Читать книгу Die Pest - Kent Heckenlively - Страница 12

KAPITEL 3 Der zweite Tag im Gefängnis

Оглавление

Judy, in diesem Haus stimmt irgendetwas nicht.

—Mikovits’ Stiefvater, als er an aggressivem Prostatakrebs starb

Samstag, 19. November 2011

Um viertel vor sechs Uhr morgens dröhnten die Turmwächter über die Lautsprecher: „Frühstück wird in fünfzehn Minuten serviert.“ Ein Lautsprecher in jeder Zelle verband die Gefangenen mit dem Hauptturm, eine kreischende, allgegenwärtige Erinnerung an das institutionelle Umfeld. Mitteilungen konnten auf diese Weise in alle Zellen oder auch in nur eine einzelne Zelle übermittelt werden. Jede Gefangene lernte schnell, mit einem Pawlow’schen Reflex auf den Lärm zu reagieren: Sie sollte vollständig angekleidet sein, ihre Koje gemacht haben, ihr kleines Handtuch um den Hals wickeln, ihre Registrierungsnummer auf ihrem Arm sichtbar machen und an der hinteren Wand gegenüber der Tür stehen, wobei ihre Nase tatsächlich die Wand berühren sollte.1

Mikovits konnte sich nicht an das erinnern, was in den Momenten geschehen war, bevor die Wache sie aus dem verträumten Zustand riss, in dem sie für eine Minute hatte vergessen können, wo sie sich befand. Vielleicht war sie wieder eingeschlafen. Marie bereitete sich auf den Appell vor, also schwang Mikovits sich eilig von ihrer Koje herunter, um dasselbe zu tun. Am Vorabend hatte sie einen Riegel Seife erhalten, nur wenig größer als ein Silberdollar, sowie ein einziges, in Aluminiumfolie eingeschweißtes Päckchen Zahnpasta. Sie benutzte beides schnell, ohne zu realisieren, dass dies die einzigen Toilettenartikel waren, die man ihr für die nächsten fünf Tage zur Verfügung stellen würde.

Da Judy das Protokoll nicht begriff, stellte sie sich vor die Tür, während sie wartete und die Dicke der Stahltür an ihrer Zelle und das kleine Fenster darin bemerkte, das nicht größer als 15 x 20 cm war und den Wachen ermöglichte, hineinzuschauen und zu sehen, ob sie bereit waren. Sie spürte einen Klaps auf ihrer Schulter, drehte sich um und sah, wie ihre Zellengenossin ihr ein Zeichen gab, sich zur Rückwand zu bewegen. „Du musst das tun“, sagte Marie und drehte sich zur Wand und berührte sie mit ihrer Nase. „Es gibt Ärger für alle heute, wenn du das nicht machst.“ Sie machte übertriebene Grimassen und Gesten.

Die Wachen kamen vorbei und starrten auf ihre Registrierungsnummer und ihre Kleidung. Sie bestand die Musterung, und sie und Marie wurden routinemäßig aus ihrer Zelle geführt und stellten sich an die Wand, bis die Wachen damit fertig waren, alle zu kontrollieren. Als alle Gefangenen versammelt waren, marschierten sie unter Begleitung zum Frühstück. Mikovits nahm sich einen Moment Zeit, um den strategischen Grundriss der Anlage zu beobachten. Jeder Zellentrakt war wie ein dreieckiges, an einem Zentrum befestigtes Blütenblatt, wobei sich die Zellen am weiter entfernten Ende zu einem einzigen Ausgang verengten, der in einen großen, runden Raum führte, der das Zentrum der „Blume“ dieser blütenförmigen Zellentrakte um sie herum war. Der Kreis diente als „Freizeitraum“ für die Gefangenen sowie für die Aushändigung der Mahlzeiten, bevor sie in ihre Zellen zurückkehrten, um zu essen. Der „Turm“ befand sich in der Mitte der vier „Blütenblätter“, die um ihn angeordnet waren, sodass die Wachen die einzelnen Zellenblöcke sowie die Freizeitbereiche sehen konnten.

