Читать книгу Hölle auf zwei Rädern - Kerrie Droban - Страница 16

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Es war schon spät am Abend, als ich mich schließlich auf den Weg zu Karls Apartment machte. Ich hatte zwei Tage im Clubhaus verbracht, ohne dass es meine Mutter bemerkt hätte. Kinder der Pagans wurden nicht vermisst wie bei normalen Familien, sie hielten sich einfach woanders auf, würden irgendwann wieder auftauchen, oder sich weiter herumtreiben.

Lange Schatten zeichneten sich an den Wänden der Wohnung ab. Kerzen flackerten im Flur. Die Stromrechnung war also noch immer nicht bezahlt worden. Gedämpftes Lachen drang zu mir herunter. Es klang unwirklich. Ich hörte das Geräusch laufenden Wassers. Müde und mit einer schlimmen Vorahnung latschte ich hoch, hielt mich dabei unsicher am splittrigen Geländer fest. Ich war jetzt überhaupt nicht in der Stimmung, mich wie ein Erwachsener zu verhalten. Ich ging zum Badezimmer, und blieb im Türrahmen stehen. Die Dusche lief. Heißer Dampf schlug mir entgegen. Langsam erkannte ich Mum und Karl durch den Nebel, vorn übergebeugt, wie sie die Reptilien wuschen, die ich als Haustiere hielt. Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich. Die Tiere gehörten mir. Ich hatte mich um sie gekümmert, sie aus dem Abwasserkanal befreit und aus verschmutzten Flüssen in der Nachbarschaft.

Mum planschte wie ein Kind im Wasser. Das feuchte Haar hing strähnig in ihrem Gesicht. Das hysterische Gelächter brannte sich in meine Ohren ein, und ich konnte ihre Fahne riechen. Karl rutschte in der Dusche aus. Meine zitternden Hände schossen in das brühende Wasser, um den Goldfisch zu retten, der gefährlich nahe am Abfluss schwamm, doch der Fisch glitt mir durch die Finger. Karls klobige Schuhe zerquetschten einen anderen. Mir blieb die Luft weg. Bewegungslos verharrte ich in dem Nebel. Das Wasser der Dusche prasselte auf meinen Kopf. Ich empfand die Schmerzen, die das kochende Wasser verursachte, als Erleichterung und stand nur wenige Zentimeter von Karl entfernt, dessen Glasauge einem Reptil ähnelte. Mum hielt eine Scherbe des zerborstenen Terrariums vor das Gesicht und blinzelte.

Meine Gartenschlangen glitten über die Fliesen. Eine fiel ins Klo. Die Schildkröte, die Mum in der Hand hielt, ruderte hilflos mit den Füßchen und schnappte mit dem Maul. Karl ging in die Hocke und verbrühte meine Einsiedlerkrebse. Das Chamäleon versteckte sich panisch unter einem Haufen Handtücher. Die Farbe des Schwanzes und des Körpers verwandelten sich schnell in einen ungesunden Braunton. Kaltblüter reagieren schnell in artfremden Umgebungen.

Ich fühlte nackte Wut, konnte Karl nicht mehr sehen, sondern nur noch eine rote Farbe, die mein Gesichtsfeld verengte. Ein scharfer Schmerz schoss mir in den Kopf, als hätte mir eine Axt den Schädel gespalten. Dieses widerliche Arschloch Karl wusch meine Tiere, Wesen, die ich liebte. Ich hatte schon früh gelernt, mich nie zu fest an etwas zu binden, das ich liebte, und hatte gelernt, dass der Tod wie ein Blitz schnell und plötzlich in das Leben einschlagen konnte.

