Читать книгу Ein krimineller Adventskalender : (K)eine schöne Bescherung - Kerstin Peschel - Страница 10
4. Dezember: Der geheimnisvolle Neffe
Оглавлениеvon Rainer Keip
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1
Maria Weinreich kehrte von ihrer Joggingrunde durch den Lintorfer Wald zurück und die Luft, die sie aus ihren Lungen pumpte, bildete kleine Atemwölkchen vor ihrem Gesicht. Zufrieden stellte sie fest, dass sie konditionell kaum etwas von ihrer früheren Form eingebüßt hatte, obwohl sie vor ein paar Monaten ihren fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
Auf dem kleinen Waldparkplatz, der sich unmittelbar an das Waldgelände anschloss, hielt sie einen Moment inne, blickte zu der großen Villa, deren Umrisse sie in der Ferne erkennen konnte und in der sie ein paar Jahre ihres Lebens verbracht hatte, bevor sie mit ihrem Mann Richard in ihr neues Zuhause an die Cote d Azur umgezogen war und jetzt ein ruhiges und unaufgeregtes Leben führte.
Das war nicht immer der Fall gewesen, im Gegenteil.
Maria hatte ihr ganzes Leben lang ein Doppeleben geführt, was ihre Beziehung zu Dorota, ihrer Tochter, und ihrer Enkelin Laura arg belastete, zu denen sie allerdings in den letzten Jahren eine innige Verbindung aufgebaut und denen sie, was ihr persönliches Seelenheil betraf, viel zu verdanken hatte.
Maria Weinreich war eine Topagentin des früheren polnischen Geheimdienstes, des FSB, gewesen und ihr Leben war alles andere als in ruhigen Bahnen verlaufen, wobei Agentin nicht das richtige Wort war. Ihre Aufgabe war es gewesen, Probleme zu lösen, und diese erstreckte sich nicht auf die Verhandlungsebene.
Erst spät, genauer gesagt seit etwa fünf Jahren, als sie, ihre Tochter und ihre Enkelin in die Weinreich-Familie eingeheiratet hatten, hatte sie allmählich ihre innere Ruhe wiedergefunden und es war ihr gelungen, ihr früheres Leben weitgehend hinter sich zu lassen, wobei sie immer noch eine schmale Gratwanderung zwischen Empathie und Skrupellosigkeit erlebte.
Es war der Tag vor dem Heiligen Abend und in der Villa, die jetzt von ihrer Enkelin Laura sowie ihrem Schwiegersohn Mark bewohnt wurde, der den Vorsitz über das Weinreich-Imperium von ihrem Mann Richard übernommen hatte, herrschte bereits rege Betriebsamkeit für die Weihnachtlichen Vorbereitungen. Es lag Maria sehr am Herzen, das Weihnachtsfest im Kreise der Familie zu verbringen und Richard Weinreich war ohnehin ein Mensch, dem die familiären Bindungen über alles gingen.
Maria atmete tief durch und setzte ihren Lauf fort, als sie eine ältere Frau auf der Straße erblickte, die gerade ihre Haustüre abschloss und sich zu ihr herumdrehte.
„Guten Morgen, Frau Grabe“, rief Maria ihr mit einem Lächeln zu und blieb kurz stehen.
„Frau Weinreich. Guten Morgen. Sie habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen. Weihnachten mit den Kindern?“, erkundigte sie sich freundlich.
„Ja. Das Fest sollte man mit der Familie verbringen und Richard und ich verbringen die Feiertage hier.“
Frau Grabe schaute Maria kurz und mit einem zögernden Blick an.
„Kann ich Sie vielleicht kurz sprechen? Es dauert auch nicht lange“, sagte die ältere Dame. „Bei einem Kaffee vielleicht?“
„Gerne!“, antwortete Maria, während die Frau die Haustüre wieder aufschloss und Maria ihr ins Innere folgte.
Frau Grabe war eine Nachbarin von ihr gewesen, mit der sie früher des Öfteren einen kleinen Plausch gehalten hatte. Ihr Mann war vor etwa vier Jahren verstorben und seitdem wohnte sie allein in der kleinen Villa. Maria hatte sie als nette ältere Dame in Erinnerung, aber näheren Kontakt hatte sie zu ihr nicht, weshalb sie sich etwas darüber wunderte, dass sie wohl ein Problem mit ihr besprechen wollte.
Maria folgte ihr in die Küche, wo Frau Grabe den Kaffee aufbrühte und es nach Kokos roch. Maria erspähte selbst gebackene Kokosmakronen und nahm sich eine vom Teller und setzte sich an den Küchentisch, als das Telefon ging.
„Sicher wieder mein Neffe Jan. Der ruft mich den ganzen Morgen schon an“, sagte die Frau in gehetztem Ton.
