Читать книгу Die Pest - Kent Heckenlively - Страница 8
Vorwort Eine Krankheit, die der Wirtschaft ganzer Nationen schaden kann
Оглавлениеvon Hillary Johnson
Ihr Vortrag war der letzte an diesem Tag, und der Moderator gestattete eine letzte Frage. Ich erhob meine Hand. „Ist es wahr, dass Sie bei dieser Krankheit ein neues Pathogen entdeckt haben?“ Ein Gerücht war mir zu Ohren gekommen, aber meine Erwartungen konnten kaum geringer sein. Schweigen folgte, während Judy Mikovits die Seiten des Rednerpults ergriff, als ob sie ihre mögliche Antwort abwägen würde. „Ja“, sagte sie schließlich. Vereinzeltes Lachen ertönte im Saal, als ob sie gerade einen Scherz gemacht hätte. Nur ein Auditorium von Menschen, die seit sehr langer Zeit krank waren und die auch nur das geringste Wissen über die nervenaufreibende Geschichte ihrer Krankheit hatten, konnte so hoffnungslos sein, dass eine solche Behauptung als lächerlich betrachtet werden konnte. „Es ist kein neues Pathogen“, fuhr sie fort und senkte plötzlich ihre Stimme, sodass sie kaum hörbar war. „Aber es ist etwas Neues bei dieser Krankheit. Wir haben bei Science eine Publikation eingereicht“, fügte sie hinzu.
Mit diesem faszinierenden wissenschaftlichen Rätsel endete die wissenschaftliche Konferenz, die jährlich von der britischen Vereinigung Invest in ME am One Birdcage Walk nahe dem britischen Parlament abgehalten wurde. Es war im Mai 2009. Meine Freundschaft und berufliche Verbindung mit Judy Mikovits begann. Sie konnte sich damals den Hexenkessel nicht vorstellen, in den zu geraten sie dabei war, das Auf und Ab und die erschreckenden Wendungen, die in diesem Buch beschrieben werden.
Mit großer Anteilnahme habe ich im Verlauf der nächsten drei Jahre beobachtet und gehört, wie Mikovits von einem Höllenkreis in den nächsten zu springen schien, von Kritikern in einer Weise angezweifelt und verhöhnt, wie das nur wenigen Wissenschaftlern jemals geschehen wird. Am Ende würde ihr Verbrechen als Ketzerglauben erscheinen. Es war eine geheime Anklage, die jedem vorbehalten war, der es wagte, Beweise für eine virale Ursache, und schlimmer noch, für die Übertragbarkeit einer Krankheit zu liefern, die Regierungen auf allen Kontinenten seit drei Jahrzehnten mit einer widersprüchlichen Mischung von Erklärungen haben effektiv verschwinden lassen,– Erklärungen, von denen keine logisch war.
Während ihre ausstehende Publikation noch redaktionell bearbeitet wurde, begann Mikovits das Kommando in einer Schlacht zu übernehmen, die oft als heiliger Krieg der Medizin bezeichnet wurde. Aber damals wurde die zwölfsilbige „Myalgische Enzephalomyelitis“, die verständlicherweise zu ME abgekürzt wurde, nie als eine normale Krankheit angesehen, und auch die Reaktion des Gesundheitswesens war niemals auch nur annähernd normal gewesen. Stattdessen wurde sie mit einer merkwürdigen Last von Bedeutungen beladen, ein Wort, das Susan Sonntag in ihrem berühmten Essay „Illness as Metaphor“ („Krankheit als Metapher“) verwendete. „Nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Sinnhaftigkeit zuzuschreiben – und diese Sinnhaftigkeit ist ausnahmslos moralisch“, schrieb Sonntag. „Jede bedeutende Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang im Dunkeln liegt und für die es keine wirksame Behandlung gibt, neigt dazu, mit Bedeutung überfrachtet zu werden.“
Seit ihrem pandemischen Auftreten in den späten 1970ern wurde ME als psychiatrische Störung von Menschen propagiert, die „schlechte Coping-Strategien [haben] oder eine Vorgeschichte von unerreichbaren Zielsetzungen“, wie ein Wissenschaftler der US-Regierung in einem einflussreichen Artikel im Jahr 1988 schrieb. „Letztendlich muss jede Hypothese über die Ursache der ME die Psychopathologie mit einbeziehen, von der sie begleitet wird und die ihr in manchen Fällen vorausgeht“, fügte er hinzu. Unterstützt von einer passiven Laienpresse haben Wissenschaftler der Regierung versucht, die Krankheit abzutun, indem sie den Betroffenen allerlei Schwächen und boshafte Motive zuschrieben. Zu dieser Liste gehörte, die Patienten würden simulieren und die Sozialsysteme betrügen, sie seien entweder Mitleid heischend oder Typ-A-Persönlichkeiten, die eines Tages einfach zusammenbrechen, oder Menschen, die etwas über die Krankheit gelesen hatten und sie „gerne haben wollten“. Die Centers for Disease Control (CDC) würden wahrscheinlich jeden Wettbewerb darüber gewinnen, welche der Einheiten der US-Regierung mehr getan hat, um über die Opfer herzuziehen und die Krankheit zu verharmlosen. Die CDC haben Aussagen von sich gegeben wie „Hysterie“, „Yuppie-Burnout“, eine genetisch bedingte „Unfähigkeit, mit Stress umzugehen“, eine Vorgeschichte von sexuellem Kindesmissbrauch, „Ärzte, die sich selbst in einen Rausch hineingearbeitet haben“, „geheime Absprachen zwischen Patienten und Ärzten“ und „eine Epidemie von Diagnosen“, um nur ein paar der unhaltbaren „Ursachen“ zu nennen, die in den vergangenen dreißig Jahren von ganz oben aufgetischt wurden.
