Читать книгу Ein krimineller Adventskalender : (K)eine schöne Bescherung - Kerstin Peschel - Страница 5
1. Dezember: Das zweite Licht von Hans-Jürgen Raben
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Nach einem schweren Unfall ist jeder froh, wenn er rechtzeitig in ein Krankenhaus kommt und behandelt oder sogar operiert wird. Wir vertrauen den Ärzten und Schwestern, die sich bemühen, unser Leben zu retten. Doch was wäre, wenn genau das Gegenteil wahr wäre?
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1
Die Scheinwerfer rissen ein schmales Lichtband aus der Dunkelheit. Überall auf der Landstraße gab es festgefahrene Schneefelder und immer wieder Stellen mit Glatteis. Der Winter hatte schon Anfang Dezember mit starkem Schneefall begonnen. Man war nicht mehr daran gewöhnt, weil die Temperaturen im Lauf der Jahre angestiegen waren.
Früher hätte der Schnee niemandem etwas ausgemacht, dachte Vanessa Meissner. Heute werden gleich alle Züge stillgelegt.
Auch wenn sie sich mit ihren dreiundzwanzig Jahren nicht selbst an die Winter erinnern konnte, von denen ihre Mutter sprach, hatte sie doch die Beweise in den alten Fotoalben entdeckt, in denen sie immer so gern geblättert hatte.
Sie warf einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser und gab etwas weniger Gas. Sie war eine vorsichtige Fahrerin und hatte diese Strecke von der Hochschule in ihre Heimatstadt im Thüringer Wald schon häufig zurückgelegt. Ihre Eltern würden sich freuen, wenn sie früher als sonst in diesem Jahr nach Hause kam.
Dennoch wollte sie ihren Wagen nicht übermäßig beanspruchen. Sie besaß einen winzigen Fiat aus einer älteren Baureihe. Einer sehr viel älteren Baureihe. Viele der Annehmlichkeiten neuerer Modelle gab es seinerzeit noch nicht, oder sie waren zu teuer, um ein billiges Auto damit auszustatten. Wie auch immer, ihr Wagen hatte sie noch nie im Stich gelassen.
Noch ein Semester – und das Studium wäre damit abgeschlossen. Bei ihrem Notendurchschnitt würde sie keine Probleme haben, eine gute Schule zu finden, an der sie den Kindern alles beibringen konnte, was sie wissen mussten. Es war immer schon ihr Traum gewesen, Kinder zu unterrichten. Ihr Vater war Gymnasiallehrer und hatte sie ermuntert, diesen Weg zu gehen. Bisher hatte sie es nicht bereut.
Zwei kleine Lichtpünktchen tauchten hinter ihr auf.
Logischerweise war sie nicht allein auf der Straße. Viele Fahrzeuge waren ihr zwar nicht entgegengekommen, doch das war nicht ungewöhnlich. Es war später Nachmittag, und an der Straße lagen nur wenige kleinere Ortschaften, in denen die Menschen einen anderen Tagesablauf hatten als die Studenten in den Universitätsstädten. Das hieß, sie waren abends zu Hause. Sicher wollte der Fahrer hinter ihr auch nur nach Hause.
Die Lichter wurden rasch größer.
Da hatte es jemand sehr eilig!
Vanessa schüttelte unbewusst den Kopf. Das andere Fahrzeug fuhr viel zu schnell für die Straßenverhältnisse.
Ein Ortsschild tauchte voraus im Scheinwerferlicht auf. Sie bremste ab, und hinter ihr wurde gehupt. Der andere Fahrer war offensichtlich nicht damit einverstanden, dass sie langsamer fuhr. Vielleicht hatte er das Schild nicht gesehen? In diesem Augenblick passierte sie ein Schild mit der Aufforderung, die Geschwindigkeit auf sechzig Stundenkilometer zu senken.
Das andere Fahrzeug klebte förmlich an ihrer Stoßstange. Es wurde wieder gehupt. Das Licht der aufgeblendeten Scheinwerfer erhellte ihren Innenraum. Schemenhaft erkannte sie in dem anderen Wagen eine Person am Steuer, die wild mit einer Hand fuchtelte. Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße, lenkte ihren kleinen Wagen möglichst weit rechts an den Straßenrand und trat leicht auf die Bremse.