„Ihr Neffe? Gibt es denn etwas Besonderes?“, fragte Maria.
„Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Wissen Sie, ich bin alleine und habe niemanden, außer meinem Neffen Jan, den ich aber schon seit Jahren nicht gesehen habe. Und heute Morgen rief er plötzlich an. Er hat sich ein Haus gekauft sagt er und er braucht dringend vierzigtausend Euro Kapital, bevor er eine Bankbürgschaft, das war es glaube ich was er sagte, bekommt. Als Sicherheit.“
Maria wurde sofort hellhörig. „Und die hätte er gerne von Ihnen?“
„Ja. Heute Morgen um acht hat er mich das erste Mal angerufen und ich bin aus allen Wolken gefallen, als er sich gemeldet hat. Ich wusste erst gar nicht, wer da am Telefon war, aber nachdem der Schlingel mich hatte raten lassen, war es tatsächlich Jan. Ich war gerade auf dem Weg zur Bank, als ich Sie gesehen habe und da dachte ich mir: Lore, es kann doch nicht schaden, wenn du Frau Weinreich um ihre Meinung bittest. Ich weiß ja, dass Sie und Ihr Mann Ahnung von geschäftlichen Sachen haben. Vierzigtausend Euro sind viel Geld.“
„Und das war genau richtig Frau Grabe“, lächelte Maria hintergründig und nippte an ihrem Kaffee. „Er hat bereits öfter angerufen?“
„Ja. Er sitzt bei einem Notar, der auch mit mir gesprochen hat. Jan hat das Haus wohl ersteigert und er muss die Sicherheitsleistung hinterlegen.“
„Der Mann, der Sie angerufen hat, ist nicht Ihr Neffe!“, sagte Maria und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
„Nicht mein Neffe? Wie kommen Sie darauf. Ich habe doch eben noch mit ihm gesprochen und ...“
„Sie haben gesagt, dass der Mann am Telefon Sie aufgefordert hat zu raten, wer am Telefon ist. Sie haben den Namen ihres Neffen genannt und er hat es bestätigt. Glauben Sie mir; das ist nicht Ihr Neffe. Man will Sie mit einer altbekannten Masche betrügen und Sie um vierzigtausend Euro bringen.“
Wieder klingelte das Telefon und Heidelore Grabe schaute Maria verzweifelt an.
„Ich gehe dran“, sagte Maria und nahm den Hörer ab.
„Warst du schon bei der Bank?“, hörte sie eine dunkele, an sich sympathische Stimme.
„Ich war gerade auf dem Weg und da habe ich gemerkt, dass ich meine Karte vergessen habe mein Junge. Aber ich gehe gleich wieder los“, antwortete Maria mit verstellter Stimme.
„Danke Tante Heidelore. Du bist die Beste. Ich rufe dich in einer Stunde wieder an.“
„Mach das Junge. Bis dahin hab’ ich das Geld aus dem Schließfach geholt.“
„Wie nennt Sie eigentlich Ihr Neffe, wenn er Sie anspricht?“, fragte Maria die verstörte alte Dame, als sie das Gespräch beendet hatte.
„Lore. Wie alle.“
„Mich hat er Tante Heidelore genannt. Deshalb frage ich.“
„So hat mich noch nie einer genannt. Mein Gott was bin ich für ein Schaf.“
„Nein, sind Sie nicht. Die Methode ist sehr erfolgreich und wenn ich mich nicht irre, ist der Anruf Ihres angeblichen Neffen erst die Ouvertüre des Betruges.“
„Da müssen wir doch die Polizei informieren“, sagte Frau Grabe empört.
„Das machen wir auch“, beruhigte Maria die aufgebrachte Frau, wobei sie etwas ganz anderes im Sinn hatte. „Aber die Leute sind gefährlich, wenn sie nicht das bekommen, was sie wollen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Die Leute kennen nur Ihren Namen und wissen nicht, wie Sie aussehen. Die Jüngste bin ich auch nicht mehr und ich gebe mich daher als Sie aus. Ich werde mich auch mit der Polizei in Verbindung setzen und alles regeln. So lange können Sie sich bei uns zu Hause aufhalten und warten, bis das Ganze vorbei ist und die Gauner gefasst sind.“
„Das würden Sie für mich tun?“, fragte Frau Garbe hoffungsvoll.
„Natürlich, meine Liebe. Machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird gut“, lächelte Maria sie an. „Ich telefoniere kurz mit meiner Enkelin Laura und sie wird Sie dann zu unserem Haus bringen. Dort sind Sie sicher und ich kümmere mich, zusammen mit der Polizei um diese Strolche.“
Maria schnappte sich ihr Mobiltelefon und rief Laura an, die sich nach dem zweiten Klingeln meldete.