Mit jedem Jahr, das vergeht, verblasst die Erinnerung daran, wie plötzlich und wie aggressiv diese Krankheit in den späten 1970ern und frühen 1980ern besonders in großen Küstenstädten wie New York, Boston, Los Angeles und San Francisco auftauchte. Jeder, der nach, sagen wir mal, 1985 oder 1990 geboren ist, wird sich an keinen Zeitabschnitt im eigenen Leben erinnern können, in dem diese Geißel praktisch unbekannt war. Doch Mitte der 1980er-Jahre riefen besorgte Ärzte und verzweifelte Patienten immer wieder bei den Centers for Disease Control und den Gesundheitsämtern der großen Städte dieses Landes an, sodass sie in die Spitzenkategorie der Krankheiten rutschte, über die Anfragen eingingen. Am Ende übertrafen die Anrufe sowohl bei den CDC als auch bei den NIH die Anfragen über AIDS auf dem Höhepunkt der AIDS-Epidemie.
Im Jahr 1988 traf sich eine kleine Gruppe besorgter Wissenschaftler und Kliniker in der Forschung in Newport, Rhode Island, um die Krankheit und ihre Ursachen zu diskutieren. Charles Carpenter, Medizinprofessor am Brown University Hospital, stellte fest: „Wir sehen hier etwas, das es in den Fünfzigern und Sechzigern nicht gab. Die meisten von uns haben den Eindruck, dass dies etwas Neues ist. Wenn es dies bereits in den Fünfzigern und Sechzigern gegeben hätte, dann wäre darüber etwas geschrieben worden, selbst wenn man es als psychiatrisch abgetan hätte. Aber es gibt nichts darüber in der Literatur. Und das lässt darauf schließen, es gibt ein vorherrschendes Agens, das diese Krankheit antreibt.“ Ein weiterer Arzt, Paul Cheney, stimmte zu. „Wie wäre es sonst möglich gewesen, diese Krankheit all die Jahre zu übersehen?“ fragte er. „Obwohl eine große Zahl der Patienten nur subtil und vielleicht nicht so schwer erkrankt ist, gibt es eine beträchtliche Zahl von Patienten, die wirklich unglaublich krank sind, und ich kann es einfach nicht glauben, dass die Medizin dies über Jahrzehnte oder Jahrtausende beobachtet – und übersehen – hat. Das ist zu offenkundig.“ Sechsundzwanzig Jahre, nachdem Carpenter und Cheney ihre Bedenken geäußert haben, belaufen sich gegenwärtige Schätzungen hinsichtlich der Anzahl der weltweit Betroffenen auf zwanzig Millionen, wobei es in den USA eine Million oder mehr Patienten gibt. Damit übersteigt die Zahl der Betroffenen die Zahl der Patienten mit Brust- und Lungenkrebs, AIDS und Multipler Sklerose zusammengenommen. Heutzutage setzt sich ein Arzt in New York City über Skype mit Patienten in Usbekistan, Schottland und Norwegen in Verbindung. Forscher aus Japan, China und Lettland kommen zu Medizinkonferenzen in San Francisco. ME ist jetzt die am häufigsten auftretende chronische Krankheit, von der die meisten Leute noch nie etwas gehört haben, bis sie selbst daran erkranken.
Als 2009 Mikovits die Bühne betrat, war ME eine Krankheit mit einer schockierenden Geschichte der Vernachlässigung, die so weit ging, dass sie zu einer von der Regierung abgesegneten Verletzung von Menschenrechten gegenüber Millionen von Menschen auf der ganzen Welt aufgestiegen war. Den Patienten wurden nicht nur die medizinische Versorgung und Behindertenrenten verweigert sowie die emotionale Unterstützung, die sie von Familie und Freunden bekommen hätten, wenn sie an einer „wirklichen“ Krankheit gelitten hätten. Sie wurden entrechtet und von überall her mit Hohn und Spott überzogen und misshandelt. Kindern wurde die Schulbildung verweigert. Gelegentlich wurden Erwachsene und Kinder gegen ihren Willen in psychiatrischen Institutionen eingesperrt, und das entsetzliche Ergebnis war zumindest in einigen gut dokumentierten Fällen, dass sie daran starben. Das vielleicht schlimmste Ergebnis von alledem war die Abwärtsspirale in die Armut, die meist nach Beginn der Krankheit anfing und dann Jahre oder Jahrzehnte andauerte.
ME war ein Sturm, der sich in den späten 1970ern am Horizont zusammenbraute, ein Leiden, das so unglaublich klang, dass man den Gerüchten darüber kaum Glauben schenken konnte: „Sie ist wie Mononukleose – mit dem Unterschied, dass man niemals wieder gesund wird.“ So beschrieb sie mir gegenüber zuerst ein Journalistenkollege, der üblicherweise auf dem Laufenden war. Diese einst seltene Krankheit war dabei, gleichzeitig mit der AIDS-Epidemie zu explodieren, aber diejenigen mit ME teilten ein ganz anderes Schicksal. Statt Milliarden an Dollar für die Forschung auszugeben und die Welt der medizinischen Forschung auf diese Krankheit zu konzentrieren, versuchten die Führungskräfte im Gesundheitswesen, ME mit allen verfügbaren Mitteln zum Verschwinden zu bringen. Sie versuchten dies zum Beispiel durch Marginalisierung ihrer Opfer, oder, wie ich das in meinem Buch Osler’s Web dokumentiert habe, indem sie ein Komplott schmiedeten, um die vom Kongress beschlossene Forschung zu verhindern.
Es gibt eine großartige Abhandlung, die darauf wartet, über die unterschiedlichen Wege geschrieben zu werden, die von den Regierungen großer Nationen in Bezug auf AIDS und ME eingeschlagen wurden. Beide Krankheiten sind hinsichtlich ihrer Symptome und anormalen biologischen Werte kaum zu unterscheiden. Beide Krankheiten zeichnet ein gestörtes Immunsystem aus, das es unzähligen Virusinfektionen ermöglicht, sich auszubreiten – Viren, die normalerweise latent bleiben würden. Hinzu kommen ein erhöhtes Krebsrisiko, Demenz und vieles mehr. Bereits 1986 war ein Top-Neurologe nicht in der Lage, die beiden Krankheiten zu unterscheiden, als er MRT-Gehirnscans von ME-Patienten und die von Patienten mit AIDS-bedingter Demenz oder „ARD“ untersuchte. Die MRT-Scans von ME-Patienten waren übersät mit zahlreichen kleinen Läsionen und wiesen eine reduzierte graue Gehirnsubstanz auf. Die ME-Patienten leiden unter einer verheerenden Kaskade von Symptomen, und sie sind schließlich nur noch ein Schatten der Menschen, die sie einmal waren; mehr als die Hälfte ist vollständig ausgeschaltet, ein Viertel dauerhaft ans Bett gefesselt. Eine Erholung gibt es nur selten. Morbiditätsstudien haben gezeigt, dass ME-Patienten genauso krank sind wie AIDS-Patienten im Endstadium, Krebspatienten in einem fortgeschrittenen Stadium und Menschen, die an Herzinsuffizienz sterben.