Jetzt konnte der andere überholen. Vanessa atmete langsam aus. Gleich war er vorbei, und ihre Nerven konnten sich beruhigen.
Der Wagen hinter ihr brach ruckartig nach links aus, das Licht seiner Scheinwerfer zuckte über die Schneewälle am Straßenrand, und schon war er mit ihr auf gleicher Höhe. Vanessa riskierte einen kurzen Blick und sah den Umriss eines männlichen Körpers und eine drohend geschüttelte Faust.
Was für ein Idiot, dachte sie.
Und dann geschah es.
Das überholende Fahrzeug geriet auf Eis oder ein Schneebrett, kam ins Rutschen, und der Fahrer kurbelte hektisch am Lenkrad, was die Sache noch schlimmer machte. Das Heck schleuderte herum und traf Vanessas kleines Auto in Höhe der Vorderachse. Das Lenkrad machte sich unter ihren Händen selbständig, und sie spürte, wie ihr rechtes Vorderrad tief in den kleinen Graben sank, der neben der Straße verlief.
Ihr Wagen überschlug sich, mindestens zwei Mal. Sie spürte, wie Glassplitter in ihre Gesichtshaut drangen, heftige Schmerzen ließen sie aufschreien. Sie meinte, das Brechen von Knochen zu hören, etwas Nasses rann über ihre Wange, dann hing sie kopfüber in dem kaum noch als Auto kenntlichen Blechhaufen, von zwei Seiten eingeklemmt, sodass sie sich nicht rühren konnte. Ihre freie rechte Hand tastete nach dem Verschluss des Sicherheitsgurtes, doch ihre Finger besaßen keine Kraft mehr, um den Gurt zu lösen. Sie hing fest, war gefangen in ihrem eigenen Auto.
Ein letztes Ächzen der Karosserie, dann – Stille.
Du musst hier raus, zuckte es durch ihre Gedanken. Du musst dich befreien. Du bist schwer verletzt.
Mühsam drehte sie den Kopf ein Stück zur Seite. Die Fahrertür war aus den Scharnieren gerissen worden und stand weit offen. Der Schnee, der durch den Aufprall hochgewirbelt worden war, sank langsam zu Boden. Sie spürte, wie die Kälte von außen die Wärme des Innenraums verdrängte.
Ein Knirschen.
Schritte auf dem Schnee. Da kam jemand. Gerade rechtzeitig. Ein dankbares Gefühl durchströmte sie. Sie war gerettet!
Vor dem nachtdunklen Himmel erschien ein helles Oval in der Türöffnung. Ein Gesicht. Zwei Augen, die sie anstarrten, ein brennender Blick, der sich in ihre Seele grub und den sie nie vergessen würde.
Ein halblaut ausgestoßener Fluch, Worte.
„Tut mir leid, Mädchen, aber du hast keine Chance, das zu überleben.“
Das Gesicht verschwand. Sie hörte das Knirschen von Schritten, und behielt die Erinnerung an eine Stimme, die sie ebenfalls nie vergessen würde.
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2
Vanessa Meissner schlug die Augen auf. Wo war sie?
Verwirrt drehte sie den Kopf. Sie musste die Augen wieder schließen. Das Weiß in ihrer Umgebung schmerzte. Sie zwang sich, wenigstens durch einen winzigen Spalt zu schauen. Ein Krankenzimmer?
Dann setzte die Erinnerung mit Wucht ein. Die Nacht, der Schnee, die Scheinwerfer hinter ihr, der Unfall ...
Die Augen!
Die Bilder verschoben sich, legten sich übereinander, verschmolzen zu einem Kaleidoskop unterschiedlichster Eindrücke.
„Wie geht es Ihnen?“
Nur langsam sickerte die Frage in ihr Bewusstsein. „Frau Meissner, wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen?“
Vanessa zwang sich, die Lider zu heben. Da war ein Gesicht vor ihr. Ein Gesicht mit freundlichen Augen. Ein mitleidvoller Blick. Anders als der in ihrer Erinnerung. Ganz anders. Ihr Herzschlag beruhigte sich.