Das Frühstück an diesem Morgen bestand aus Trockenei und entweder Toast oder Pfannkuchen, die aussahen, als ob sie aus dem Gefrierschrank genommen und in einem riesigen Ofen auf ein Blech geworfen worden waren. Sie nahm den gefüllten Teller, beabsichtigte aber nicht, etwas davon zu essen, vor allem nicht die Eier, die ungefähr so appetitlich aussahen wie jahrzehntealte Nahrung aus einem Luftschutzbunker. Sie rechnete damit, bis zum Ende des Tages eine Kaution hinterlegen zu können und freigelassen zu werden. Als sie sich die aufbereiteten Eier auf dem traurig aussehenden Pappteller ansah, war alles, an was sie denken konnte, was für ein Glück sie hatte, dass ihre letzte Mahlzeit vor der Inhaftierung ein wunderbarer Frühstücksburrito in Mrs. Olsons Kaffeehütte gewesen war. Mrs. Olson war bekannt für Burritos, die so groß waren, dass man davon eine ganze Woche leben konnte (oder so ähnlich, wie sie zu scherzen beliebte), mit frischen Zutaten und dem Flair des Hausgemachten: himmlisch im Vergleich zu dem, was sie vor sich hatte.

Als die Gefangenen damit fertig waren, das monotone Essen zu kauen, schoben sie ihre Tabletts wie angewiesen aus der Tür. Andere Gefangene kamen in ihrer „Freizeit“ vorbei, um die Tabletts abzuholen und die Pappteller in den Abfalleimer zu werfen.

Gegen elf Uhr morgens krächzte der Lautsprecher: „Mikovits! Sie haben einen Besucher! Bereiten Sie sich vor!“ Mikovits begann auf die Rückwand zuzugehen, um ihre Nase daran zu halten, als ihre Zellengenossin sie stoppte. „Nein, du musst dich vor die Tür stellen, die Hände hinter deinem Rücken“, sagte Marie und machte ihr die richtige Körperhaltung vor. „Und genauso gehst du auch in den Besucherbereich. Hände hinter dem Rücken, keine Handschellen.“

„Oh, okay.“ Mikovits nahm diese Position ein und schaute ihre Zellengenossin fragend an, ob sie es richtig mache.

„Okay“, sagte Marie mit einem bestätigenden Nicken. Die weibliche Wache öffnete die Tür, kontrollierte Mikovits oberflächlich, gestikulierte, dass sie vor ihr her gehen sollte, und gab ihr ein Zeichen, sich vorwärts in den Besucherbereich zu begeben. Als Mikovits vor ihr her ging, zeigte die Wache auf den Siegelring am Mittelfinger von Judys rechter Hand und blaffte: „Kein Schmuck, Gefangene!“

„Er ist schon lange dran. Wahrscheinlich länger als Sie am Leben sind“, sagte Judy. Es war ihr Siegelring von der University of Virginia in Charlottesville. Eines Tages im Jahr 1981, nach Stunden in einem kalten Raum, in dem sie natürliche Produkte für Krebstherapien purifizierte, war er wieder einmal heruntergerutscht, und in einem Anfall von Groll hatte Judy ihn über ihren Mittelfinger gestreift, wo er seit diesem Tag genau passend steckte. Die Wache war eine von vielen Leuten, die behaupteten, sie hätten einen „Trick“, um Ringe abzuziehen, in der Regel, indem sie das Metall auf eine bestimmte Weise verdrehen oder eine spezielle Creme oder Lotion verwenden würden. Die Wache verschwand für einen Moment und kehrte mit einer ihrer „magischen“ Cremes zurück. Sie trug sie auf und versuchte, Mikovits’ Finger zu verdrehen und den Ring abzuziehen. Mikovits Knöchel wurde rot und entzündet, als der Ring wie ein Knebel chinesischer Fingerhandschellen enger wurde. „Er muss weg“, sagte die Wache nach einigen Minuten des Versuchs. „Das ist zu Ihrem eigenen Schutz. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ein Gefangener machen könnte, um ihn zu kriegen.“