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Mit ihrer Veröffentlichung in Science im darauffolgenden Oktober lieferte Mikovits sehr überzeugende Beweise für eine AIDS-ähnliche Virusinfektion, die bei fast 70 Prozent der Patienten und 4 Prozent der gesunden Kontrollen vorhanden war. Das Virus war 2006 an der University of California entdeckt und als XMRV bezeichnet worden. Als Mitglied der Gammaretrovirus-Familie wurde XMRV als murines Leukämievirus eingestuft, das wahrscheinlich in einem kritischen Augenblick in der jüngeren Vergangenheit von seinem natürlichen „Reservoir“ – Mäusen – auf den Menschen übergesprungen war. Obwohl die Entdeckung der XMRVs wenig Aufmerksamkeit erregt hatte, lösten Mikovits’ Daten, die einen Zusammenhang zwischen dem Virus und ME, seltenem Immunkrebs und schließlich Autismus aufzeigten, drei Jahre später einen Feuersturm aus. Wenn ihre Daten richtig waren, dann waren allein in Amerika zehn Millionen Menschen mit diesem Virus infiziert, wenn auch asymptomatisch. In einem kritischen Augenblick im Verlauf des folgenden wissenschaftlichen Aufruhrs bezeichnete ein skeptischer Vizepräsident des amerikanischen Roten Kreuzes, Roger Dodd, Mikovits’ Erkenntnisse als „Das Weltuntergangsszenario“. Mit anderen Worten, es war zu schrecklich, um wahr zu sein.
Eine von den Medien angeheizte Kontroverse brach aus, während Laboratorien auf der ganzen Welt versuchten, die Ergebnisse bei ME-Patienten zu replizieren. Es war ein Drama, das sich in den nächsten drei Jahren mit einer Heftigkeit abspielte, die in der Wissenschaft selten zu sehen ist. Berühmte Wissenschaftler schrien sich während normalerweise seriös ablaufender Konferenzen wegen ihrer Vorträge gegenseitig an; Beziehungen zerbrachen und Paranoia blühte auf, was offenbarte, dass Wissenschaftler sich vom Rest der Menschheit nicht wirklich unterscheiden. So unterschiedliche Publikationen wie The Economist und Science News folgten der Geschichte treu und brav und mit irritiertem Interesse, als ob die oft zweifelhafte Schlussfolgerung, die Sache zu bestätigen oder zu leugnen, sich auf ein Tennisspiel bezog anstatt auf eine dringende wissenschaftliche Angelegenheit, deren Ergebnis das Potenzial hatte, die Volkswirtschaften der Nationen zu beeinträchtigen. Eine sehr konservative Schätzung des jährlichen Verlustes für die US-Wirtschaft von ME belief sich auf 20 Milliarden Dollar, eine Zahl, die auf der unrealistischen Annahme basierte, dass alle, die durch die Krankheit arbeitsunfähig geworden sind, bevor sie erkrankten, nur 20.000 Dollar pro Jahr verdient hatten. Angesichts der Geschichte der lange politisierten Krankheit im Zentrum der Kontroverse war der Aufruhr kaum überraschend.
Doch die Wissenschaftlerin im Zentrum der Kontroverse, die oft eine Baseballkappe und Flip-Flops trägt und sich mit ihrer gemeinsamen Abstammung mit Attila dem Hunnen brüstet, war eine Überraschung. Sie war sechsundvierzig Jahre alt, mit oft zerzausten Haaren, in die die Sonne helle Strähnen eingebrannt hatte, und großen, unschuldig aussehenden blauen Augen. Sie sah aus, als wäre sie am glücklichsten am Steuer eines Segelbootes irgendwo weit draußen auf dem Pazifischen Ozean. In Wirklichkeit war sie Molekularbiologin und Biochemikerin und Autorin von etwa fünfzig Publikationen zur Immunologie bei HIV, seinen Krebsarten und der Chemie von Medikamenten zur Bekämpfung der HIV-Infektion. Sie hatte 22 Jahre am National Cancer Institute gearbeitet und wurde in ihren ersten Jahren in der Wissenschaft von Frank Ruscetti in dessen Labor in Fort Detrick, Maryland, betreut. Ruscetti war seinerseits ein Veteran in Robert Gallos heftig mit anderen Laboren konkurrierendem AIDS-Labor.
So war es vielleicht verständlich, dass die an CFS/ME Erkrankten den Eindruck hatten, mit dem Auftauchen von Mikovits und ihren Mitarbeitern – insbesondere Ruscetti, Mitentdecker des ersten humanen Retrovirus im Jahr 1980 – seien vernünftige Menschen angekommen. Gewiss gehörte Mikovits nicht zu den überlasteten ME-Klinikern und Forschern der vergangenen Jahrzehnte und würde auch in Zukunft nicht dazugehören. Sie waren eine tapfere, wenn auch winzige Bruderschaft mit einem ständigen Mangel an Forschungsgeldern. Sie waren untereinander und auch bei den Patienten gut bekannt. Seit den frühen 1980er-Jahren existierte diese Bruderschaft wie in einer Art dystopischem Paralleluniversum, im Besitz von Informationen, die ihre Mitglieder für dringlich hielten, an denen aber nur wenige außer ihnen selbst interessiert waren. Eine Konstante auf ihren wissenschaftlichen Konferenzen waren die bleichgesichtigen Patienten, meist Frauen, die wie ein Embryo gekrümmt auf den Teppichfluren vor den Konferenzsälen des Hotels lagen, unter Decken, die sie bis zum Hals hochgezogen hatten; irgendwie hatten sie den Weg dorthin geschafft, aber die Anstrengung kostete sie alles.
