Glück beschert und beschränken Sie sich darauf. Denn alle Freuden der Erde kann niemand ausleben. An einer Party mit Freunden müssen sie sich zum Beispiel zwischen den anregenden Gesprächen und dem Alkoholrausch entscheiden. Beides zusammen geht nicht. Wägen Sie daher immer klug ab.
Der griechische Philosoph Epikur hat bereits vor über zweitausend Jahren das Glück zum einzigen wirklichen Sinn des Lebens erhoben. Dabei schränkte er dieses Glück aber allzu sehr auf die eigene Person ein und schürte so auch den Egoismus. Die Epikureer waren darum lange als genusssüchtige Egoisten verschrien. Soweit sollten Sie es also nicht kommen lassen. Nein. Um glücklich zu sein gehört nicht nur das Erleben der eigenen Freude, sondern genauso das Erleben der Freude bei anderen Menschen.
Und wenn Sie gleichzeitig auch noch der Natur Genüge tun und den ersten Sinn des Lebens dabei erfüllen, umso besser für die Menschheit.«
Ich war höchst zufrieden mit meinen Ausführungen. Im Klassenraum blieb es jedoch erst noch ein paar Sekunden lang still, bevor ein paar der Schüler mit den Fingerknöcheln auf ihr Pult zu klopfen begannen, was ich als allgemeine Zustimmung zu meiner Antwort wertete. Mein Kopf war in diesem Moment wohltuend leer, so als wenn sein gesamter Inhalt ausgeschüttet wäre. Ich war eins mit dem Universum. Die Anschlussfrage derselben Blondine holte mich allerdings wieder in die Realität zurück, denn sie wollte wissen, ob ich Pizza mag.
*
Jules klappte das Buch zu. Ja, wir Menschen verlangten nach mehr Sinn in unserem Leben. Unser Fortpflanzungstrieb genügte zwar, um zu heiraten, Kinder zu zeugen und sie aufzuziehen. Doch die vielen Trennungen und Scheidungen bewiesen, dass dieser Zweck allein auf Dauer nicht genügte. Manche Menschen wandten sich darum mit Inbrunst einer Sache zu. Ob es sich dabei um eine Religion, ein Vorbild oder ein Hobby handelte, spielte kaum eine Rolle. Andere wiederum vergruben sich in ein hektisches Treiben, vielleicht, um nicht wirklich über ihre verbleibenden Jahre auf Erden nachdenken zu müssen. Wie schrieb Goethe in seinem Die Leiden des jungen Werther? Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden.
Und die Lehre von Epikur kann man in einem einzigen Satz zusammenfassen: Meide den Schmerz und die Pein und füge auch anderen keine Schmerzen oder Pein zu und du findest das wahre Glück auf Erden.
Doch wie sollte er jemals wieder Glück empfinden, nachdem er das Wertvollste in seinem Leben verloren hatte? Und falls Glück der eigentliche Sinn des menschlichen Lebens ist, unter welchen Umständen konnte er dann noch weiterleben?
Jules erhob sich wieder vom Stuhl, trat zum Fenster, blickte durch die Gardine hinaus auf den dunkel unter ihm liegenden See. Nicht mehr lange und die Nacht würde alles verstecken, erst die Bergkette in der Ferne, später den See und sogar den Garten. Es waren nur wenige Schritte hinunter zum Wasser. Es würde sehr kühl sein, kaum zehn Grad Celsius. Die Kälte würde rasch in seinen Körper dringen, ihn erst unempfindlich machen, dann vollkommen lähmen. Die Gleichgültigkeit würde ihn überkommen, ihn herzlich empfangen.
Er ging zurück zum Stuhl, setzte sich, starrte auf das Laken mit den feinen Fältchen. Sein Blick war leer.