Mum stand unter dem Duschstrahl und sagte ganz leise: „Terrible ist tot.“

Zuerst konnte ich das nicht glauben. Terrible Tony hatte sich schon an das Sterben gewöhnt. Er war mehr als der engste Freund meiner Mutter, fast schon ein Teil der Einrichtung, ein dunkler Punkt in unserem Leben. Einst ein Pagan mit Leib und Seele, war Tony über die Jahre zu einem Schatten seiner Selbst degeneriert. Mit zehn Jahren wurde ich Zeuge seines ersten Todes. Er lag auf Grund eines Herzversagens regungslos in sich zusammen gesunken in unserem Wohnzimmer. Ich öffnete seine Brieftasche. Für 200 Dollar konnte man eine Menge Lebensmittel kaufen. Und es war nicht so, als würde er die Kohle vermissen! Wer konnte schon ahnen, dass er sich wieder erholen würde? Dem Tod knapp entronnen, nahm er sich vor, künftig besser vorbereitet zu sein. Er packte sich einen Seesack voller Gegenstände für sein Begräbnis – seine Clubabzeichen, zusammengerollt und mit Gummibändchen verpackt, seine Clubringe, den Totenkopfstock und – besonders wichtig – die Geldbörse, in der ein Zettel mit allen Telefonnummern der Pagans steckte. Nur für den Fall. Terrible überreichte den Sack meiner Muter mit der nachdrücklichen Anweisung, ihn an einem sicheren Ort aufzubewahren. Er wünschte sich eine Feuerbestattung und wollte dabei ein T-Shirt mit dem Abzeichen der Pagans tragen.

„Crackers fand ihn. Sie wollte ihn besuchen, um einfach mal nach ihm zu sehen. Er hatte einen Schlaganfall, fiel auf den Glastisch und verblutete“, erzählte Mum mit emotionsloser Stimme, als würde sie von einem Partybesuch berichten. Terrible wurde nur 41 Jahre alt. Die Pagans traf die Nachricht seines Todes wie eine gigantische Welle des Entsetzens.

Vor der Bestattung besuchte ich das Grab meines Onkels Russell. Bei den Bikern lautete sein Spitzname Dead, was aus der Retrospektive passend erschien. Kopflose Azaleen lagen verstreut auf seiner letzten Ruhestätte. Ich schmiss einige Zehn-Cent-Stücke auf den Grabstein, eine Erinnerung an die Zeit, in der er an Mautstellen um Geld bettelte. Die Gedanken an Dead weckten Erinnerungen an meinen Vater, der in seinem Leben ganze drei Stunden mit mir verbracht hatte und das auch nur, weil er etwas wollte. Wir führten keine Beziehung, es fand lediglich ein Austausch statt, ein Augenblick, der Mangy nutzte, nicht uns. Wenn ich an ihn denke, fallen mir seine Besitztümer ein: Pelze, teure schwarze Schuhe, glänzende Ledergarnituren, und mit Öl verschmierte Kristallschalen voller PCP. Sein Schlafzimmer glich einem Waffenarsenal voller modifizierter Knarren mit gefälschten Seriennummern.

Mangy verschob wöchentlich ein Pfund Methamphetamin und kontrollierte eins der größten Drogenkartelle an der Ostküste, doch für mich war er nicht mehr als ein mieser, hinterhältiger Dealer, dessen Familie in die Ecke gedrückt wurde und einer dahin gekritzelten Randnotiz glich. Sein Netzwerk zog sich durch Pennsylvania, New York, New Jersey, Delaware, Maryland, Virginia, West Virginia und North Carolina. In Bezug auf die Größe kamen die Pagans gleich hinter den Outlaws, den Hells Angels und den Bandidos. Doch das beeindruckte mich nicht.

„Er war ein Blender“, erklärte mir Saint, während Mangy das RICO-Verfahren über sich ergehen lassen musste. „Das Arschloch sagte aus, dass er sich seine Mitgliedschaft im Mutter-Club mit 10.000 Dollar erkauft hatte. Und dann kaufte er sich aus dem Gefängnis frei.“

Dieser Wichser saß nur zwölf Jahre ab. Er hätte eigentlich eine lebenslange Haftstrafe bekommen müssen. Aber es war nicht die Länge der Zeit, die Mangy im Knast verbrachte, es war seine Grundeinstellung, die mich ankotzte. Mit dem Charme eines Soziopathen hätte Mangy genauso gut Möbel statt Drogen verkaufen können. Ich stellte mir das Arschloch in Knastprogrammen vor, wie er seine Bildung verbesserte, Kurse in Psychologie, Soziologie und Kriminologie belegte, nur damit er die notwendigen Worthülsen drauf hatte, um die leichtgläubigen psychologischen Betreuer von seiner „Rehabilitation“, seiner „Wiedergeburt“ zu überzeugen. Dass er eine zweite Chance verdiente und so weiter. An seinen Händen klebte nie Blut, er arbeitete nie für den Club, zumindest nicht mit dem gleichen Einsatz wie Saint, Terrible oder ein anderer Mentor von mir. Mangy mochte das Rechtssystem austricksen, aber für mich blieb er immer schuldig, schuldig, schuldig. Nutze deine Zeit oder die Zeit benutzt dich! Niemals erschienen mir die Worte von Saint wahrer zu sein.