Gewiss gab es wenig Zweifel, dass Mikovits eine andere Art von Wissenschaftlerin war, eine, die nicht die Anerkennung der Führungskräfte an der Spitze der NIH suchte und die keine Angst davor hatte, Wissenschaftler der CDC zu kritisieren, ob per E-Mail oder persönlich. In der Tat war eine ihrer Qualitäten eine Leidenschaftlichkeit, die man in der Wissenschaft selten sieht. Sie bezeichnete XMRV als „… die größte Epidemie in der Geschichte der Vereinigten Staaten“, eine, die dazu bestimmt war, „die USA in das Gegenstück des HIV-geplagten Afrika südlich der Sahara zu verwandeln“, wenn sie unvermindert so weiterginge. Sie bezeichnete die Centers for Disease Control als „kriminell“, denn aus ihrer Sicht hatte die Behörde es versäumt, die Ausbreitung von XMRV einzudämmen. In ihrem Labor wurde das Akronym der Behörde in Atlanta mit „Can’t, Don’t Care“ übersetzt [Kann nichts, ist mir egal]. Sie und ihre Mitarbeiter verspotteten das Verfahren der Behörde, Patienten auszuwählen – durch zufällige Telefonumfragen –, und nannten die Kohorte der Regierung „Publisher’s Clearinghouse“-Patienten [Publisher’s Clearinghouse ist eine Firma für Direktvermarktung].
Judy Mikovits war unerschütterlich in ihren Überzeugungen und hart gegenüber ihren Kritikern, die sie für voreingenommen, gelegentlich unehrlich und oft schlecht informiert hielt. Sie war eine beeindruckende Fürsprecherin für die Patienten. Für eine Wissenschaftlerin war es erstaunlich, dass sie sich sogar mit ihnen zusammenschloss, sie aufsuchte und sich mit ihnen anfreundete. Einmal veröffentlichte sie sogar an prominenter Stelle in einem Internetblog ihre persönliche E-Mail-Adresse. Der Grund hierfür war nicht nur ihre Menschenfreundlichkeit, sondern absolut vernünftig: Ihr Verständnis von dieser Krankheit rührte von den Patienten und ihren Geschichten her. Sie formulierte Hypothesen für wissenschaftliche Experimente auf der Basis dessen, was sie hörte und beobachtete. Die alten Griechen hätten Mikovits für ihre Methoden gelobt, aber im 21. Jahrhundert war sie ein komischer Kauz.
Was andere Wissenschaftler betraf, war ihre vielleicht größte Sünde ihre öffentliche Vermutung darüber, was ihre Daten für andere ungeklärte Krankheiten implizieren könnten. Dazu gehörte insbesondere Autismus, eine Krankheit, die sich mit ME als biopolitischem Streitpunkt messen konnte. Sie hatte Familiencluster ermittelt, bei denen Eltern und andere nahe verwandte Erwachsene an ME und Kinder an Autismus litten, und fand Beweise für eine Gammaretrovirus-Infektion bei den Opfern beider Krankheiten. Es war eine Sache, wissenschaftliche Hypothesen über kontroverse Störungen mit Laborkollegen bei einem Drink in der Bar des Konferenzhotels aufzustellen, aber solche Hypothesen in Fernsehtalkshows im Einzelnen zu erklären oder sie Journalisten großer amerikanischer Zeitungen zu erläutern, so wie Mikovits das tat, das war eine andere Sache. Die Wissenschaftler der Regierung, die häufig ihren Auftrag, Forschung durchzuführen, mit einem Auftrag zur Verhinderung öffentlicher Panik verwechseln, waren besonders entnervt durch die Verwendung von Wörtern wie „Infektion“ und „Übertragung“ im selben Satz mit Wörtern wie „Autismus“ oder „Lymphom“ und sicherlich in Verbindung mit dem, was die CDC – anstelle von ME – „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ nennt.
Natürlich ist es ein seltenes und heikles Unterfangen in der Wissenschaft, die Speerspitze bei einer neuen Entdeckung zu sein, und nur wenige gehen ein solches Risiko ein. Mikovits’ wichtigster Co-Autor des Science-Artikels und unerschrockener Bewunderer, Frank Ruscetti, sagte über Mikovits: „Was ich ihr immer beizubringen versuchte, ist, die wissenschaftliche Methode zu erlernen und sie gut zu lernen, damit man etwas veröffentlichen kann, über das 99 Prozent der [wissenschaftlichen] Gemeinde sagen könnte: ‚Du liegst falsch’, aber von dem du weißt, dass es stimmt. Das ist der Mut eines wahren Wissenschaftlers, und Judy hat diesen Mut.“ Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass Mikovits in den nächsten drei Jahren ungebeugt im Zentrum eines heftigen wissenschaftlichen Sturms stand, der über mehrere Kontinente wütete. Wenn sie recht hatte und ein hochinfektiöses Retrovirus tatsächlich die Ursache des „Chronischen Erschöpfungssyndroms“ war und zehn Millionen Amerikaner bereits infiziert waren, – nun, dann änderte das nicht nur die Geometrie, sondern erschütterte auch die Glaubwürdigkeit des Bollwerks der Nation gegen Infektionskrankheiten, der CDC und ihrer renommierteren Schwesteragentur, der National Institutes of Health.
Drei Jahre nach ihrer Entdeckung dachte man angesichts des Platzes, den die 1,64 m große Mikovits im wissenschaftlichen Kosmos eingenommen hatte, an Abraham Lincolns angebliche Bemerkung gegenüber Harriet Beecher Stowe: „Du bist also die kleine Frau, die das Buch geschrieben hat, das diesen großen Krieg ausgelöst hat!“
* * *
Mikovits arbeitete so isoliert in der sogenannten HIV-AIDS-Forschungsblase, dass sie noch nie von ME gehört hatte, bis sie zur wissenschaftlichen Leiterin eines neuen Instituts der University of Nevada in Reno berufen wurde. Wie ist sie in ein solch abenteuerliches Schicksal hineingeraten? Ein Ansturm der Intuition, Fakten, die sich an weitere Fakten anfügten, ihr Wissen über die Immunologie bei AIDS, ein Eureka-Moment. „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, darüber nachzudenken. Ich wusste es einfach nicht“, sagte sie später.