Allmählich wurden aus den Konturen um sie herum reale Gegenstände. Sie lag in einem Bett, einem Krankenhausbett, war auf beiden Seiten von unbekannten Gerätschaften umgeben, hörte leises Zischen und Summen, dazwischen ein regelmäßiges Piepen. Neben ihr ein Ständer mit einem Tropf daran. In ihrer Nase steckte irgendetwas. Sie wollte die Arme heben, um zu untersuchen, worum es sich handelte, doch sie konnte sie nicht anheben. Sie waren zu schwer.
Ganz langsam gelang es ihr, die Blickrichtung zu ändern. Die Arme waren dick bandagiert, ein Gipsverband.
Eine fremde Hand geriet in ihr Blickfeld. „Sie haben sich bei dem Unfall beide Arme gebrochen“, erklärte eine fremde weibliche Stimme.
Vanessa fokussierte ihren Blick auf den Ursprung der Stimme. Da war das Gesicht wieder, das freundliche Gesicht mit den mitfühlenden Augen. Über dem Gesicht war ein eigenartiges weißes Gebilde zu sehen. Eine Kopfbedeckung?
„Ich bin Schwester Luise“, sagte die Stimme. „Wie fühlen Sie sich?“
Vanessa öffnete den Mund, doch außer einem Krächzen war nichts zu hören. Sie spürte eine Hand, die ihren Kopf hob, eine andere, die ihr ein Glas an den Mund setzte. Sie trank, und es schmeckte köstlich.
„Was ... was ... ist ... passiert?“
Es klang undeutlich, aber verständlich. Ihr Blick wurde schärfer. Sie erkannte eine ältere Frau in Schwesterntracht, eine Haube auf dem Kopf.
„Sie hatten einen Unfall. Einen schweren Unfall mit Ihrem Auto. Sie waren fast erfroren, als man Sie fand, und Sie hatten eine Menge Blut verloren. Die Ärzte haben Sie in ein künstliches Koma versetzt, und Sie mussten einige Operationen überstehen. Jetzt scheint es, als hätten Sie das Schlimmste überstanden.“
„Meine Eltern! Was ist mit meinen Eltern?“
Schwester Luise lächelte. „Sie warten draußen und freuen sich, Sie zu sehen. Ich denke, für ein paar Minuten können sie hereinkommen. Ich sage ihnen Bescheid.“
„Ich muss furchtbar aussehen“, wagte Vanessa einen Einwand.
„Das werden Ihre Eltern überhaupt nicht bemerken.“
Sekunden später beugten sich zwei vertraute Gesichter über sie. Eine Hand berührte zart ihre Wange.
„Du siehst gut aus“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter.
„Sie muss heute noch zum MRT“, sagte die Schwester.
„Was ist das?“, fragte ihre Mutter.
Vanessa wollte es schon erklären, doch es gelang ihr noch nicht, ihre Worte richtig zu artikulieren, und so war die Schwester schneller.
„Das ist der Magnetresonanztomograph. Ihre Tochter wird noch einige Zeit bei uns bleiben müssen.“
Die letzten Worte versanken wie in dicker Watte. Vanessa schloss die Augen.
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3.
Vanessa Meissner verspürte trotz der Beruhigungsmittel, die man ihr verabreicht hatte, ein Angstgefühl, das ihr wie ein lebendiges Wesen die Kehle hochkroch. Ihr Körper fühlte sich leicht an, als würde er schweben. Sie versuchte, klar zu denken, während sich ihre Benommenheit immer weiter ausbreitete.
Sie begann, die Löcher der Schallschutzplatten an der Decke des langen Ganges zu zählen, doch das war aussichtslos. Sie bewegte sich vorwärts. Nein, sie wurde vorwärtsbewegt. Sie vermochte nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war alles so unwirklich. Ihre Erinnerung bestand nur aus Bruchstücken, die sich nicht zusammensetzen ließen. Da waren nur das Kreischen von Metall, das gewaltsam zusammengepresst wurde, das Splittern von Glas – und die Schreie. Ja, die Schreie hörte sie deutlich.
