Читать книгу das Schicksal von Azura - Kevin Johann Wundersam - Страница 10
ОглавлениеKAPITEL 3
Austausch von Gefälligkeiten
Clays Ziel war eine Stadt, in der er noch nie gewesen war, auf einer Insel, die er nicht kannte – und an die hier herrschenden Gepflogenheiten wollte er gar nicht erst denken. So gesehen fühlte er sich vom Unglück verfolgt. Er legte den Rest des Weges nach Rukastatt alleine zurück, indem er einem schmalen Pfad außerhalb des Waldes folgte. Am frühen Nachmittag, nach dem Verzehr einiger Stücke trockenen Brotes, erreichte er die Stadt schließlich. Ihr Anblick verschlug dem sechzehnjährigen Abenteurer die Sprache.
Da er schon andere Inseln besucht hatte, waren Clay verschiedenste Arten von Hütten und Schuppen bekannt – was ihn aber an Rukastatt so beeindruckte oder vielleicht auch verschreckte, war die bemerkenswert große Anzahl der Gebäude. Eine hohe steinerne Mauer umgab die vielen aneinandergereihten Behausungen, welche vorwiegend aus Holz bestanden. Zwischen ihnen gab es Gassen, die so eng waren, dass sie den ganzen Tag über im Schatten lagen. Eine Häuserreihe nach der anderen türmte sich vor Clay auf, so weit das Auge reichte.
Erst auf den zweiten Blick wurde ihm klar, dass Rukastatt nicht nur aufgrund der zusammengepressten Behausungen abschreckend aussah, denn die Stadt schien im Grunde nichts weiter als eine einzige Müllhalde zu sein. Clay hatte erwartet, dass die Städte des Inselringes aufgrund ihrer Nähe zu Utopia schön und sauber wären, doch das Gegenteil war der Fall. Die schmalen Straßen quollen über vor Dreck, überall lag verschmutzte Kleidung und verdorbene Nahrung herum, und die Bewohner, die sich im Schatten ihrer Buden aufhielten, sahen blass und abgemagert aus, fast so als hätten sie schlimme Krankheiten.
Als Clay die Stadt betrat und das Tor der hohen Mauer hinter sich ließ, fiel sein Blick auf einen Mann mit halb heruntergelassener Hose, der sich hinter eine dralle Frau in einem kaum einsehbaren Garten gestellt hatte. Das nackte Gesäß jener Frau wackelte jedes Mal, wenn der plumpe Mann heftig zustieß, und ihre massigen Beine zuckten unkontrolliert.
Kaum hatte sich der junge Astrum von diesem verstörenden Anblick losgerissen, kamen zwei kleine Mädchen auf ihn zugelaufen. Sie waren kaum älter als fünf Jahre und ausschließlich mit fleckigen Tüchern bedeckt. Ihre Haut wirkte trocken, beinahe schon rissig, und ihre fahlen Gesichter schienen schon lange kein sauberes Wasser mehr gesehen zu haben.
Wie bettelnde Tiere drängten sich die beiden Kinder an Clay und baten ihn um Essen. Dieser griff nach dem Rest des Brotlaibes in seiner Tasche und riss zwei kleine Brocken davon herunter. Als er den Mädchen die Stücke vor die Nase hielt, schnappten sie augenblicklich danach und liefen, ohne sich zu bedanken, sofort davon.
Clay kannte Armut. Die ihm vertrauten Bauern und Hirten auf Maradonien hatten nicht sehr viele Habseligkeiten, und die Bewohner einiger anderer Inseln, die er im Laufe seines Lebens besucht hatte, besaßen noch weitaus weniger – doch hier in Rukastatt erfuhr er, wie Armut in Verbindung mit Angst aussah.