2006 saß sie auf einer Konferenz in Barcelona im Publikum und hörte einem Veteranen der ME-Schlachten zu, einem Arzt, der Tausende von Patienten gesehen und die Krankheit unmittelbar zusammen mit ihnen kennengelernt hatte. Er sprach über eine Gruppe von 300 Patienten, die er jahrelang weiterverfolgt hatte. Dan Peterson aus Nevada, ein Spezialist für Innere Medizin mit einer langen Warteliste, beschrieb bei diesen Patienten etwas, das Mikovits als „opportunistische Infektionen“ bezeichnen würde: verschiedene Immundefekte, eine Art subakute Enzephalopathie, die den IQ senkte und selbst die Fähigkeit der hellsten Patienten zerstörte, klar zu denken, ergänzt durch abnorme Gehirnscans bei verschiedenen Verfahren. Der Arzt zeigte Daten, die auf Zytokin-„Stürme“ hinwiesen, einen Angriff von inflammatorischen Proteinen wie Interferon, die die Opfer schachmatt setzten und die als Reaktion auf Infektionen erzeugt werden. Er hob hervor, dass 5 Prozent der Patienten in dieser sorgfältig beobachteten Gruppe seltene, das Immunsystem betreffende Krebserkrankungen hatten, die in der allgemeinen Bevölkerung mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 0,02 Prozent auftreten. Insgesamt hatten 77 der 300 Patienten entweder Blutkrebs oder zelluläre Veränderungen, die Lymphomen vorausgingen.
Mikovits war bis ins Mark getroffen. „Es ist ein Retrovirus“, dachte sie und sagte das beinahe laut. HIV war eine von drei Retrovirus-Familien, von denen bekannt ist, dass sie Menschen infizieren; vielleicht waren es vier, fragte sich Mikovits. Retroviren, die seit Langem dafür bekannt sind, Haustiere wie Katzen und Rinder sowie Wildtiere zu infizieren, verursachten Krebs, Immunschwäche und schreckliche neurodegenerative Erkrankungen. Wenn die Krankheit, die Peterson beschrieb, nicht AIDS war, dann war sie aber zumindest ähnlich wie AIDS oder, wie Mikovits schließlich sagen würde, „das andere AIDS“ oder „non-HIV-AIDS“. Sie sprang ans Mikrofon, als Peterson seinen Vortrag beendet hatte. „Ich bin Krebsforscherin“, sagte sie. „Erstens, ich suche nach Viren bei Krebs, und zweitens, das riecht nach einem Virus.“ Drei Jahre später, nachdem sie Hunderte von Erkrankten auf beiden Seiten des Atlantiks getroffen hatte, sagte sie: „Es wundert mich, dass jeder diese Patienten betrachten und nicht sehen konnte, dass dies eine Infektionskrankheit ist, die das Leben der Betroffenen ruiniert.“
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Es gibt eine gewaltige Hintergrundgeschichte zu Mikovits’ aktueller Geschichte; eine herzzerreißende Geschichte von zerstörten wissenschaftlichen Karrieren und gebrochenen Menschen, die wichtig erscheinende Entdeckungen über ME gemacht haben und ausgeschaltet wurden. Sie konnten es nicht glauben, dass ihre Arbeit nicht bekannt gemacht und vor allem nicht finanziert wurde. Nicht selten waren diese Entdeckungen Beweise für eine retrovirale Infektion. Experten, die mit den klinischen Manifestationen der Krankheit vertraut sind, haben Retroviren als eine Klasse von Krankheitserregern erkannt, die genau die Symptome und Folgen verursachen können, die sie registrieren: Immunschwäche, neurodegenerative Erkrankungen und stark erhöhte Krebsraten. Man liest immer wieder, dass die Ursache der Krankheit „schwer fassbar“ und die Krankheit selbst „mysteriös“ ist. Die unausgesprochene Annahme hinter diesen Klischees ist, dass zwar planvolle gemeinsame Anstrengungen unternommen wurden, um das Geheimnis zu lösen, dies jedoch ohne Erfolg war. Entgegen der landläufigen Meinung wurde aber nur selten nach einem verursachenden Infektionserreger der Krankheit gesucht, und die entsprechende Forschung war begrenzt und zum größten Teil entweder unzureichend oder praktisch gar nicht finanziert.
Bereits in den frühen 1980er-Jahren begann Campbell Murdoch, ein ortsansässiger Arzt in Dunedin, Neuseeland, Patienten an den Mikrobiologen und Arzt Michael Holmes von der University of Otago zu verweisen, einen dunkelhaarigen, enthusiastischen und aufgeschlossenen jungen Wissenschaftler, dessen Aussehen und Temperament von seinen Kollegen mit Heinrich VIII. verglichen wurde. Interessanterweise war die Krankheit in Dunedin allgemein als „Poor Man’s AIDS“ („AIDS der armen Leute“) bekannt. Die Südinsel Neuseelands wurde von der Krankheit in den späten 1970er-Jahren heimgesucht. Den vielleicht bekanntesten Ausbruch gab es in der kleinen Stadt Tapanui, einem Dorf weniger als zwei Stunden landeinwärts von der Küste Dunedins entfernt. Die Einheimischen dort übernahmen den wohlklingenden Namen „Tapanui-Grippe“. Holmes, dessen Hauptinteresse die „klinische Immunvirologie“ war, verbrachte mehrere Jahre vor seiner Pensionierung im Jahr 2002 damit, das „AIDS der armen Leute“ auf Belege für Retroviren zu untersuchen.
1986 bekam Holmes von Patienten umgerechnet 690 US-Dollar für Testverfahren und untersuchte damit sechs Betroffene und sechs gesunde Kontrollen. Er entdeckte bei vier von sechs Patienten Reverse Transkriptase, ein Enzym, das Retroviren für ihren Vermehrungsprozess benötigen. Darüber hinaus fand er „… Zellen mit hirnähnlich verformten Zellkernen, vergleichbar mit denen, die beim ARC-Syndrom [AIDS-related complex] beschrieben werden. Diese waren bei den Kontrollpersonen nicht vorhanden.“
„Wir möchten eine Retrovirus-Ätiologie für CFS vorschlagen. Unsere These basiert nicht nur auf dieser Pilotstudie, sondern auch auf der deduktiven Beobachtung, die uns dazu veranlasst hat, sie überhaupt in Betracht zu ziehen“, schrieb Holmes. Ein Teil dieser deduktiven Beobachtung war das Zytokin „Interferon“, das man bei ME-Patienten in extrem hohen Konzentrationen festgestellt hat. „… Die stärksten Interferon-Induktoren sind Retroviren“, fügte Holmes hinzu.