„Wir wollten für dich schon eine Vermisstenanzeige aufgeben. Wo bist du?“, kicherte sie in den Hörer.
„Bei Frau Grabe. Sie hat mich auf eine Tasse Kaffee eingeladen und mir eine interessante Geschichte erzählt.“
In kurzen Worten schilderte Maria das, was sie von Lore Grabe erfahren hatte.
„Enkeltrickbetrüger“, sagte Laura sofort. „Und wie ich dich kenne, lässt du die nicht ungeschoren davonkommen.“
Maria konnte ihr Grinsen fast durch den Hörer spüren.
„Natürlich nicht. Hör zu! Ich habe Frau Grabe gesagt, dass sie vorerst bei uns unterkommen kann, damit ich sie hier aus der Schusslinie habe. Kommst du sie bitte abholen? Und benutze den Hintereingang. Ich vermute stark, dass die Vorderfront des Hauses unter Beobachtung steht. Und schnapp dir einen kleinen Rucksack und nimm ein paar Utensilien aus der Kammer mit. Die gibt es doch noch, oder?“
„Da gehe ich nicht dran“, lachte Laura. „Es ist alles noch da, was du damals nicht mitgenommen hast.“
„Gut. Dann pack Folgendes ein.“
Maria gab ihrer Enkelin mündlich eine kleine Liste und Laura versprach, in zehn Minuten da zu sein.
„Und achte darauf, dass dich niemand sieht.“
„Nein. Ich mach das schon. Bis gleich.“
Maria legte auf und kehrte zu Lore Grabe zurück, die nachdenklich in einem Wohnzimmersessel saß.
„Da wäre ich fast um viertzigtausend Euro ärmer gewesen“, murmelte die alte Dame.
„Und so geht es den Betrügern an den Kragen. Kann ich mir von Ihnen ein paar Kleidungsstücke borgen? In meinen Sportsachen falle ich dann doch zu sehr auf.“
„Nur zu. Sie können nehmen was Sie wollen. Ist alles sauber und gewaschen.“
„Das glaube ich“, schmunzelte Maria als es an der Terrassentüre klopfte.
Die beiden Frauen schauten sich um und sahen Laura, die mit einem kleinen Rucksack in der Hand auf der der Terrasse stand.
„Hallo, Frau Grabe“, lächelte sie und betrat das Wohnzimmer. „Meine Oma hat mir erzählt was Ihnen passiert ist. Kommen Sie. Wir gehen zu uns und wenn Sie möchten, können Sie mir und meiner Mutter etwas beim Dekorieren helfen.“
Ein Strahlen zog sich über das Gesicht der alten Dame und gemeinsam mit Laura verließ sie das Haus in Richtung der Weinreich-Villa.
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2
Maria wusste, dass sie nicht viel Zeit hatte. Rasch suchte sie das Schlafzimmer der alten Dame auf und schnappte sich eine unscheinbare beige Bluse, einen grauen karierten Rock, einen Pelzmantel und schlüpfte in ein paar beige flache Schuhe, die ihr Gott sei Dank wie angegossen passten. Im Flur griff sie sich eine schwarze Handtasche, setzte sich einen altmodischen schwarzen Hut auf und verließ rasch das Haus. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie einen Wagen, der schräg gegenüber in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern parkte. Ein junger Mann saß auf dem Fahrersitz und sprach etwas in ein Mobiltelefon, als Maria auf den Bürgersteig trat und den Kragen des Mantels nach oben schob. Für eine Maske hatte sie keine Zeit mehr gehabt, aber bei ihrer Rückkehr musste sie diesen Umstand ändern, da sie für ihr Alter wesentlich jünger aussah. Maria trippelte mit kleinen Schritten die Straße entlang und verzog ihr Gesicht zu einem befriedigenden Lächeln, als sie merkte, dass ihr das Fahrzeug langsam folgte. Zehn Minuten später hatte sie den Ortskern von Lintorf erreicht und betrat die Geschäftsstelle der Ratinger Bank. Schnurstracks wandte sie sich zu den Räumen im Souterrain, wo sich die Schließfächer befanden, und bemerkte den Mann aus dem Auto, der ihr in die Räume der Bank gefolgt war, und sich nun in der Besucherecke auf einem Stuhl niederließ.
Maria ging die Stufen in den Tresorraum hinunter und nutzte die Gelegenheit, um mit Laura zu telefonieren.