Mikovits verstand die Gefahr, die von Gefangenen ausging, wenn man Schmuck trug, aber es gab keine Möglichkeit, den Ring von ihrem Finger he-runterzubekommen. Für Judy war es ein kleiner Triumph; eine Möglichkeit, ihre eigene Identität als ehrliche Wissenschaftlerin zu bewahren, die hart gearbeitet hatte. Schließlich kapitulierte die Wache und führte sie in Eile in den Besucherbereich. Als Mikovits vor der Wache den Zellenblock hi-nunterging, konnte sie sehen, wie sich ein paar andere Gefangene vorbereiteten. Besuchszeiten waren Freitag, Samstag und Sonntag von 7.30 bis 17.00 Uhr. Jedem Zellentrakt war ein zweistündiger Block mit einer halben Stunde zwischen den Blöcken zugewiesen. Die Routine erzwang sowohl die Befolgung der Regeln als auch die Einsicht in diese Schinderei.

Familienmitgliedern, die einen geliebten Menschen besuchen wollten, wurde geraten, anzurufen, bevor sie in der Einrichtung auftauchten, da Gefangene oft verschiedenen Zellblöcken mit unterschiedlichen Besuchszeiten zugewiesen wurden. Den Insassen wurden zwei spärliche halbstündige Besuche pro Woche gestattet, und jeder Besuch war auf zwei Erwachsene oder einen Erwachsenen und ein minderjähriges Kind beschränkt. Jede Person, die die Einrichtung betrat, um einen Gefangenen zu besuchen, wurde durchsucht.2

Die Strenge des Besucherbereichs schockierte Mikovits: Er schien so verhärtet wie einige der Gefangenen. Die Wände waren aus obsidian-schwarzem Edelstahl, und in den Besucherkabinen befand sich ein einziger Stuhl mit einem Telefon an der Wand daneben. Mikovits ging zu der Kabine, in der David wartete. Sie versuchte, ihm ein tapferes Lächeln zuzuwerfen, als sie den Hörer abnahm. „Mir geht es gut“, sagte sie schnell in den Hörer. Sie hörte keine Antwort vom anderen Ende, obwohl sie sah, dass Davids Lippen sich bewegten. Mikovits wandte sich an eine der Wachen. „Das Telefon funktioniert nicht“, klagte sie.

„Lesen Sie die Anweisungen“, antwortete die Wache mit mürrischer Stimme.

Mikovits beugte sich dicht davor, aber ohne ihre Lesebrille war es unmöglich, sie zu entziffern. Wie viele Menschen, die allmählich schlechte Augen bekamen, behalf sie sich mit einer Lesebrille aus der Drogerie. Sie benötigte bereits +3,25 Dioptrien und sie wusste, dass sie bald etwas Stärkeres von einem Augenoptiker brauchen würde. All die Jahre, in denen sie durch Mikroskope geschaut hatte, hatten ihren Tribut gefordert. „Ich kann es nicht lesen“, sagte Mikovits. Die Wache atmete frustriert aus, als hörte sie mehrmals am Tag Beschwerden von Analphabeten. „Wenn Sie nicht lesen können, dann sollte Ihre Zellengenossin in der Lage sein, die Anweisungen für Sie zu lesen und Ihnen zu sagen, was zu tun ist.“

„Nein, ich kann lesen, es ist nur so, dass ich meine Brille nicht dabeihabe.“

„Sie nehmen einfach den Hörer ab, wählen die vierstellige Nummer, die man Ihnen gegeben hat, als Sie hierher kamen, und dann Ihre Registrierungsnummer, und der Anruf wird durchgeschaltet.“

„Welche vierstellige Zahl?“, fragte Mikovits.