Zwei Jahre später erhielt Holmes 7.000 Dollar von Patienten, um die Jagd fortzusetzen, diesmal mit zwanzig Patienten. Wieder sah er die „hirnähnlich verformten Zellkerne“, die auch bei HIV zu sehen waren. Vier Jahre später hatte er genug Geld beisammen, um weitere zwanzig Patienten zu untersuchen und kam zu ähnlichen Ergebnissen. Zu diesem Zeitpunkt, 1991, hatte die amerikanische Immunologin Elaine DeFreitas ihre eigene Entdeckung retroviraler Gensequenzen bei 80 Prozent der Erwachsenen und Kindern mit ME und in 4 Prozent der Kontrollen veröffentlicht. Bedauerlicherweise ist man, wie es Holmes in denkwürdigen Worten ausdrückte, „… über sie hergefallen und hat sie den Wölfen vorgeworfen“. Holmes’ Ansicht nach geriet seine interessante Forschung beim wissenschaftlichen Establishment in Neuseeland und auch im Rest der Welt in eine Sackgasse. Nachdem Holmes seine Ergebnisse 1994 auf einer ME-Konferenz in Fort Lauderdale, Florida, vorgestellt hatte – unter sechzig Präsentationen die einzige Studie über Kausalität –, sagte mir der CDC-Epidemiologe Keiji Fukuda ganz nüchtern: „Über Ätiologien zu sprechen, bedeutet, falsche Hoffnungen zu wecken … Es wird nicht so sein, dass Agens X die Krankheit Y verursacht.“ Keiji Fukuda ist heute stellvertretender Generaldirektor für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt bei der Weltgesundheitsorganisation.
Fukudas Kommentare waren repräsentativ für die Mentalität der Verleugnung, auf die die lebhafte, oft sarkastische DeFreitas bei den CDC traf. Diese wurde deutlich, als Wissenschaftler aus Atlanta auf sie zukamen, nachdem über ihre Entdeckung in Newsweek und mehreren großen Zeitungen berichtet worden war. DeFreitas, die ein schnell aufsteigender Stern am Wistar Institute in Philadelphia und von ihrem weltberühmten Direktor Hilary Koprowski betreut worden war, nötigte den männlichen Retrovirologen an den CDC ebenso viel Respekt ab wie den Patienten, deren Blut sie untersuchte. Unter Missachtung des Protokolls weigerten sie sich mit allen Mitteln, ihren Untersuchungsmethoden zu folgen. Sie ignorierten ihr Verbot, das Blut einzufrieren. Die Wissenschaftler froren die ME-Blutproben ein, um in Urlaub zu fahren. Sie setzten chemische Reagenzien ein, vor denen DeFreitas gewarnt hatte. Sie ließen Reagenzien weg, die sie empfohlen hatte. Sie betrachteten die Mischungsverhältnisse von bestimmten Nährstoffen, die DeFreitas zur Ernährung ihrer Zellkulturen (und des Virus) verwendete, als unwichtig. „Es ist immer genug Zeit, es falsch zu machen, aber nie genug Zeit, um es richtig zu machen“, bemerkte DeFreitas damals. Sie sagte auch vorausschauend: „Wenn dieses Land von einer Pest heimgesucht würde, wären die CDC die letzten, die es mitkriegen.“
Schließlich drängte DeFreitas die Behörde, eine Wissenschaftlerin in ihr Labor in Philadelphia zu schicken, um Seite an Seite mit ihr zu arbeiten. Sie würde die Pferde zu Wasser bringen und hoffen, dass sie trinken. Wistar-Direktor Koprowski bot den CDC-Wissenschaftlern das luxuriöse Besucherappartement des Instituts als Unterkunft an. Unter Berufung auf einen Mangel an Geld, den Hin- und Rückflug eines Wissenschaftlers aus Atlanta zu bezahlen, lehnten CDC-Verwaltungsbeamte beide Einladungen ab. Das zeigte, es war der US-Regierung entweder egal, was DeFreitas bei den Opfern dieser sich schnell ausbreitenden Krankheit gefunden hatte, oder sie wollte es nicht wissen.
„Es ist die Schuld der CDC“, sagte Mikovits während eines Gesprächs über DeFreitas’ Entdeckung. „Sie lassen es zu, dass sich eine ganze Generation ansteckt. Ich denke, sie wissen alle, dass es hier eine riesige Sammelklage geben wird.“
Als Beamte der CDC bekanntg aben, sie hätten DeFreitas’ Ergebnisse in keiner von vier Publikationen bestätigen können, und einen Brief an ihren Chef geschrieben hatten, in dem sie ihre Entlassung vorschlugen, verglichen Wissenschaftler DeFreitas mit Jeanne d’Arc. Sie hatte es gewagt, eine infektiöse Ätiologie für ME vorzuschlagen; sie hatte es gewagt, daraus eine „echte“ Krankheit zu machen. Ich dachte immer, ein Vergleich mit der mythologischen Cassandra sei viel passender.
DeFreitas’ damals 75-jähriger Chef Koprowski war ein polnischer Emigrant der 1930er-Jahre und wurde von vielen als persönlich verantwortlich für den europäischen „Brain Drain“ der 1950er-Jahre angesehen, in dem Wissenschaftler Europa in Scharen verließen und nach Amerika auswanderten; viele von ihnen fanden ein Zuhause im Wistar Institute. Koprowski, der sich sehr für ME interessierte und es als eine „infektiöse Erkrankung des Gehirns“ charakterisierte, sagte mir, er glaube, dass die NIH ein Institut in der Größe und mit dem Kompetenzbereich des National Cancer Institute benötige, um ME und andere aufkeimende Erkrankungen des zentralen Nervensystems zu bekämpfen. Koprowski glaubte, dass sich bei allen eine infektiöse Ursache herausstellen würde, ähnlich wie bei Polio und Tollwut.
