Читать книгу Hölle auf zwei Rädern - Kerrie Droban - Страница 11

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Karl wohnte in einer von vier Dachgeschosswohnungen, die ein Teil eines von der Regierung unterstützten Wohnprojekts darstellten. Mum und er teilten sich den beengten Raum mit anderen Drogenfamilien, die wie Nomaden umherirrten: Chrissy und ihre Tochter, Marcy, Maria und ihre beiden Söhne. Es war hoffnungslos überfüllt. Jede Familie kam mit ihren wenigen Habseligkeiten – Möbeln mit zerkratzen Oberflächen, alten, zusammengeleimten Stühlen und Unmengen verdreckter Matratzen, die sie selbst nicht mehr wieder erkannten, vielleicht gestohlen hatten, aber auf jeden Fall behalten wollten. Marcy war nur ein wenig älter als ich, aber eine willige Teilnehmerin an sexuellen Experimenten. Darum fand ich es nicht so schlimm, dass ich mir den Platz mit all den unterschiedlichen Leuten teilen musste.

Jede Familie besaß Regale für Dosenfleisch und Kartoffeln, und alle teilten sich den Kühlschrank. Essensmarken stellten eine begehrte Währung dar und wurden auch tatsächlich für den Kauf von Essen genutzt und nicht in Drogen oder Alkohol investiert.

Ich schnitt Stücke von einem fluoreszierenden Käseblock, steckte sie in den Mund, wo sie auf meiner Zunge zu einer leckeren, dicken Paste zerronnen. Der Geschmack erinnerte mich an geordnete Verhältnisse, an Mum und Dad, die zusammen in unserem alten Haus in Upper Darby Nudeln kochten. Ihre Gesichter, die von Wasserschwaden verdeckt wurden und dabei Phantomen glichen, brachten das Wort Familie zurück in mein Gedächtnis. Die Routine wirkte damals wie eine große Erleichterung auf mich. Egal was es am Tag für Probleme gegeben hatte – zumindest aßen wir am Abend noch gemeinsam. Es war völlig egal, ob das Abendessen um vier Uhr morgens stattfand oder meine Mutter barfuß kochte und dabei übergroße Karohemden trug, als müsste sie damit einen noch größeren Schmerz und eine unendliche Traurigkeit überdecken. Ohne ein Opfer konnte das Schöne in der Welt der Biker nicht überleben. Schöne Dinge verwelkten, reduzierten sich auf simplen Besitz. Mum konnte ihrem Leben nur noch einen Sinn geben, indem sie es zerstörte.

Marcy stand im Türrahmen und sah mir beim Essen zu. Ihr Kleid war an den Rändern ausgefranst. Sie erinnerte mich an ein Skelett, das nur von Haut und Haaren zusammengehalten wird. Große und eingefallene Augen schienen mich zu durchdringen. Winzige Haarsträhnen kitzelten ihre Wangen. Ein Muskel über ihrem Kiefer zuckte, und das Rot des Lippenstifts ähnelte einem blutigen Rinnsal. In dem Raum gab es weder einen Fernseher noch Lampen oder ein Fenster. Die Dunkelheit hüllte uns ein. Verrauchte Luft zog durch die Löcher in der Wand – der Parfüm-ähnliche Duft von PCP. Meine Augen blitzten auf. Eine leere Dose SPAM rollte über den Flur und schlug gegen die Tür.

„Versuch bloß nicht mein Essen zu klauen“, giftete ich alarmbereit und setzte mich stocksteif hin. Mein Blick folgte den Fleischstückchen, die auf dem Boden wie Haufen von Scheiße verteilt lagen. Ich konnte Einsamkeit ertragen, einen Rausschmiss von der Schule, konnte es ertragen, wenn niemand mehr an mich dachte, und vielleicht sogar den Tod, aber der Hunger war so grausam, dass er mich in meinem tiefsten Inneren zerrüttete. Verzweiflung bedeutete Schwäche, und ich wollte nicht als schwacher Mensch sterben.