„Ist alles in Ordnung bei euch?“
„Ja. Ich habe aufgepasst, aber niemand ist uns gefolgt. Frau Grabe hat sich sofort in die Küche verzogen und bereitet mit Mutter das Essen vor. Und bei dir?“
„Ich bin am Tresorraum und warte eine Weile, bevor ich zurückgehe. Wie ich es erwartet habe, ist man mir gefolgt. Bin mal gespannt, wie es weitergeht.“
„Pass bitte auf dich auf“, sagte Laura mit sorgenvoller Stimme, aber Maria lachte nur kurz auf.
„Das sind keine Mörder oder Terroristen, sondern Betrüger, die es auf das Geld alter Menschen abgesehen haben und die haben bei mir noch schlechtere Karten. Ich ruf dich wieder an, sobald die Sache erledigt ist.“
Maria blieb noch fünf Minuten sitzen und erhob sich von ihrem Stuhl. Langsam ging sie wieder zurück in den Schalterraum und verließ mit etwas schleppendem Schritt das Bankgebäude.
Branko beobachtete das Haus der alten Dame und sah, wie sich eine Joggerin mit ihrem potentiellen Opfer unterhielt, das gerade das Haus verlassen wollte. Rasch griff er zum Telefon und rief seinen Kollegen an.
„Die alte Schachtel ist wieder ins Haus gegangen und zwar mit einer anderen älteren Frau.“
„Scheiße. Ich mach mal etwas Druck und rufe sie noch einmal an. Das wird schon. Mach dir nicht ins Hemd.“
„Nein. Ich wollte es dir nur sagen. Dass die mir nicht noch auf dumme Gedanken kommt.“
„Du kennst mich doch. Alles wird gut“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung und legte auf.
Etwa eine Viertelstunde später sah Branko die Frau wieder aus dem Haus kommen und den Weg in Richtung Zentrum einschlagen.
„Alles klar“, meldete er sich bei seinem Kontaktmann. „Die zweite Frau ist nicht wieder rausgekommen. Wahrscheinlich eine Nachbarin die hinten raus ist. Die Alte hat die Türe abgeschlossen.“
„Sag ich doch. Ich krieg alle rum“, kicherte sein Kumpane. „Das zweite Team steht bereit?“
„Ja. Sie warten nur darauf, bis sie wieder im Haus ist. Ich gebe dir Bescheid.“
„Gut. Wirst schon sehen. Bald haben wir die Kohle von der Alten in Bar.“
Branko war der Frau bis zur Bankfiliale gefolgt und nun befand sie sich wieder auf dem Rückweg. Ihre Schritte wurden zunehmend kürzer und als sie vor ihrem Haus angekommen war, schlich sie fast durch die Eingangstüre.
„Sie ist wieder zurück“, meldete Branko, „aber lass ihr noch etwas Zeit. Die ist total fertig.“
„Ich rufe in exakt zehn Minuten an und dann weitere fünf für den zweiten Teil. Die zwei sind bereit?“
„Stehen in einer Nebenstraße und warten auf dein Okay.“
„Gut. Nimm die Zeit ab jetzt!“
Als Maria die Haustüre hinter sich schloss wich jegliche Lethargie von ihr. Rasch schnappte sie sich ihren Rucksack und eilte ins Bad, um sich zumindest optisch etwas zu verändern. Sie holte eine Grauhaarperücke heraus, versteckte ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare und zog eine Hornbrille an, die mit Fensterglas versehen war. Routiniert veränderte sie mit etwas Schminke ihr Äußeres und nach fünf Minuten sah ihr eine fremde Frau, die um mindestens fünfzehn Jahre gealtert war aus dem Spiegel entgegen. Mit sich selbst zufrieden langte sie in den Rucksack, förderte ihre Glock 17 zu Tage, die sie mit einem kurzen Schalldämpfer bestückte und schob sich ein Karatjel, das Kampfmesser der russischen Speznaz, unter ihren Blusenärmel. Von unten hörte sie das Klingeln des Telefons und ging rasch nach unten.
„Hallo Tante Heidelore. Hast du das Geld für mich?“, hörte sie die Stimme des angeblichen Neffen Jan.
„Ja. Ich war gerade bei der Bank. Du, ich freu mich, wenn du mich besuchen kommst. Ich hab’ auch ein paar selbstgebackene Kokosmakronen und ...“
„Ich kann hier nicht weg“, kam es zur Antwort aus dem Hörer. „Aber eine Mitarbeiterin des Notars kommt für mich vorbei. Du bekommst natürlich auch eine Quittung und übermorgen komme ich dann bei dir vorbei und bring dir das Geld zurück. Und dann gehen wir Essen und ich erzähle dir alles.“
„Das ist schön mein Junge“, antwortete Maria. „Ich warte dann auf die Frau und gebe ihr das Geld.“
Maria hatte gerade aufgelegt, als das Telefon ein weiteres Mal klingelte.
„Hast du was vergessen Jan?“, fragte sie.