„Es gibt Gangster und es gibt Sonntagsgangster“, erklärte mir Saint eines Abends beim Essen im Melrose Diner. „Mangy war ein beschissener Sonntagsgangster, ein Möchtegern-Gangster, der mit der Mafia abhing, aber nie dazu gehörte. Er verstand die Kriminellen nicht, wusste nichts von den wahren Ganoven, die noch bei ihren Müttern leben mussten, weil sie sich die Miete nicht leisten konnten, oder Motorradteile klauten, weil sie Drogen brauchten oder Miezen auf den Strich schicken, um andere abzuzocken. Mangy traf niemals einen der wichtigen Bosse. Die machen nämlich das große Geld. Das waren die ausgebufften Typen. Sie mieteten sich die Ganoven, damit die die Drecksarbeit für sie erledigen.“

Terrible war kein Sonntagsgangster. Er hatte sich seinen Spitznamen redlich verdient. In seiner „Blütezeit“ erschoss er Leute oder schlitzte sie auf, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen. Als er nicht mehr gehen oder Bike fahren konnte, bastelte er sich einen Totenkopfstock aus einem Eispickel.

„Man merkte nie, wenn er sich von hinten anschlich“, bemerkte Saint.

Das stimmte. Einmal wurde der Tattoo-Shop von Saint das zufällige Ziel einer Ballerei. Terrible saß im Stuhl, die Hände auf seinen Stock gestützt, während die Kugeln um ihn herum flogen. Einige davon schlugen in die Wand knapp über seinem Kopf ein. Saint spachtelte die Löcher nie zu. Sie stellten eine Art Tribut an Terribles verrückten Mut dar.

Abgesehen von Onkel Russell war es das erste Mal, dass ich wirklich jemanden vermisste – und ich vermisste Terrible, weil er etwas präsentierte: Weihnachten. Geschenke spielten an diesen Festtagen keine Rolle, denn niemand schenkte mir was. Allerdings stand ich einen herrlich langen Tag im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wir telefonierten ein oder zwei Minuten mit Leuten, einfach nur um ihnen zu zeigen, dass es andere Menschen in dieser Welt gab, denen sie etwas bedeuteten. Vor meinem geistigen Auge kann ich immer noch Terrible sehen, sein Gesicht vom goldenen Schein einer Kerze erleuchtet und die zerknitterten 20 Dollar Telefongeld in der Hand. Er hielt den Hörer dicht an das Ohr gepresst. Mit unsicheren Fingern wählte er die Nummern der Clubmitglieder.

„Hey Alter, wünsch dir frohe Weihnachten.“ Klick.

Die Stunden zogen nur so vorüber. Wenn Terrible seine Anrufe machte und sich dabei versicherte, dass die Kumpels ein weiteres Jahr überlebt hatten, strahlte das eine andächtige Atmosphäre aus. Keiner war erstochen oder erschossen worden oder im Gefängnis gelandet, hatte sich eine Überdosis gesetzt oder wurde von der Diabetes unter die Erde gebracht. Das war wirklich ein Grund zum Feiern! Während Terrible sein Ritual zelebrierte, spielte ich mit Mum ein Kartenspiel – War. Wir saßen auf einem Haufen Kissen, draußen schneite es, und ich schmiedete Pläne, wie ich das Spielzeug der Nachbarskinder stehlen könnte. Ich müsste es vor Mum verstecken, würde es freudig betrachten und mir einreden, dass ich genau so gut bin wie alle anderen Kids.

„Hey Alter, das tut mir leid. Muss ’n schwerer Verlust sein“, tönte Terribles dröhnende Stimme aus dem Hintergrund, was sich wie ein schlecht eingestellter Rundfunksender anhörte.

Nach Terribles Einäscherung erwiesen die Pagans ihm die letzte Ehre, indem sie im Clubhaus in der Stadt, vor dem sie auf einer Koppel Hühner und einen Ziegenbock hielten, Bier tranken und Angel Dust rauchten. Abgemagerte Hunde streunten über das Gelände. Ich schlich mich nach draußen, um frei atmen zu können, und hoffte, dass mich niemand bemerkt.