Mit der Vernichtung von DeFreitas’ provozierenden Befunden durch die CDC rutschte die Forschung über die Ursache von ME schnell in ein wissenschaftliches Äquivalent der Mojave-Wüste. Dort lag die Krankheit zwanzig Jahre lang wie eine Leiche, um von einer sich anschleichenden psychiatrischen „Lobby“, wie Patienten die immer noch einflussreichen Psychiater nennen, aufgegriffen zu werden. Letztere haben ME in einen augenzwinkernden Euphemismus verwandelt, den sie „Bodily Distress Syndrome“ nennen, gekennzeichnet durch „medizinisch ungeklärte Symptome“, auch bekannt unter der Abkürzung „M.U.P.S.“ [Medically Unexplained Physical Symptoms]. Sie haben es geschafft, einen Großteil des medizinischen Establishments davon zu überzeugen, dass kognitive Verhaltenstherapie eine wirksame Behandlung sei. Sicherlich ist es kostengünstiger, eine Gesprächstherapie zu verordnen, als umfassende Forschungsanstrengungen zur Ursache zu finanzieren.
Es gab keine finanzielle Förderung durch die Bundesregierung der USA, um nach möglichen Pathogenen für die Ursache der Krankheit zu suchen. Der Nihilismus legte sich über die wenigen andersdenkenden klinischen Forscher und die noch selteneren Wissenschaftler, die die Krankheit weiterhin alarmierend fanden. Sie wandten sich wieder der Veröffentlichung von Artikeln über Symptome zu wie etwa der pompös betitelten „post-exertional malaise“ – dem unvermeidlichen Absturz, der bei Patienten auftritt, die sich angestrengt haben – oder Symptomen wie einer gestörten Durchblutung des Gehirns oder dem pathologisch niedrigen Blutdruck. Heute gibt es etwa 5.000 Artikel über Anomalien bei ME, die seit Beginn der 1980er-Jahre in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind. Aber die Beamten der Regierung sagen Reportern weiterhin: „Es gibt keine Biomarker.“ Mit verhängnisvoller Logik erzählen sich die gleichen Beamten untereinander, dass die Krankheit in unzählige „Untergruppen“ aufgeteilt werden müsse. Denn sie bestehen darauf, es sei einfach unvorstellbar, dass alle das Gleiche haben könnten – eine neue Art, es so auszudrücken, wie es der CDC-Epidemiologe Keiji Fukuda vor zwanzig Jahren schon sagte: „… Es wird nicht so sein, dass Agens X die Krankheit Y verursacht.“
Nachdem ich Judy Mikovits im Frühjahr 2009 in London kennengelernt hatte, fragte ich mich: War der Tag der Abrechnung gekommen? Würde Mikovits die Wissenschaftlerin sein, die diese Krankheit lösen würde, oder würde man sie zerstören? Ohne hintersinnig sein zu wollen, glaube ich, dass die Antwort in beiderlei Hinsicht ein bisschen „Ja“ lautet.
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„Wir haben diesen Artikel CDC-sicher gemacht“, versicherte mir Mikovits im September 2009, kurz bevor ihre Studie in Science veröffentlicht wurde. Sie war vielleicht noch nicht lange dabei, was die Erforschung der Krankheit betraf, aber sie war mit deren politischer Geschichte bestens vertraut. Im Juli zuvor hatte sich ihre Arbeit sehr gut behauptet, als zwei AIDS-Experten des National Cancer Institute ein geheimes Treffen von führenden Experten auf dem Gebiet der Gammaretroviren einberufen hatten, um über die Angelegenheit zu beraten. Die hauptsächlichen Sorgen der Regierung waren: Wie sollte man mit einer unberechenbaren Öffentlichkeit umgehen, wenn die Nachricht von XMRV und seinem möglichen Zusammenhang mit Krebs bekannt wurde, und was sollte man mit all den infizierten, asymptomatischen Menschen tun?
„Das ist der Teil der Daten, der alle erschreckt hat“, erinnerte sich Mikovits. „Das ‚Chronische Erschöpfungssyndrom’ interessierte sie nicht. Aber zehn Millionen Menschen infiziert mit einem Retrovirus von unbekanntem pathogenem Potenzial? Im Vergleich dazu sind in diesem Land achthunderttausend Menschen mit HIV infiziert.“
In dem dann folgenden Aufruhr verwandelte sich die Beunruhigung in Gespött, als mehrere Laboratorien die Arbeit nicht bestätigen konnten. Im Lauf der Zeit wurde von einem amerikanischen Wissenschaftler, der anfangs zunächst ein entschiedener Unterstützer von Mikovits war, ein überzeugendes Argument vorgebracht, nämlich dass XMRV ein vom Menschen hergestelltes Virus sei, eine „Verunreinigung“, die sich seit Mitte der 1990er-Jahre von Labor zu Labor verbreitet habe. Mikovits und ihre Mitarbeiter akzeptierten das Urteil über XMRV, aber Mikovits’ Stimme übertönte den daraus resultierenden Aufruhr und selbst den Spott. Sie bestand darauf, dass die Beweise für eine Gammaretrovirus-Infektion bei ME zwingend wären und eine weitere Erforschung verdienten. Wie bei HIV, argumentierte sie, gab es wahrscheinlich mehrere Stämme des Erregers, und sie hob hervor, dass ihre Forschung diese Hypothese unterstützte. Sie verwies auch auf einen anderen Wissenschaftler, einen zurückgezogenen Interferon-Experten namens Sydney Grossberg, der seit den frühen 1990er-Jahren an der University of Wisconsin in aller Stille seine eigene Entdeckung eines Retrovirus bei einem ME-Patienten verfolgte. Tatsächlich veröffentlichte Grossberg im Mai 2013, als die Kontroverse um XMRV zur Ruhe gekommen war, seine Beobachtung, dass der Erreger ein Mitglied der Gammaretrovirus-Familie sei. Es war nämlich ein Mäuseleukämievirus, was man von XMRV ebenfalls annahm. Es unterschied sich aber, so fuhr er fort, von XMRV. Grossberg schlug darüber hinaus vor, in zukünftigen Studien seine Techniken zu verwenden, um den Nachweis auf eine Untergruppe von Viren auszuweiten, „die mit [Mäuseleukämieviren] verwandt sind“.*
*Sidney E. Grossberg et al., „Partial Molecular Cloning of the JHK Retrovirus Using Gammaretrovirus Consensus PCR Primers“, Future Virology, Vol.