„Spreche ich mit Frau Heidelore Grabe“, ertönte eine befehlsgewohnte Stimme im Hörer.
„Ja. Ich bin Frau Grabe.“
„Sie haben gerade mit einem gewissen Jan gesprochen, der vorgibt Ihr Neffe zu sein?“
„Ja, das ... wieso vorgibt?“, stotterte Maria.
„Hier spricht Hauptkommissar Wegner von der Kriminalpolizei Düsseldorf, Betrugsdezernat. Wir haben im Rahmen unserer Ermittlungen das Telefon dieses Jan abgehört und haben festgestellt, dass Sie Opfer des sogenannten Enkeltricks werden sollen.“
„Wieso Enkeltrick? Ich habe keinen Enkel“, unterbrach Maria den Mann und hatte Mühe, nicht laut loszuprusten.
„Das nennt man so, weil ...“
„Aber ich habe keinen Enkel, das sagte ich doch schon“, warf Maria abermals ein.
„Ja, ja, ist schon gut ...“
„Nur einen Neffen“, unterbrach Maria wieder „und mit dem gehe ich übermorgen Essen. Ist das nicht schön?“
„Frau Grabe, hören Sie mir bitte zu. Ich wollte Ihnen gerade erklären, dass ...“
„Bestimmt geht er mit mir in die Lintorfer Klause. Wissen Sie, die machen einen Schweinebraten mit Rotkohl, der ist so...“
„Frau Grabe. Hier spricht die Polizei. Sie sollen Opfer eines Betruges werden“, ertönte die Stimme nun ungehalten.
„Von wem?“, fragte Maria, die sich köstlich amüsierte.
„Von dem Anrufer, der sich Jan nennt. Er ...“
„Aber das ist mein Neffe, nicht mein Enkel.“
„Nein! Er ist es nicht! Das ist ein Betrüger!“
„Mein Neffe? Ein Betrüger? Das glaub ich nicht. Er hat gerade ein Haus gekauft und übermorgen geht er mit mir Essen.“
„Das ... ist ... nicht ... Ihr ... Neffe“, schrie der Kommissar genervt in den Hörer.
„Nicht? Aber wer ist es dann?“, fragte Maria unschuldig.
„Der Mann gibt nur vor, Ihr Neffe zu sein. Sie sollten ihm Geld geben?“
„Ja, für sein neues Haus. Er sitzt bei einem Notar und muss die Anzahlung leisten.“
„Hören Sie mir jetzt bitte genau zu, Frau Grabe. Der Mann hat ihnen gesagt, dass jemand anderes das Geld abholt?“
„Ja. Eine Mitarbeiterin des Notars.“
„Das ist gelogen. Es ...“
„Das keine Mitarbeiterin kommt oder das Jan kein Haus gekauft hat?“
Maria hörte ein schweres Seufzen am Telefon.
„Frau Grabe. Am besten ist es, wenn wir zwei Beamte bei Ihnen vorbeischicken. Die Kollegen werden Ihnen alles erklären und Ihnen genaue Instruktionen geben, wie Sie sich verhalten sollen.“
„Mögen ihre Kollegen Kokosmakronen? Ich habe gerade für Weihnachten welche gebacken und sie sind ganz frisch.“
„Kokosmakronen?“, echote es in den Hörer. „Ja, die mögen Kokosmakronen“, hörte Maria eine verzweifelte Stimme. „Die Kollegen sind in fünf Minuten bei Ihnen.“
„Die ist doch nicht richtig im Kopf“, stöhnte Lars Kriese und sah seinen Kumpanen Ferko an, der neben ihm stand und sich vor Lachen den Bauch hielt.
„Nö und das ist ja auch gut so“, keuchte Ferko. „Kokosmakronen, ich kann nicht mehr“, grölte er wieder los.
„Kannst du dich mal beruhigen?“, sagte Lars ungehalten. „Wir müssen jetzt zu der alten Schachtel und wehe du verziehst auch nur eine Miene.“
„Wird mir schwerfallen, aber ich schaff es schon“, antwortete Ferko und kletterte zusammen mit Lars aus dem Fond des Vans.
„Ihr bekommt das hin?“, hörten sie die Stimme von Julia, die am Steuer des Fahrzeuges saß.
„Ja. So wie immer. In einer halben Stunde sind wir um vierzigtausend reicher“, antwortete Lars.
„Okay. Gebt mir Bescheid, wenn ich die Kohle kassieren soll. Und jetzt macht das ihr wegkommt.“
Maria spähte durch die Gardinen des Küchenfensters und sah zwei Männer, die sich dem Haus näherten und sich auf die Eingangstüre zubewegten. Sie wusste natürlich, dass dies keine richtigen Polizeibeamten waren, sondern zu der Bande von Betrügern gehörten deren Masche es war, auf diese Art das Vertrauen zu ihren Opfern zu gewinnen. Mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen ging sie zur Eingangstüre und schlagartig veränderte sich ihr Gesichtsausdruck in den einer etwas verwirrten alten Frau.