Ohne ersichtlichen Grund waren um mich herum Schlägereien entbrannt. Der Anlass dafür lag bei den von Drogen induzierten Halluzinationen, durch die die Leute Dinge sahen, die gar nicht da waren – Schattenmenschen, Geister und sogar Terrible, der mit halb weggeblasenem Kopf auf dem Schaukelstuhl sitzt. Keiner sprach über ihn. Das aufrichtige Mitleid drückte sich in Gewaltschüben aus. Evil Ed saß im Schneidersitz auf einem Heuballen mitten in dem Gehege. Er heulte den Mond an: „Terrible!!!“ Er fand keine anderen Worte. Stattdessen schüttelte er die Bierdose und goss sich alles über den Kopf.

„Teeeerrrible!!!“

„Halt dein verdammtes Maul.“

Evild Ed blickte erschrocken zu Bull, einem Dachdecker und ehemaligen Pagan, mit einem Gesicht wie rohes Fleisch. Bull, der eine Zeit lang mit Maria verheiratet gewesen war, verprügelte mich regelmäßig als Kind, jagte mich mit einer Kette und einem Baseballschläger durch den eisigen Keller, bis ich eines Morgens vor ihm stand – mit einem abgesägten Schrotgewehr.

„Du hättest ihn wegblasen sollen“, meinte ein Freund viele Jahre später.

„Vielleicht.“ Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern, obwohl ich mir damals überhaupt nicht vorstellen konnte, einen Menschen zu töten.

„Was hätten sie denn gegen dich unternehmen können?“ Er runzelte die Stirn.

„Stimmt. Ich steckte ja schon in einer Art Knast.“

„Für dich hätte ich den Typen um die Ecke gebracht“, dröhnte Terribles Stimme wie ein Dämon in meinen Gedanken.

„Das hier mache ich für dich, Kid.“ Mühselig kam Evil Ed auf die Beine, zerschlug seine Bierpulle an einem Stein und begutachtete sein Werk – eine scharfe Klinge aus Glas! Die Szene erinnerte mich an einen Western, in dem zwei alte Cowboys sich schließlich auf einer staubigen Straße mitten im Nirgendwo gegenüber stehen. Bulls schmierige Haare hingen in seinem Gesicht wie eine zerfetzte Kopfbedeckung. Seine tätowierten Arme baumelten herunter. Er schrie. Die Venen zeichneten sich an seinem Hals ab. Bull wirkte wie ein sich zusammen brauender Wüstensturm, und ich musste an meine Kindheit denken. Kein Wort, nur unheilvolle Geräusche. Wie damals schaltete ich ab, wurde zu einem unbeteiligten Beobachter. Evil Ed ging zum Angriff über und fuhr Bull mit einem Hieb durchs Gesicht. Er wollte ihn nicht töten, ihm nur eine Narbe verpassen, so wie Bull auch mir Narben verpasst hatte. Jedes Mal, wenn Bull in den Spiegel gaffte, sollte er daran denken. Für dich hätte ich den Typen um die Ecke gebracht! Wieder hallten Terribles Worte in meinem Kopf.

Eine tiefe Schnittwunde zog sich durch die Haut unterhalb von Bulls Auge. Das Blut lief tränengleich sein Gesicht runter. Wie gelähmt stand ich da. Andere Biker kamen, hämmerten mit dem Griff ihrer Pistolen auf seinen Schädel, bis er zu Boden ging, traten ihm den Kiefer ein und pressten seinen Kopf in den Dreck, bis er um Luft rang. Evil Ed riss Bull an den Haaren hoch und drehte ihn zu meiner Seite. „Das hier ist für dich, Kid“, wiederholte Evil Ed. Bull, über und über mit Dreck verschmiert, japste nach Luft. „Kill ihn, kill ihn, kill ihn“, ertönten die Worte in einem Rhythmus, der dem Gesang eines Indianerstamms ähnelte. Nach Sekunden hatten sie eine fieberhafte Intensität erreicht. Evil Ed grinste zu mir herüber und schnitt Bull in einem dramatischen Finale das Ohr ab.