Ihre eigenen Schreie!
Sie hatte im Auto gesessen. Ja, daran konnte sie sich erinnern. Es war ihr Auto, und sie war allein, unterwegs nach Hause. Wieso war sie nicht angekommen? Sie fuhr doch immer den gleichen Weg.
Der plötzliche Aufprall, der Ruck, der schmerzhaft durch ihren Körper ging. Ihr Kopf, der zu zerspringen drohte. Alles war verschwommen, wie unter Wasser. Sie schrie in einer Mischung aus Schmerz und Angst. Sie war von einem anderen Auto überholt worden, dann hatte sie die Kontrolle verloren. Oder?
Das Gesicht! Ein männliches Gesicht, deutlich älter als ihr eigenes. Wer war der Mann? Wo kam er her? Kannte sie ihn?
Ein Mund bewegte sich. Die Worte waren hörbar, aber sie verstand ihre Bedeutung nicht. Die fremden Augen blickten erst angstvoll, dann entschlossen, als wäre in diesem Augenblick eine Entscheidung gefallen. Die Augen wurden hart, der Blick wütend, als ob alles ihre Schuld wäre. Das Gesicht entfernte sich, wurde kleiner, verschwand. Da war nur noch der Himmel. Ein Ausschnitt. Ein Türrahmen? Ein paar Worte. Schritte, die sich entfernten.
Alles stand auf dem Kopf. Der Himmel war unten. Unten! Wieso war das graue Band der Straße plötzlich oben?
Es knirschte irgendwo. Ihr Körper rutschte ein Stück, wurde aufgehalten von irgendetwas, das schmerzhaft in ihre linke Schulter schnitt.
Dann wurde alles dunkel.
Die Furcht vor dem Unbekannten krampfte sich um ihr Herz. Was war geschehen? Wohin brachte man sie jetzt?
Eine körperlose Stimme flüsterte über ihrem Kopf. „Haben Sie keine Angst. Es wird alles gut. Wir haben Weihnachten. Es ist die letzte Operation am Heiligen Abend. Da geschehen oft Wunder.“
Wer war das? Und wieso war Weihnachten? Sie war doch lange vor Weihnachten nach Hause gefahren. Zu ihren Eltern. Warum waren sie hier gewesen?
Sie sah niemanden, konnte ihren Kopf nicht bewegen. Bevor sie darüber nachdenken konnte, stoppte die Liege abrupt. Sie spürte den leichten Luftzug einer sich öffnenden Tür. Ein neuer Raum empfing sie. Eine Flut von grellem Licht, andere Geräusche, Stimmen, metallisches Klappern.
Sie spürte, wie sie hochgehoben wurde, jemand zählte bis drei, dann schwebte sie erneut und sank auf eine andere Unterlage, härter als die vorige. Ein Laken wurde über ihren Körper gezogen. Sie musste blinzeln, von oben strömte grelles Licht herunter. Es waren Menschen um sie herum, in hellblaue Overalls gekleidet. Sie verstand nicht, was sie sagten.
Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihren rechten Arm. Es fühlte sich an, als ob man etwas in sie hineingestochen hätte. Dann geschah das Gleiche mit ihrem anderen Arm. Was taten diese Menschen mit ihr?
Plötzlich strömte Wärme durch ihre Adern. Sie wurde müde und schloss die Augen. Ein Kaleidoskop von Bildern wirbelte durch ihre Gedanken. Dann das entsetzliche Kreischen, das splitternde Glas, die Schreie, das Gesicht ...
Wieder eine leise Stimme über ihrem Kopf. Eine andere Stimme.
„Sie werden gleich schlafen. Es kommt alles wieder in Ordnung. Bewegen Sie Ihre Hand, wenn Sie mich verstehen.“
Die Stimme wurde immer leiser. Sie wackelte mit den Fingern, wusste aber nicht, ob es nur Einbildung war. Die Bilder in ihrem Kopf schnurrten zu einem winzigen Punkt zusammen. Stille umgab sie. Vanessa schlief langsam ein.