„Kommen Sie herein“, sagte sie freundlich. „Ich habe Sie schon erwartet. Ihr Kollege hat mir gesagt, dass Sie kommen.“
„Frau Grabe?“
„Die bin ich“, lächelte Maria und ließ die beiden Männer ins Haus. „Kann ich Ihren Ausweis sehen?“, fragte sie.
„Natürlich!“, sagte einer der beiden und holte eine bronzefarbene ovale Metallmarke heraus und zeigte sie ihr.
„Das steht KRIMINALPULIZEI“, kicherte Maria, während der Mann verständnislos auf seine Marke schaute. „Sie sind doch ein richtiger Polizist?“
„Ähm ja, natürlich. Unser Chef hat Sie doch angerufen“, stotterte er, schaute seinen Komplizen fragend an und verstaute rasch seine Marke.
„Ich glaub Ihnen ja. Käffchen?“
„Äh nein, wir wollten ...“
Aber Maria war bereits in der Küche verschwunden. „Und sie mögen Kokosmakronen, hat ihr Chef gesagt“, rief sie den beiden Gaunern aus der Küche zu.
„Die ist irre, die Alte“, raunte Lars seinem Kumpel zu. „Geh ihr nach und hol sie aus der Küche raus“ Während er das Klappern von Geschirr hörte.
Ferko folgte Maria in die Küche und sah, wie sie an einem Waschbecken hantierte.
„Frau Grabe, die Lage ist ernst“, begann er.
„Ich weiß“, hörte er die Stimme der Frau und als sie sich herumdrehte blickte Ferko in die Mündung einer großkalibrigen Waffe, auf der sich ein Schalldämpfer befand.
„Glock 17 mit 9 mm Vollmantelgeschossladung. Die dringt auf diese Entfernung mühelos durch ihren Schädel und trifft sogar noch ihren Komplizen auf der anderen Seite der Wand“, sagte Maria in dezenten Plauderton. „Zucker und Milch?“
Fassungslos schaute Ferko auf die alte Frau, die nichts von ihrer Freundlichkeit verloren hatte, bis auf den Umstand, dass er nun den Lauf der Waffe an seiner Stirn spürte und sie den Spannhahn nach hinten zog.
„Und jetzt nehmen Sie bitte das Tablett mit dem Kaffee und den Makronen und gehen vor mir her ins Wohnzimmer. Und immer schön an die Waffe in Ihrem Rücken denken.“
Ferko setzte sich wie in Trance in Bewegung und kam sich wie in einem schlechten Film vor. Er tappte mit dem Tablett auf seinen Händen ins Wohnzimmer, wo Lars die Augen verdrehte, als er den Kaffee sah und dann fiel sein Blick auf Ferko, der mit starren Augen geradeaus guckte.
„Wir möchten eigentlich keinen Kaffee“, sagte er. „Wir wollten Ihnen ein paar Anweisungen geben, wie Sie sich gegenüber der Frau verhalten sollen, die gleich ...“
Weiter kam er nicht, da er die Waffe in der Hand der Alten erkannte.
„Setzen Sie sich doch bitte auf die Couch zu Ihrem Kollegen“, forderte Maria ihn auf und richtete ihre Waffe nun auf ihn. „Ich sag es nicht zweimal“, lächelte sie ihn an.
Lars zögerte und rechnete sich seine Chancen gegen die alte Frau aus, als ein Geschoss mit leisem Fauchen die Pistole verließ und haarscharf an seinem Ohr vorbeizischte.
„Ich hätte Ihnen auch das Ohrläppchen abschießen können, aber dann ist hier alles schmutzig. Das wollen wir doch nicht. Bitte, setzen Sie sich.“
Lars gab auf und setzte sich neben seinem Komplizen auf die Couch.
„Das wird sie teuer zu stehen kommen. Wir sind Polizeibeamte und ...“
Plötzlich sah er, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Nichts mehr erinnerte an die freundliche alte Dame, die ihnen eben die Türe aufgemacht hatte. Stattdessen blickte er in ein Augenpaar, das ihn eiskalt, fast sezierend musterte.
„Ich habe in meinem Leben schon viele Leute zur Strecke gebracht, aber ihr beide gehört zum niedrigsten Abschaum der Gesellschaft. Ruf deine Komplizin an und sorg dafür, dass der Mann, der mir zur Bank gefolgt ist, ebenfalls hier erscheint. Erzähl ihm was du willst, dass ich einen Schwächeanfall hatte, irgendetwas oder ihr beide werdet es bitterlich bereuen.“
„Und wenn nicht?“, wagte Ferko zu fragen.