Mit einem unwirklichen Heulen schnellten Bulls Hände an den Kopf. Blut sickerte zwischen seinen Fingern durch. Die anderen Biker wandten sich von Evil Ed ab und lösten sich in Angel-Dust-Wolken auf. Ed mühte sich auf die Beine, schlug sich den Staub von der Hose und warf den Flaschenrest auf einen Müllhaufen. In aller Seelenruhe hob er das blutige und mit Dreck beschmierte Ohr auf, kniete sich vor Bull, schaute ihm erbarmungslos in die Augen und sagte: „Vielleicht wird dich mein Geschrei jetzt nicht mehr so stören.“

Mir war zum Kotzen zumute und ich stand wie angewurzelt vor der Wand. Ich konnte das Bild nicht aus meinem Gedächtnis löschen – Bull, zusammengekauert auf dem Boden, gefangen in einem nicht enden wollenden Schmerzensschrei.

Es war spät, schon nach Mitternacht, und höchste Zeit abzuhauen. Karl und Mum torkelten zum Wagen, bis zum Anschlag voll mit Angel Dust.

„Lass mich fahren.“ Ich schnappte mir die Schlüssel aus Karls Händen. Nur wegen ihm wollte ich nicht in einem Crash sterben – einen Scheiß würde ich!

„Los, in den Wagen.“ Karl versetzte mir einen Schubs.

„Gib mir die verfluchten Schlüssel.“ Ich bedrängte ihn und versuchte sie Karl abzunehmen.

„Du bist erst 13. Wir fahren doch nur nach Hause.“ Mutter glotzte mich mit blutunterlaufenen Augen an.

Ich zögerte und wog meine Chancen ab – ich konnte zu Fuß gehen, bei der Beerdigung bleiben oder mit einem anderen fahren, der genauso breit war. Ich rutschte auf den Rücksitz. Durch die Fahrt auf der holperigen und kurvigen Straße rebellierte mein Magen. Der Roosevelt Boulevard war ein vierspuriger Highway. Weiße Nebelscheinwerfer durchschnitten die Nacht. Rücklichter tanzten über die Straße wie rote Schlangen. Autos wichen panisch aus, während wir im Zickzackkurs über den Asphalt bretterten. Bei der Vorstellung, Karls Kopf auf das Lenkrad zu donnern, beschleunigte sich mein Puls. Unterdrückte Wut staunte sich immer mehr auf. Mum hatte ihr Gesicht stark geschminkt, doch die brüchigen Lippen waren von verkrustetem Blut überzogen. Sie biss sich oft auf die Lippen. Der am Armaturenbrett aufgehängte Eispickel glitzerte mich verheißungsvoll an, und ich konnte mir nur zu gut vorstellen, ihn in Karls Wirbelsäule zu rammen, ihn nach oben zu reißen und dann wie einen ausgenommenen Fisch liegen zu lassen.

Der überwältigende Drang zu töten schoss durch meine Nervenbahnen wie durch einen Stromkreis. Plötzlich holte ich aus und packte mit den Händen den Kopf des Mannes – Hände, die schon mit 13 wussten, wie man ein Opfer würgt, wie man ein Messer ins Fleisch rammt, bis das Blut spritzt. Ich prügelte auf Karls Glasauge ein, wieder und wieder, bis meine Knöchel aufplatzten. Der Wagen ruckte und schlitterte über den Highway, während Karl in völliger Verwirrung gleichzeitig das Gaspedal durchdrückte und auf die Bremse stieg. Durch eine Fehlzündung knallten Rauch und Abgase aus dem Auspuff. Ich wurde nach vorne geschleudert, über den Fahrersitz und direkt aufs Lenkrad. In der Dunkelheit stieß Mum einen gedämpften Schrei aus.

Ich wollte Karl töten, die schiere Power der Kontrolle spüren, einen anderen Menschen verletzen, so wie auch ich verletzt worden war. Mord stellte einen perfekten Tribut an Terrible dar, der Karl eiskalt exekutiert hätte. Ich griff nach dem Pickel. Mir wäre die Möglichkeit einer Niederlage nie in den Sinn gekommen. Ich könnte Karls Ohren abschneiden und ihn in einer Welt der Stille zurücklassen. Der Eispickel rutschte vom Armaturenbrett, und das Auto raste quer über die verschiedenen Spuren. Reifen quietschten. Hupen plärrten.

Karls Glasauge löste sich aus der Augenhöhle und schimmerte weiß.

„Du wirst ihn noch umbringen“, heulte Mum. Sie kniete auf dem Boden und suchte das Auge, das Karl jede Nacht herausnahm, reinigte, in ein Papiertuch wickelte und in eine Seifenschale legte.