„Die, die Sie bekommen haben, als Sie hierherkamen.“

Mikovits erinnerte sich an den kleinen Stapel Papiere, der ihr gegeben worden war, als sie am Morgen zuvor um zwei Uhr aufgenommen und registriert wurde. Die Nummer musste dabei gewesen sein. „Ich glaube, ich habe sie in meiner Zelle gelassen.“

„Dann müssen Sie Ihren Besuch wohl erst morgen bekommen.“

Das war der Moment, an dem es für Mikovits zu viel wurde und sie es nicht mehr ertragen konnte. Sie fing an zu weinen. Wie konnte es sein, dass sie David so nahe war, ihn sehen und doch nicht mit ihrem Mann sprechen und ihn trösten konnte? Er sah verstört aus, sein Gesicht aschfahl: Die Situation forderte offensichtlich ihren Tribut. Sie wusste, er war wahrscheinlich krank vor Sorge, dass man sie im Gefängnis schlecht behandelte, aber das war das geringste ihrer Probleme. Sie wollte auch herausfinden, wie er mit dem Schock und dem Stress zurechtkam. Er wusste vielleicht nicht einmal, dass sie in den frühen Morgenstunden nicht nach Reno abtransportiert worden war, sondern dass sie vorerst in Ventura sicher war. Dies war ein ehrenwerter, gesetzestreuer Mann, und jetzt hatte er eine Frau, die im Gefängnis saß.

Was hatte sie falsch gemacht?

Nichts. Sie hatte lediglich versucht, den Patienten zu helfen und das Geld der Regierung zu schützen.

Die Wache gab ihr ein Zeichen aufzustehen und legte ihr die Hände auf den Rücken für den Gang zurück zu ihrer Zelle. David sah verwirrt und hilflos aus, wie er da hinter der Glasscheibe saß.

Sie ging hinaus aus dem Besuchsbereich, den Zellentrakt hinunter in ihre Zelle, und hörte, wie die Stahltür hinter ihr durch die Luft schnitt und dabei so bedrohlich und endgültig klang, wie nur Stahl es kann.

* * *

David war fest entschlossen, das Gefängnis nicht zu verlassen, ohne mit seiner Frau gesprochen zu haben. Nachdem Mikovits aus dem Besucherbereich geholt worden war, ging David zu einer der Wachen. Er erklärte in seiner entwaffnenden Art, dass sie keine Lesebrille hatte und mit den Abläufen im Gefängnis nicht vertraut war. Könnten sie sie nicht noch einmal zurückbringen, damit sie richtig mit ihm sprechen konnte? Währenddessen beobachtete Marie Mikovits, wie sie hereinkam, und sah den verstörten Ausdruck in ihrem Gesicht. Auf die Frage, was geschehen sei, erzählte Mikovits es ihrer Zellengenossin.

„Du kannst nichts erkennen?“, fragte Marie.

„Vielleicht wenn die Zahlen groß genug geschrieben sind.“

Marie schaute sich Mikovits Papiere an, fand die vierstellige Nummer und ihre Registrierungsnummer auf ihrem Armband und schrieb sie auf ein Blatt Papier, groß genug, damit Mikovits sie lesen konnte. „Kannst du das jetzt lesen?“

„Ja. Ja, das kann ich“, sagte Mikovits. Sie dachte, dass sie es morgen richtig machen würde.

Wenige Minuten später jedoch machte die Wache im Turm über den Lautsprecher eine Ansage: „Mikovits, Sie haben einen Besucher.“

„Okay, versuchen wir es noch einmal“, sagte die Wache, als sie ankam. Mikovits legte ihre Hände auf ihren Rücken, die Wache trat ein, und sie liefen den Gang des Zellentraktes hinunter. Als sie den Raum wieder betrat und David sah, hatte sie ein Gefühl von Triumph. Sie setzte sich, nahm den Hörer ab, hielt sich das Papier vors Gesicht und wählte die Nummern. Das Telefon klingelte auf Davids Seite der Glasscheibe und er hob ab. „Wie geht es dir?“, fragte er sanft.