Maria ließ das Karatjel aus ihrem Ärmel gleiten.
„Du weißt was das ist? Beidseitig geschliffen mit Sägeklinge und ich kann mit diesem schönen Teil Sachen mit dir anstellen, die du dir nicht einmal in deinen finstersten Träumen vorstellen kannst. Dazu gehen wir natürlich ins Bad, weil die Schweinerei höchstens ein Tatortreiniger wegbekommt“, lächelte Maria ihn diabolisch an.
„Wer sind Sie?“, fragte Lars mit bebender Stimme.
„Euer schlimmster Alptraum, wenn ihr nicht das tut, was ich sage. Und jetzt ruf an.“
Julia Krüger saß auf dem Fahrersitz und wartete auf die Nachricht ihrer Komplizen. Lustlos sah sie gelangweilt aus dem Fenster und schaute auf die Häuser in dieser Villengegend. Noch ein paar dieser Aktionen, so wie sie es immer nannte und sie konnte sich ebenfalls ein Haus in einer ruhigen Gegend leisten. Sie war kein bisschen nervös, da sie mit ihren Leuten diese Nummer schon so oft durchgezogen hatte, dass sie es gar nicht mehr zählen konnte. Die meisten ihrer Opfer schämten sich derart, dass sie nicht zur Polizei gingen, was wiederum ihnen zugutekam.
Das Klingen ihres Mobilphons riss sie aus ihren Tagträumen, und Lars belegte Stimme war am anderen Ende der Leitung zu hören.
„Du musst sofort kommen. Die Alte hat einen Schwächeanfall bekommen. Ich hab’ keine Ahnung, was wir machen sollen. Und bring Branko mit. Wir müssen die Bude auf den Kopf stellen und das Geld finden.“
„Frag die Alte doch einfach, wo sie es hat“, fuhr Julia ihn an.
„Die ist weggetreten. Die sagt gar nichts mehr.“
Julia stieß einen lästerlichen Fluch aus, stieg aus dem Wagen und ging zu Branko, der mit einem Kopfhörer im Ohr einen Takt mit seinen Händen auf dem Lenkrad seines Wagens trommelte.
Julia klopfte an die Scheibe und Branko schaute sie erschrocken an.
„Was ist los? Ist was schiefgelaufen?“
„Die Alte ist umgefallen. Rasch, wir müssen ins Haus und nach der Kohle suchen. Lars hat eben angerufen.“
Branko sprang aus dem Wagen und ging mit Julia, die sich bei ihm untergehakt hatte, langsam zum Haus hinüber. Julia klopfte an die Tür, die sich von selbst öffnete. Vorsichtig betraten die beiden den Korridor und Julia rief leise nach Lars, aber niemand antwortete. Die beiden näherten sich dem Wohnzimmer, wo sie ein Tablett mit ein paar Kaffeetassen auf dem Wohnzimmertisch sahen, Lars und Ferko auf der Couch hockten und sie mit starrem Blick anschauten.
„Was ist los? Ich dachte, die Alte hat einen Schwächeanfall“, entfuhr es Julia ärgerlich.
„Ich wollte sie nur in Ruhe kennenlernen“, hörte sie eine dunkle Stimme hinter der Wohnzimmertüre.
Julia und Branko drehten sich um und sahen die alte Frau, die gemütlich auf einer Kommode saß und ihre Beine baumeln ließ.
Was ...?“, fragte Branko und jetzt erst erkannten sie beide, was die Frau in ihren Händen hielt.
„Setzt euch neben die anderen. Sind das alle?“, fragte sie Lars.
„Ja, außer Ihrem Neffen Jan“, antwortete er resignierend.
„Ihr lasst euch von so einer alten Vettel reinlegen?“, keifte Julia und stürzte sich wie eine Furie auf Maria, die von dem plötzlichen Angriff völlig überrascht war. Blitzschnell glitt sie von der Kommode herunter und rollte sich ab, sodass Julias Attacke ins Leere verlief und war im nächsten Moment wieder auf ihren Beinen. Doch Julia gab nicht auf und attackierte sie mit ausgestreckten Armen erneut, um Maria an die Gurgel zu gehen. Ihre Pistole hatte Maria fallen gelassen, denn sie diente nur zur Einschüchterung und keinesfalls wollte sie jemanden ernsthaft verletzen. Sie packte die Arme der jungen Frau und mit einem Aikidowurf, beförderte sie in eine hellbraune Holzvitrine, die mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst und Julia reglos zu Boden fiel.