Karl blinzelte mich an, rotzte mir voll ins Gesicht und wartete auf den nächsten Angriff. Wenn ich ihn jetzt frei lasse, mein Knie von seiner Brust nehmen würde, dann wäre ich so gut wie tot. Karl würde mich auf die Straße schmeißen und grinsen, wenn mein Kopf wie eine überreife Frucht aufplatzte.

„Du machst alles nur noch schlimmer für mich.“ Schon wieder Mum. Irgendwie gelang es ihr mit einem Fuß die Bremse zu erreichen. Der Wagen ruckelte und schoss nur knapp an einem Pickup auf der anderen Spur vorbei.

Brech ihm den Hals. Ich hörte Terribles Stimme in meinem Kopf, als wäre er hier, als sähe er, was vor sich ging. Ich glaubte nie an Engel. Ich habe Terrible nie als einen engen Freund angesehen, doch in dieser Nacht überkam mich etwas Mächtiges, fast schon Übernatürliches, und es verlieh mir unendliche Kraft.

„Worauf starrst du?“ Karls Blick war so aggressiv, dass er mir wie ein Schlag ins Gesicht vorkam. Er bremste mich kurz, doch dann erinnerte ich mich an die Nacht, als er einfach so da saß, auf einem Fleischbällchen kaute, schluckte und jeder Silbe seines Satzes Nachdruck verlieh, indem er Mums Schädel im Rhythmus der Sprache auf den Tisch aufschlug – und das ohne Vorwarnung. Meine Mutter hielt beide Hände auf die Nase gepresst. Blut rann ihr durch die Finger. Zitternd stand sie auf, torkelte zum Spülbecken, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und schnappte sich wortlos einen Stapel schmutzigen Geschirrs. Sie drehte sich um und schleuderte die Teller einen nach dem anderen in Karls Richtung – wie Frisbee-Scheiben. Sie schossen an meinem Kopf vorbei, zerbrachen auf dem Tisch, berührten Karls Schulter und zerbarsten vor seinen Füßen. Splitter hingen in seinem Pferdeschwanz und lagen in meinen Nudeln, und schon bald sah die Küche wie eine weiße Wüste aus.

„Raus mit dir.“ Ich trat die Fahrertür mit dem Fuß auf. Der scharfe Wind biss mir ins Gesicht. Vor uns tauchten gefährlich nah rote Rückleuchten auf. Autos mussten riskante Fahrmanöver machen, um an uns vorbei zu kommen. In der Entfernung hörte ich eine Sirene. Ich drückte Karl immer noch mit der Faust in den Sitz und gab Mum einen Tritt, dass sie endlich die Karre verlässt. Mit einem Hechtsprung landete ich auf der Straße. Ein scharfer Schmerz durchzog meinen Brustkorb. Der Asphalt riss mir die Haut auf. Karl schlängelte sich über den Highway, knallte in andere Autos und machte mitten auf der Straße eine Vollbremsung.

Ich schnappte mir Mum am Ellbogen und stolperte mit ihr über die vier Spuren. Hupen schrillten in unseren Ohren. Karl hatte die Karre gewendet und fuhr auf uns zu. Mum versuchte in den zugemüllten Straßengraben zu flüchten. Um uns herum quietschten Reifen. Der stechende Geruch verbrannten Gummis zog mir in die Nase. Karl kam immer näher. Ich hörte das hochtourige Dröhnen des Motors. Jetzt! Ich griff Mum und riss sie zu einem Vorsprung, bei dem eine kleine Betonmauer aus der Böschung ragte.

„Er wird uns umbringen“, schrie sie. Sie zitterte am ganzen Leib. Karl knallte auf die Barriere. Kleine Gesteinssplitter lösten sich und ich konnte die Wucht des Aufpralls am ganzen Körper spüren. Er hatte den Kühler seines Wagens geschrottet. Heißer Dampf stieg um uns herum zum Himmel auf. Auch die Windschutzscheibe war geborsten. Töte mich. Trau dich doch, du Motherfucker. Ich wollte, dass er es tut. Ich wollte, dass er den Rest seines Lebens im Gefängnis hockt. Ich wollte, dass er aufhört, uns weh zu tun.

Karl grinste schmierig, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit durchdrehenden Rädern weg.

„Du bist es nicht wert“, hallte sein Schrei in die Nacht. Langsam wurden die Rücklichter von der Dunkelheit verschluckt.

Hölle auf zwei Rädern

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