„Es ist so weit“, sagte der Anästhesist. „Wir können beginnen.“
Der Neurochirurg nickte. Eine Schwester zog ihm die Handschuhe straff. Er bewegte die Finger, einen nach dem anderen. Er war zufrieden.
„Subduralhämatom an der linken Kopfseite, hervorgerufen durch einen schweren Autounfall“, las er aus einer Krankenakte ab.
„Wieso wurde es erst jetzt erkannt?“
„Die Patientin hatte bisher keine diesbezüglichen Beschwerden gezeigt“, erklärte ein Assistenzarzt. „Sie hatte diverse Brüche und andere Verletzungen erlitten, die wir vorrangig behandeln mussten. Bei einer Routineaufnahme des Kopfes wurde das Hämatom schließlich entdeckt. Wir haben sofort gesehen, dass eine Operation dringend nötig wurde.“
Der Chirurg beugte sich dicht über den Kopf der Patientin, musterte die Stelle, unter der das Hämatom saß und starrte dann sekundenlang das Gesicht der jungen Frau an ...
Der Assistenzarzt hatte den Chirurgen genau beobachtet, um sofort reagieren zu können, wenn es notwendig wurde. Doch er hatte nur gesehen, dass eine Art Erschrecken über das Gesicht des Mannes huschte, soweit man das wegen der Maske überhaupt erkennen konnte.
„Herr Professor, ist etwas ...“
Der Chirurg richtete sich auf und trat zurück. „Schon gut. Zeigen Sie mir die Bilder, bitte!“
Er studierte die Röntgenaufnahmen und die Bilder der Computer-Tomographie an der Leuchttafel. „Wir brauchen ein kleines Wunder.“
Er lachte. „Dafür bin ich ja bekannt. Fangen wir an.“
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3
Vanessa Meissner fühlte sich schwerelos. Wie in Watte. Sie hörte nur ein leises Rauschen. Das Blut, das durch ihre Adern strömte?
Sie befand sich in einem endlosen hellen Tunnel, der um sie herum immer mehr von seiner Leuchtkraft verlor. Es wurde dunkler.
Das Gesicht. Da war wieder dieses Gesicht mit den Augen, die sie nie vergessen würde. Wieso tauchten sie immer wieder auf? Dieser Blick bedeutete nichts Gutes. Er machte Angst, war bösartig und gefährlich.
Sie schwebte körperlos durch den Tunnel, wollte das Licht erreichen, das ganz in der Ferne auf sie wartete. Ein sanftes, beruhigendes Licht. Doch es schien sich immer mehr von ihr zu entfernen. Verzweiflung machte sich breit. Die Distanz war nicht zu überwinden.
Doch plötzlich – wuchs vor ihr ein flammendes Gebilde empor, grelles Weiß, bläulich zuckende Feuerspitzen. Sie spürte keine Hitze, das Gebilde formte eine Art Körper aus Flammen, brodelnd, ständig die Form ändernd. Eine einzelne Flamme formte sich zu einer langen Spitze, wie ein Schwert, wie eine Lanze, die nach vorn wies, zu ihrem Ziel, dem fernen Licht, drängend und fordernd. Sie schwebte weiter durch den enger werdenden Tunnel. Das ferne Licht wurde größer, verschmolz mit der Flammenspitze. Dann waren nur noch Licht und Wärme um sie.
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4
Schwester Luise stand im Nebenraum hinter einer großen Glasscheibe. Von hier aus konnte sie die Operation verfolgen. Vanessa Meissner hatte ihr Mitgefühl in höherem Maße als sonst erweckt. Eine junge, hübsche Frau, hilflos zurückgelassen in einem Autowrack, der Verursacher des Unfalls feige geflohen. Jetzt bangte sie um das Leben der Schwerverletzten. Sie hatte genug Erfahrung mit solchen Fällen, um zu wissen, dass Vanessa immer noch in Lebensgefahr schwebte.