Marin schien die Wahrheit gesagt zu haben, denn überall spürte man den Einfluss des Mannes mit dem Namen Mandar. Seine Schergen, die Clay daran erkannte, dass sie dieselbe Art von Kleidung wie die Verfolger vom Vortag trugen, lungerten beinahe an jeder Ecke. Sie beobachteten nicht nur die Bewohner der Stadt, sondern musterten auch Clay sehr genau, da er ein Neuankömmling war; und Neuankömmlinge bedeuteten üblicherweise Ärger.
Doch der junge Blondschopf verhielt sich ruhig und unauffällig, und so war er bald ohne weitere Zwischenfälle bis in das Zentrum von Rukastatt gelangt. Dort befand sich ein großer Platz mitsamt steinernem Brunnen, der verhältnismäßig reich verziert war. Viele Menschen hielten sich in der Nähe dieses Brunnens auf und erfreuten sich an seinem kühlen, wenngleich nicht sehr klarem, Wasser.
Hinter dem Platz begann die andere Hälfte der Stadt. Die Gebäude dort waren größer und sahen weniger beschädigt aus; auch die Straßen wirkten nicht ganz so stark verdreckt. Ein altes Schild über einer großen Tür zu seiner Rechten verriet Clay, dass er eine Herberge gefunden hatte.
Als er in seine Hosentaschen greifen wollte und bemerkte, dass es nicht sein eigenes Kleidungsstück war, kam ihm ein erschreckender Gedanke in den Sinn. Er grübelte kurz und biss sich dann verärgert auf die Unterlippe. Seine Befürchtung bewahrheitete sich – all das Geld, welches er für die Reise gespart hatte, befand sich nun vermutlich in den Tiefen des Meeres, denn seit dem Schiffsunglück hatte er seinen Geldbeutel nicht mehr gesehen.
Mit mulmigem Gefühl trat Clay auf die Herberge zu und stieß die Tür auf. Nicht viel von dem grellen Licht der Nachmittagssonne drang durch die kleinen Fenster in das Innere des Gebäudes. Zahlreiche unbesetzte Tische und Stühle standen im offenen Raum verteilt. An der gegenüberliegenden Wand gab es eine Theke, hinter der ein dünner Mann mit dezentem Oberlippenbart und überraschend feiner Kleidung stand.
»Kann ich dir helfen?«, fragte der Mann mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Falls es hier einen Koch gibt«, begann Clay peinlich berührt, »würde ich gerne etwas Fisch essen. Ich kann nicht bezahlen, aber ich kann Euch aushelfen.«
Der bärtige Mann schüttelte wild den Kopf.
»Nein, wir benötigen keine Aushilfe. Wir kümmern uns nur um zahlende Kundschaft.«
Plötzlich fiel etwas auf die Theke. Clay und der bärtige Mann schraken zurück, als der Gegenstand mit einem lauten Knall auf der Holzplatte aufschlug. Es handelte sich um einen dicken Beutel, aus dem einige Münzen herauskullerten.
»Bei Azuras Gnade, jetzt tischt dem hungrigen Jungen einen Fisch auf, und mir ebenso«, hörte Clay eine raue Stimme sagen.
Eine Gestalt war eingetreten. Sie war in einen langen dunkelgrauen Mantel gehüllt, und ihre Füße steckten in Stiefeln, die bei jedem ihrer Schritte ein klackendes Geräusch von sich gaben. Als die Gestalt den Hut mit der großen Krempe, den sie tief in das Gesicht gezogen hatte, nach oben drückte, blickte Clay in das Antlitz eines attraktiven jungen Mannes.
Es war ein markantes und freundliches Gesicht. Das Kinn dieses neuen Gastes war ausgeprägt und mit Bartstoppeln übersät. Zwischen den leuchtend grauen Augen mit buschigen Brauen saß eine spitze Nase.