Ein animalisches Grunzen drang durch die Wand. Die Möbel im Wohnzimmer rutschten über den Boden. Ich hörte den nur allzu bekannten Klang einer Faust, die auf Knochen traf, und den Schrei einer Frau, das Aufeinanderklatschen von Körpern, das sich im wilden Rhythmus steigerte. Schwerfällig stand ich auf und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Marcy folgte mir leise. Sie war 20 Zentimeter größer als ich, aber der zerbrechliche Körper ließ sie jünger aussehen. Sie legte ihre klebrige Hand in meine, eine Hand fettig von SPAM. Vorsichtig schob ich die Tür einen Spalt weit auf und wünschte mir augenblicklich, dass sich mir bietende Bild auszulöschen. Marcy atmete schneller. Ihre Mutter hockte nackt auf den Küchenfliesen, den Kopf mit dem blonden Haar eingekeilt zwischen den Beinen eines fremden Mannes. Er kicherte, nahm einen langen Schluck aus der Bierdose und riss Chrissy an den Haaren hoch. Der Typ rotzte ihr die warme Brühe in das blutige Gesicht und schleuderte sie hintenüber auf den Boden. Dann träufelte er das Bier zwischen ihre Schenkel und leckte es ab.

„Will noch einer ’ne Runde?“

Das kalte Licht einer Neonröhre brach sich an der Decke. Ein Mann, der am Ofen stand und den großen Topf mit einem hölzernen Löffel umrührte, schüttelte nur ungläubig den Kopf. Der lange Pferdeschwanz baumelte wie eine tote Schlange an seinem Rücken. Er trug Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine Kutte. Seine Schuhe standen in einer Ecke, direkt neben dem überquellenden Mülleimer. Ich blickte zu Mum, die zusammengesunken in einem Stuhl im Wohnzimmer saß. Ihr Kiefer hing runter, und die Augen bedeckte ein Schleier, als wäre sie in tiefer Trance. Ihr war es wohl egal, ob die Welt unterging oder nicht. Karl saß neben ihr, gleichermaßen regungslos. Eine Rauchkuppel schwebte über den beiden. Die Minuten zogen dahin, und ich stand wie gelähmt da, während sich meine Eingeweide scheinbar auflösten. Ich fühlte Marcys zitternde Hand. Sie flüsterte mir etwas ins Ohr. Ihr Atem roch nach SPAM. Chrissy versuchte auf die Beine zu kommen, balancierte ungelenk und stützte sich an der Arbeitsplatte ab. Der Mann am Herd verpasste ihr einen harten Schlag auf den Hintern, hielt ihr den Löffel unter die Nase und meinte mit einem breiten Grinsen: „Nun hast du dir einen Happen verdient.“

Schon damals spürte ich das Dunkle und Verrottete in einem Menschen. Es fühlte sich wie ein Kribbeln in der Nackengegend an. Mein Brustkorb zog sich zusammen. Pfeifen, Rauch, Kotze, Blut. Ich war da viel zu nah dran – die verschleierten Augen der Süchtigen konnten mich durchschauen. Instinktiv wollte ich flüchten, aber der Regen und die unbarmherzige Kälte sperrten mich ein. Ich tat das Einzige, was ich als Achtjähriger verstehen konnte.

Ich lockte Marcy auf die Matratze. Sie stolperte über eine Bierdose, deren Öffnung von einem Schwarm Fliegen belagert wurde. Der Regen tropfte durch ein Loch im Dach und verursachte ein pochendes Geräusch auf meinem Kopf. Ohne ein Wort zog Marcy ihr Shirt über den Kopf. Die Locken fielen auf ihren schmächtigen Brustkorb. Ich zog die Hose aus, langte nach einer Sandwichplastiktüte und befestigte sie mit einem Gummi am Schwanz. Marcy krabbelte auf mich und sah aus wie die kindliche Version ihrer Mutter. Ich erkannte ihre Zukunft hinter den leuchtenden Augen. Ungeschickt bewegte ich mich unter ihr. Sie legte den Kopf zur Seite, wobei sich ein Grinsen auf dem Gesicht breit machte. Sie hatte das also schon gemacht!

„Hast du was gespürt?“, fragte ich nach einer Minute.

Marcy schüttelte nur den Kopf.

„Vielleicht habe ich dann alles richtig gemacht?“

Ich hatte bereits gelernt, dass Sex ein durch und durch selbstsüchtiger Akt sein musste, denn Emotionen waren mit Narben verknüpft. Ich wollte nicht, dass Marcy Narben bekam.

Hölle auf zwei Rädern

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