Ihr Blick fiel auf den kleinen Weihnachtsbaum, den die Stationsschwestern hier im Nebenraum aufgestellt und liebevoll geschmückt hatten. Ein kleiner Trost für diejenigen, die heute, am Heiligen Abend, Dienst tun mussten. Es war die letzte Operation vor den Weihnachtstagen. Die elektrischen Kerzen des kleinen Baumes spendeten warmes Licht in dem Raum, der ansonsten abgedunkelt war, damit die hier Versammelten die Operation im Nachbarraum besser verfolgen konnten.
„Was macht er da?“, hörte sie plötzlich den Stationsarzt flüstern. Er stand zwei Schritte neben ihr und unterhielt sich mit einem Assistenzarzt, der ebenfalls zum Personal der Intensivstation gehörte. Auch die beiden wollten es sich wohl nicht entgehen lassen, dem berühmten Neurochirurgen bei der Arbeit zuzusehen.
Die Antwort des zweiten Arztes konnte sie nicht verstehen. Dann wieder der Chef ihrer Station: „Das tut er doch sonst nicht. Außerdem verdeckt er jetzt die Kamera der Aufzeichnung. Sehr merkwürdig!“
Geschah dort drinnen etwas Ungewöhnliches? Schwester Luise konzentrierte sich auf das Geschehen im Operationssaal. Sie verstand zu wenig von der Chirurgie, um beurteilen zu können, was genau dort ablief. Immerhin schienen alle zu wissen, was zu tun war. Von irgendeiner Anspannung war nichts zu spüren ...
... bis plötzlich Hektik losbrach.
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5
„Wir verlieren sie“, rief der Anästhesist. „Der Blutdruck fällt rapide. Herzfrequenz sinkt!“
„Adrenalin, null Komma fünf, sofort!“, befahl der Chirurg, der gerade dabei war, die Operationswunde am Kopf zu schließen.
„Fällt weiter, Puls schwach.“
Die Mitglieder des Operationsteams starrten auf die Monitore und Messgeräte, als könnten sie mit reiner Willenskraft die Anzeigen wieder in den Normbereich bringen. Doch die Wellenlinien wurden kleiner, die Signaltöne hektischer.
„Herzstillstand!“
„Reanimieren!“ Die Stimme des Chirurgen klang ungewohnt aufgeregt. „Defibrillator, rasch.“
Einer der Assistenzärzte legte die Paddel an. „Zurücktreten. Schock!“
Die Patientin bäumte sich kurz auf. Alle blickten gebannt auf die Monitore. Keine Reaktion.
„Noch mal.“ Auch die beiden nächsten Stromstöße brachten kein Ergebnis. Aus den Wellenlinien auf den Monitoren waren durchgehende Linien geworden. Die aufgeregten akustischen Signale waren einem Dauerton gewichen.
„Wir haben sie verloren“, sagte der Chirurg bedauernd. „Es tut mir leid, aber da war nichts mehr zu machen. Kein Wunder bei den vielen schweren Verletzungen. Ihr Herz hat aufgegeben.“
Er zog seine Handschuhe aus und ließ sie achtlos in einen der Abfalleimer fallen. Er nickte in die Runde „Ihnen allen frohe Weihnachten.“ Dann war er draußen. Im Operationssaal herrschte betretene Stille, die ein paar Sekunden später durch einen kräftigen und völlig unerwarteten Signalton unterbrochen wurde.
Auf einem der Monitore entstand eine Wellenlinie, darunter eine zweite. Alle riefen durcheinander.
„Stabilisieren!“, rief der Anästhesist.
Vanessa Meissner atmete ruhig, als sei nichts geschehen.
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6
„Sie sehen gut aus“, sagte Schwester Luise und tätschelte Vanessas Hand. Die Patientin schien von einem inneren Strahlen erfüllt. „Niemand hat damit gerechnet, dass Sie sich so schnell erholen. Es ist ein wahres Wunder.“
„Danke, dass Sie den Kriminalbeamten so schnell herholen konnten. Ich konnte mich an alles erinnern, was geschehen ist, und ich habe ihm alles erzählt. Ich denke, er hat mir geglaubt.“
„Sie konnten sich genau an Ihren Unfall erinnern?“, fragte die Schwester ungläubig.