Mit einer Handbewegung bedeutete der junge Mann Clay, dass er sich hinsetzen sollte. Sobald dieser auf einem der Stühle an der Theke Platz genommen hatte, ließ sich der eben eingetretene Gast unmittelbar neben ihm nieder. Während der fein gekleidete Oberlippenbartträger in einem anderen Zimmer verschwand, um dem Koch die Bestellung von zwei Fischgerichten mitzuteilen, flüsterte der Neuankömmling seinem Sitznachbar einige Worte zu.
»Iss den Fisch auf, dann folge mir! Kein Wort!«
Obwohl ihm dabei alles andere als wohl war, beschloss Clay, diesem jungen Mann vorerst zu vertrauen, und nickte. Nachdem der Fisch serviert wurde, begannen beide Gäste zu essen. Obwohl der gestrandete Astrum hungrig war und sich einen Happen nach dem anderen in den Mund stopfte, war der junge Mantelträger an seiner Seite sehr viel schneller. Schon bald schob dieser seinen leeren Teller beiseite und verließ die Herberge wortlos.
Zunächst wartete Clay noch einige Augenblicke, dann steckte er sich ein letztes Stück des etwas eigenartig schmeckenden Fisches zwischen die Zähne und verließ die Herberge ebenfalls. Auf dem Platz vor dem Gebäude blickte er sich ratlos um und sah gerade noch den Zipfel eines grauen Mantels in einer Gasse verschwinden. Eilig, aber immer noch mit etwas mulmigem Gefühl, lief er der mysteriösen Gestalt hinterher.
In dem Moment, in dem er einen Fuß in jene Gasse setzte, wurde er herumgewirbelt und gegen eine Häuserwand gedrängt. Der Arm des jungen Mannes aus der Herberge drückte fest auf seinen Hals und hielt ihn gefangen.
»Was soll das?«, röchelte Clay. Er strampelte wild mit den Beinen und versuchte seinen Angreifer zu schlagen, doch dieser wich ohne große Mühe aus und verstärkte seinen Griff, sodass Clay schließlich nachgeben musste.
»Pscht«, machte der Fremde mit der spitzen Nase. »Leise. Versprichst du mir, dass du keinen Laut machst, wenn ich dich loslasse?«
Clay nickte heftig. Der Griff des Mantelträgers löste sich zögernd.
Lange sahen sich die beiden jungen Männer in die Augen. Clay sagte kein Wort, doch auch sein gutaussehendes Gegenüber gab nichts von sich. Bis auf sie beide befand sich niemand in der düsteren Gasse.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Clay schließlich. »Was willst du von mir?«
»Ich will nichts von dir«, antwortete der junge Mann und zog ein Stück Papier aus einer seiner vielen Manteltaschen. »Aber andere. Siehst du, was hier steht? ›Haltet alle eure Augen offen und nach einem Neuankömmling Ausschau. Zerzaustes blondes Haar, blaue Augen, von recht großer Statur. Hat dem Mädchen der alten Ettie bei der Flucht geholfen. Sofortige Festnahme.‹«
»Die Rede ist nicht von mir«, murmelte Clay.
Der junge Mann mit den grauen Augen legte seinen Kopf auf die Seite und hob die Brauen.
»Nun gut, ich glaube, damit könnte ich gemeint sein«, gab Clay zu.
»Eben. Du lebst ziemlich gefährlich. Komm erst einmal mit mir, ich helfe dir.«
Der junge Mann mit Mantel und Hut schaffte Clay unerkannt aus Rukastatt heraus. Zusammen stiegen sie die Hügel hinter der Stadt hoch. Von hier aus konnte man nicht nur ganz Rukastatt überblicken, sondern auch die Ebenen, die der Astrum nach seiner missglückten Ankunft durchquert hatte, sowie das Meer auf der gegenüberliegenden Seite, welches Pandra von den Inseln Utopias trennte.