Branco löste sich aus seiner Starre, ging in eine Art Kampfstellung und zog ein Messer, während Lars und Ferko an ihren Fesseln zogen, die ihnen Maria um Hände und Füße gelegt hatten.
„Lass es. Bisher habe ich nur Spaß gemacht, aber ein Messer ändert die Sache und du wirst es nicht überleben“, sagte sie, während sie ihr Karatjel in ihrer rechten Hand wirbeln ließ. „Diese Klinge hat mehr Menschen von innen gesehen als du es dir vorstellen kannst.“
Branko starrte die alte Dame an. Ihre Augen strahlten völlige Kaltblütigkeit aus, aber dennoch war sie eine alte Frau. Er wagte einen Ausfallschritt, dem die Frau fast mühelos auswich, ihm ihr Messer über seine Wange zog und er einen lauten Schmerzensschrei ausstieß. Wie elektrisiert ließ er sein Messer fallen und Maria hob ihre Pistole auf.
„Los ihr beiden, auf die Couch. Ich hab’ die Spielchen satt“, sagte sie zu Branko, der sie entsetzt anstarrte und sich seine blutende Wange hielt und Julia, die sich mühsam und halb benommen aufrappelte. Jeglicher Widerstand der beiden war gebrochen und sie schlichen wie zwei geprügelte Hunde neben ihre Komplizen und ließen sich ebenfalls fesseln.
Maria schnappte sich ihr Handy und rief eine gespeicherte Nummer an.
„Maria. Wieder im Lande?“, hörte sie die Stimme von Polizeirat Werner Krieger, der zu einem ihrer engsten Freunde geworden war.
„Ja. Richard und ich feiern mit der ganzen Familie das Weihnachtsfest. Das ist uns beiden heilig. Aber das ist nicht der Grund meines Anrufes, obwohl ich dich ohnehin später angerufen hätte, aber mir ist etwas dazwischengekommen.“
Maria schilderte ihm in aller Ausführlichkeit den Ablauf der Ereignisse und Krieger hörte ihr schweigend zu.
„Du hast sie am Leben gelassen?“, lachte er verhalten.
„Ja, sie leben alle noch und sitzen auf der Couch wie die Hühner auf der Stange“, kicherte sie. „Könntest du die Bande einsammeln?“
„Klar. Ich bin in einer halben Stunde da.“
„Gut. In der Zwischenzeit unterhalte ich mich noch ein wenig mit den Früchtchen. Da fehlt nämlich noch einer und für euch wird es schwerer, den Namen und den Aufenthaltsort des Letzten herauszubekommen.“
„Ich will gar nicht wissen, wie du es machst“, sagte Krieger schnell. „Bis gleich.“
„Ihr habt gehört was ich will. Den Namen und den Aufenthaltsort von diesem ominösen Jan.“
„Von uns erfährst du nichts“, zischte Julia zur Antwort.
„Doch. Ich erfahre alles, und zwar von dir“, sagte Maria, ging in die Küche und kam mit einem Spargelschäler zurück.
„Damit kann man nicht nur Spargel schälen, sondern auch hervorragend die Epidermis, die oberste Schicht der Haut, entfernen. Du bist noch jung und recht hübsch. Wenn du nicht kooperativ bist, wird sich das Zweite schnell ändern“, sagte Maria, trat auf Julia zu und riss ihr T-Shirt entzwei.
Voller Panik sah die junge Frau sie an.
„Du willst ...?“, kreischte sie.
„Ja. Ich fange mit deinem Schulterbereich an und gehe dann langsam den Arm nach unten.“
Maria setzte den Schäler an und ein schmaler dünner Blutstreifen rann an Julias Schulter hinunter. Sie jaulte auf und schrie einen Namen heraus.
„Rolf Schreiber“, keuchte sie unter Tränen.
„Siehst du? Geht doch. Andere haben erst gesungen, als ich ihnen etwas amputieren musste.“
Julia murmelte eine Adresse in Duisburg und Maria nickte zufrieden.
Als Werner Krieger das Haus erreichte, dessen Adresse ihm Maria angegeben hatte, hörte er schon von Weitem einen weihnachtlichen Gesang. Die Türe stand offen und als er mit seinen Beamten ins Wohnzimmer kam, bot sich ihm ein skurriles Bild.
Auf der Couch saßen fünf Personen, die aus vollem Hals Stille Nacht, Heilige Nacht sangen und vor ihnen saß eine scheinbar alte Frau auf einer Kommode mit einer großkalibrigen Waffe in der Hand und gab mit ihr den Takt an.
„Es ist Weihnachten, Werner und ich dachte mir, dass das Lied meine Schäfchen etwas entspannen wird“, lächelte Maria ihrem Freund mit knipsendem Auge zu, der sich nur mühsam ein Lachen verkneifen konnte.
––––––––
ENDE