„Ja, an alle Einzelheiten. Ich habe alles wieder vor mir gesehen. Die Fahrt nach Hause, die einsame Straße, die Dunkelheit und den Schnee. Dann kam der Wagen, der mich überholte, streifte mich, und ich überschlug mich. Ich erinnere mich an die Schmerzen, das Blut, das über mein Gesicht lief, die Hilflosigkeit ... und dann ...“
Vanessas Stimme wurde schwächer, eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn.
„Was geschah dann?“
„Der Polizist wollte es auch nicht glauben, doch ich habe den Mann erkannt, der mich angefahren hat. Ich habe ihn wiedergesehen.“
„Wo haben Sie ihn denn gesehen?“, wunderte sich Schwester Luise.
In Vanessas Augen lag ein fast fröhlicher Ausdruck. „Hier, im Krankenhaus.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja, der Polizist bat mich, zunächst alles für mich zu behalten. Er würde das Notwendige in die Wege leiten.“
„Ich verstehe ... also jemand vom Personal ... oder von den Ärzten?“ Schwester Luise wirkte einigermaßen ratlos. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass jemand aus ihrer unmittelbaren Umgebung für Vanessas Zustand verantwortlich sein könnte.
„Der Ton!“, rief die Patientin plötzlich. „Schalten Sie den Ton ein.“ Es klang sehr aufgeregt und schien Vanessa sehr mitzunehmen.
Schwester Luise fuhr herum und blickte auf den Fernseher an der Wand. Das Bild lief, der Ton war abgeschaltet. Sie griff zur Fernbedienung.
„Heute Morgen“, erklärte ein Reporter und wies mit der Hand hinter sich auf eine protzige Villa, während er in sein Mikrofon sprach, „wurde der bekannte Hirnchirurg Professor Thomas P. verhaftet. Ihm werden Fahrerflucht und weitere schwerwiegende Delikte vorgeworfen, zu denen die Staatsanwaltschaft später in einer Pressekonferenz Stellung nehmen wird.“
Luise hörte dem Reporter nicht weiter zu, sondern sah entsetzt, wie der Chirurg, der Vanessa operiert hatte, umgeben von Polizeibeamten, aus seinem Haus geführt wurde. In Anbetracht der Prominenz des Beschuldigten, war der Termin seiner Verhaftung offenbar durchgesickert, sodass TV-Kameras und Fotoreporter rechtzeitig vor Ort sein konnten.
Schwester Luise war sprachlos und erinnerte sich dunkel an die Worte ihres Stationsarztes: Was macht er da?
„Licht“, flüsterte Vanessa Meissner. Schwester Luise drehte sich zu ihr um.
„Da ist das Licht.“
Vanessas Kopf fiel zur Seite, und schlagartig wurden sämtlich Wellen- und Zackenlinien auf den Monitoren zu durchgehenden Strichen. Unterschiedliche Warntöne erklangen. Die Schwester wurde hektisch, prüfte die Lebensfunktionen der Patientin, versuchte es mit Herzmassage. Ein Arzt kam herein, gefolgt von zwei weiteren Schwestern. Alles wurde versucht. Defibrillator, eine Adrenalinspritze direkt ins Herz, weitere Medikamente, Beatmung – nichts half. Nach einer Viertelstunde wurden die Bemühungen eingestellt.
Vanessa Meissner war tot. Auf ihrem Gesicht lag ein zufriedener Ausdruck.
Schwester Luise kannte den Arzt nur vom Sehen, der heute den Stationsarzt vertrat. Er untersuchte die Verstorbene und wandte sich dann an Luise.
„Sie sind sicher, dass diese Frau eben erst verstorben ist?“
„Ja, natürlich, ich war doch dabei. Außerdem werden die Instrumente es bestätigen.“
„Das ist schon sehr merkwürdig“, sagte der Arzt leise. „Nach allen medizinischen Anzeichen ist die Verstorbene schon länger tot als nur ein paar Minuten.“
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ENDE