„Mir geht es gut, mein Liebster. Ich komme zurecht. Ich habe nichts falsch gemacht.“ Sie war sehr entschlossen und mit sich im Reinen. Sie war schockiert von der Verhaftung, hatte aber das Gefühl, dass die wirkliche Gefahr darin bestand, nach Nevada zurückzukehren. Sie befürchtete, dass man nicht wissen konnte, was passieren könnte, wenn sie wieder unter Harveys fast despotischer Kontrolle über seine Lakaien im Silver State wäre. Er hatte seinen weitreichenden Einfluss auf Kalifornien ausgedehnt, um sie festzunehmen, aber die Leute im Golden State waren nicht seine Lakaien. Sie würden die Befehle annehmen, die er mit amtlich klingendem Juristenlatein aufgeplustert hatte, aber sie würden seinem Gebot nicht folgen.

„Gut geht es mir. Weil ich versuche herauszufinden, was hier läuft. Ich habe die Kaution bekommen, aber ich weiß nicht, was los ist. Es ist sehr merkwürdig. Ich verstehe es nicht. Ich rede mit Harvey, und Frank hilft auch. Frank wird mit Harvey sprechen. Es wird alles wieder in Ordnung kommen.“ Sie sprachen eilig noch ein paar Minuten miteinander, und dann war ihre Zeit vorbei. Fünfzehn Minuten vergingen blitzschnell, nachdem man fast einen Tag im Gefängnis eingesperrt war. Als die Wache dieses Mal kam, war Mikovits gelassen. Sie hatte wieder die Kontrolle über eine destabilisierende Situation. David tat alles in ihrem Sinne, und Frank hielt ihr auch den Rücken frei. Sie versuchten, mit Harvey vernünftig zu reden. Sie alle würden eine Lösung finden, um sie aus dem Gefängnis herauszubekommen.

Als Mikovits zurück in die Zelle kam, schlief Marie fest. Alles, was Mikovits tun konnte, war, auf ihre Koje zu kriechen und an die Decke zu starren. Da sie ihre Brille nicht hatte, konnte sie nichts lesen. Sie konnte nur dort liegen, und sie dachte an die ME/CFS-Patienten, die still auf dem Rücken liegen und jeden neurologischen Reiz vermeiden mussten, gefangen in einer kaum wahrnehmbaren Welt der Ruhe. Gegen vier Uhr nachmittags wurden die Gefangenen zu ihrer „Freizeit“, die in der Regel etwa vier Stunden dauerte, aus ihren Zellen geholt. Der kreisförmige Bereich, der den „Aussichtsturm“ enthielt, hatte auch einen Raum mit Betonböden, stählernen, im Boden fest verschraubten Picknicktischen, Wagen mit Büchern und Zeitschriften und einem kleinen Fernseher, der etwa drei Meter hoch an der Wand montiert war, um ihn vor den Insassen zu schützen. Ohne ihre Brille konnte sie das Footballspiel, das im Fernsehen lief, weder lesen noch verfolgen: Es war, als sei sie in einem fremden Land.