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Wäre Mikovits so hart behandelt worden, wenn sie ein Mann wäre? Schließlich waren es Männer, die XMRV entdeckt hatten, und keiner von ihnen wurde Opfer der bösartigen Berichterstattung, der Schikane im Internet oder der öffentlichen Prügel, die sie erleiden musste. Hätten die Journalisten Jon Cohen und Martin Enserink von Science mit Männern das Gleiche wie mit Mikovits gemacht, hinter der sie, wie im Sommer 2012, abwechselnd her waren? Hätten sie, wie sie es im September 2011 getan haben, ein achtseitiges Papier in Science veröffentlicht, das nichts weiter als ein klassischer Rufmord war? Enserink verfolgte Mikovits durch Brüssel und die Universitätsstadt Leuven, Belgien, während dort eine wissenschaftliche Konferenz stattfand, und Cohen folgte ihr später von Kalifornien nach Reno, offenbar hauptsächlich, um ein Polizeifoto von ihr zu ergattern, das dann auf Seite eins ihrer Geschichte erschien. Ich wurde Zeugin davon, wie Mikovits über Tage hinweg mit Eserink so lange sprach, bis sie heiser wurde, um ihm ihre wissenschaftlichen Methoden und Hypothesen zu erklären. Von dem, was sie ihm gesagt hatte, habe ich in dem anschließend erschienenen Artikel nicht ein Wort wiedergefunden.
Oder war es die Tatsache, dass das Establishment im Gesundheitswesen ME weitgehend als eine Krankheit von Frauen wahrnimmt? Was nicht nur zu Spott und Ablehnung gegenüber Patienten führt, sondern auch gegenüber Wissenschaftlern, die versuchen, die Entstehung ihrer Krankheit herauszufinden, vor allem, wenn sie außerdem noch Frauen sind? Erst im Dezember 2013 wurde ein frisch pensionierter NIH-Wissenschaftler bei einer medizinischen Konferenz in New York City von einer Patientin gefragt, was die NIH-Führung wirklich über diese Krankheit denke. Nach einer Pause, in der er seine Worte abzuwägen schien, antwortete der Wissenschaftler lächelnd: „Sie hassen euch.“ Kann die schwierige Geschichte einer Epidemie, die bislang schon zwei Generationen von Menschen heimgesucht hat, auf Frauenfeindlichkeit zurückgeführt werden, genauso wie die Verzögerung der Erforschung von AIDS in den frühen 1980er-Jahren auf Homophobie zurückgeführt wird?
Oder liegt die Erklärung in der Notwendigkeit, dass die CDC und die NIH ihr Gesicht retten und es vermeiden müssen einzugestehen, dass die vom Steuerzahler finanzierten Gesundheitsbehörden so gründlich und so lange versagt haben? Oder hat es mit der Vermeidung der Sammelklagen zu tun, die Mikovits vorhergesagt hatte? Wir sind als Gesellschaft nicht darauf vorbereitet, in Erwägung zu ziehen, dass diese Behörden, ob mangels Alternative oder absichtlich, ein Komplott schmieden, um die Bevölkerung unwissend zu halten über reale und gegenwärtige Bedrohungen unseres Lebens und des Lebens unserer Kinder. Die Geschichte dieser Krankheit jedoch und die oft verheerenden Erfahrungen von Wissenschaftlern, die versucht haben, den Fall zu lösen, zwingen jeden denkenden Menschen, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Was nicht zu bestreiten ist: Judy Mikovits hat eine überholte, über ein Vierteljahrhundert andauernde Debatte über die Legitimität von ME verwandelt in eine Diskussion über seine biologische Ursache, seine Übertragungswege und sinnvolle medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten. Sie öffnete die Büchse der Pandora wieder, die zugeschlagen wurde, als die CDC versuchten, Elaine DeFreitas zu begraben. Sie rückte die Krankheit für eine Weile in die Realität, was an sich schon eine bedeutsame Leistung ist, und richtete den Fokus der wissenschaftlichen Gemeinde weg von ihren Symptomen in Richtung ihrer Ursache. Sie brach den Bann der nihilistischen Verleugnung aller positiven Ansätze. Sie schlug zudem eine vernünftige Hypothese über ein mögliches infektiöses Agens vor, das die Autismus-Epidemie antreibt; in einer vernünftigen Welt würde ihre Hypothese offensiv verfolgt werden. Im breiteren Sinne brachte Mikovits einen einst ruhigen, ja geheimen Diskurs unter Molekular- und Evolutionsbiologen ans Tageslicht und in die breite Masse: Ist es möglich, dass ein Virus oder eine eng verwandte Familie von Viren die neurologischen Erkrankungen wie ME, Autismus, sogar vielleicht ALS und Parkinson verursachen könnte, und auch die Epidemien des Non-Hodgkin-Lymphoms und der Leukämie?
Man hofft für die Zukunft auf mehr Ehrlichkeit und einen neuen Geist der Aufgeschlossenheit von Regierungsbeamten. Wenn so viele krank sind und die Kosten für die Gesellschaft so hoch sind, sollte jede Entdeckung ohne Voreingenommenheit und mit großer Dringlichkeit untersucht und erforscht werden. Ehrliche Wissenschaftler müssen wissen, dass sie bei ihren Bemühungen, schwierige Probleme zu lösen, unterstützt werden, anstatt „auf dem Scheiterhaufen verbrannt“ zu werden. Man hofft auch auf die Rettung der Millionen von Menschen, die von ihren Regierungen zum Verschwinden gebracht wurden, weil sie eine Krankheit bekommen haben, die von diesen Regierungen nicht anerkannt werden kann. Und man hofft auch auf die Rettung derer, die in den kommenden Jahren krank werden, falls es eine Rückkehr zum Status quo gibt, den Judy Mikovits drei brillante Jahre lang unterbrochen hat.