Sie versuchte, durch den Raum zu gehen, in der Hoffnung, dass die Bewegung sie ein wenig erschöpfen und ihr einen besseren Schlaf verschaffen würde, aber sie hatte immer noch nicht alle Benimmregeln verstanden und wusste nicht, dass sie die anderen Gefangenen auf Verhaltenshinweise hin beobachten musste. Als sich die Tür öffnete, die zum Turm führte, und eine Wache hereinkam, waren alle Gefangenen angehalten, sich sofort hinzusetzen. Ein paarmal war Mikovits die einzige Person, die noch stand. Sie begriff nicht, warum alle anderen aus unerfindlichen Gründen das Spiel „Die Reise nach Jerusalem“ zu spielen schienen. Die Gefangenen wurden auch zum Mittagessen und zum Abendessen aus ihren Zellen geholt. Obwohl sie nichts von dem Mittagessen zu sich genommen hatte, dachte sie, sie sollte jetzt doch versuchen, etwas von dem Abendessen zu verzehren, vielleicht nur eine Scheibe von dem mysteriösen Eiweiß, damit sie bei Kräften blieb. Das Abendessen bestand aus einem Hamburger, und sie nahm ihn, schob den Bratling vom Brötchen herunter und aß nur das Hackfleisch. Es schmeckte wie das Pappende einer alten Haferflockendose, aber sie musste etwas essen.

Nach dem Abendessen, als ihre Zellengenossin schon wieder schlief, wanderten Mikovits’ Gedanken zurück zu der Kette an Ereignissen, die dieses Desaster verursacht hatten. Sie versuchte positiv über Harvey Whittemore zu denken, aber ihre Entrüstung bekam die Oberhand. Wie konnte er dies tun, wo sie doch vor Kurzem noch im Kampf für die gleiche Sache verbündet gewesen waren? Wie konnte er sie wie ein Familienmitglied behandeln und dann so etwas tun? Hatten sie in den letzten fünf Jahren nicht begriffen, wer sie war? Sie spürte wieder, wie die Wände der Zelle sie umzingelten. Dann betete sie, dass Harvey und Annette zur Vernunft kommen und diesen Wahnsinn stoppen würden.

Mikovits erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit Annette Whittemore einige Monate zuvor auf der Ottawa Conference im September 2011. „Ich werde dabei nicht mitmachen“, hatte Mikovits gesagt, nachdem sie erneut erklärt hatte, dass der diagnostische Test auf XMRV nicht klinisch validiert sei und sie ihn daher nicht vorzeitig verkaufen sollten.3

Mikovits erzählte Annette, dass sie als Projektleiterin des Forschungsprojekts mehr als bereit war, die Verantwortung für die früheren Fehler zu übernehmen. „Aber das betrifft die Vergangenheit. Ich werde keine Verantwortung dafür übernehmen, dass ich hier nicht die Leitung innehatte“, fuhr sie fort. „Wir müssen das Richtige tun, alles stoppen, bis wir das herausbekommen haben!“ Das waren die letzten Worte, die sie Annette persönlich sagte.

Mikovits war klar, dass ihre Worte und ihr Ton gegenüber Annette hart gewesen waren, aber sie wusste, dass sie ehrlich waren. Wenn sie hätte zurückgehen und sie hätte besänftigen können, hätte sie dies wahrscheinlich getan, aber ihre zugrunde liegende Botschaft bliebe unverändert: Sie konnten diesen ineffektiven Test nicht guten Gewissens verkaufen.4 Und die Frage, die unbeantwortet blieb und an deren Erforschung die wissenschaftliche Gemeinde wenig interessiert war, bestand darin, warum all diese Menschen an Krankheiten wie Krebs, ME/CFS und Autismus erkrankten.

Für Mikovits war das Vorgehen ganz klar. Eine Wissenschaftlerin sollte Krankheiten untersuchen, versuchen, ihre Geheimnisse zu lüften, und wenn ihr das gelingt, sollte sie schnellstmöglich Wege finden, um den Betroffenen Linderung zu verschaffen. Alle anderen Probleme waren zweitrangig.

Die wichtige Frage war, was man mit den Kranken machte, die jetzt litten. Alles, was Patienten mit ME/CFS einen Tag länger in ihren abgedunkelten Räumen hielt, was Kinder mit Autismus davon abhielt, die Gedanken auszusprechen, die durch ihre überreizten Gehirne blitzten, oder ehrliche Wissenschaftler ins Gefängnis brachte, konnte nur mit einem einfachen Begriff bezeichnet werden: das Böse.

Die Pest

Подняться наверх