Clays neuer Begleiter schlenderte unbeschwert durch das hohe Gras der Hügel. Er schnappte sich einen auf dem Boden liegenden Ast und schlug damit gegen jeden Felsen oder Baumstamm, der seinen Weg kreuzte, etwa so wie es kleine Kinder zu tun pflegten. Nach einer Weile ließ er sich rückwärts in die mit bunten Blumen übersäte Wiese plumpsen und seufzte.
Während des Fußmarsches hatte sich Clay Gedanken über seine Reise gemacht. Obwohl er geplant hatte, als Unbekannter zu reisen und nicht aufzufallen, hatte er sich nun bereits auf der ersten Insel, die er erreicht hatte, Probleme aufgehalst. Eine Bande von Verbrechern, die einem Mann namens Mandar die Treue schworen, war hinter ihm her – in diese Schwierigkeiten hatte ihn dieses Mädchen, Marin, gebracht. Und wer war nun dieser mysteriöse Bursche mit dem Stoppelbart, der ihn aus der Stadt geführt hatte?
»Soso«, witzelte dieser nun und bot seinem Begleiter einen Platz neben sich an, »erst einen Tag in der Stadt, und schon ist der fieseste Typ hinter dir her. Nicht schlecht, würde ich meinen.«
»Nicht schlecht?«, wiederholte Clay mit nervöser Stimme. »Ich wollte niemandem Probleme bereiten, und schon gar nicht mir selbst. Du hast gesagt, du willst mir helfen. Wer bist du eigentlich?«
Plötzlich sprang der junge Mann auf und nahm seinen Hut ab. Eine hohe Stirn und gepflegtes braunes Haar kamen zum Vorschein. Mit einer tiefen Verbeugung stellte sich Clays Gegenüber vor.
»Ich bin Jeff, der Meisterdieb!«
Clay riss die Augen auf. Er machte einen Schritt zurück und fuchtelte wild mit den Händen.
»Ein Dieb? Das … gut, ich will nicht mit dir gesehen werden. Du machst mir bestimmt noch mehr Ärger.«
Jeff lachte laut und beherzt. Schnell trat er auf Clay zu und klopfte ihm auf die Schulter.
»Keine Angst, mein Freund. Niemand in Rukastatt weiß, wer hinter den ganzen Diebstählen steckt, die ich verübt habe. Ich meine, Mandar hat ein Auge auf mir, aber er wird mich nie erwischen. Und wie ist dein Name, der du ebenfalls ein Gesuchter bist?«
»Mein Name ist Clay. Und ich bin nicht dein Freund. Ich habe nichts weiter vor, als nach Utopia zu segeln.«
»Hast du denn Geld?«, fragte Jeff verblüfft, der nun große Augen machte.
Sein vom Unglück verfolgtes Gegenüber schüttelte den Kopf und erhielt prompt dieselbe Art von Antwort, die es auch von Marin erhalten hatte.
»Viel Glück, Clay. Du bist schneller tot als du ›Verschont mich!‹ sagen kannst, wenn du kein Geld für die Überfahrt hast.«
Ein Windstoß kam auf und riss Jeff fast den breiten Hut aus der Hand. Mit einer geschickten Bewegung ließ er ihn wieder auf seinen Kopf sinken. Danach steckte er seine Hände in die Manteltaschen und ließ sich erneut in das Gras fallen.
»Warum werden die Grenzen Utopias so gut bewacht?«, fragte Clay sein schmunzelndes Gegenüber, das die Wolken am Himmel musterte.
»Weil es ein Paradies ist«, antwortete Jeff. »Die Menschen sind reich, die Straßen sind sauber, die Luft riecht so süß wie die Haut einer jungen Dame. Natürlich werden die Menschen in Utopia von den Novae kontrolliert, doch solange sie artig sind und nach den Regeln spielen, geht es ihnen gut. Stell dir vor, was passieren würde, wenn arme oder kranke Menschen wie jene in Pandra nach Utopia segeln könnten. Chaos würde ausbrechen. Nein, die Novae schützen ihr Revier wie ein hundertköpfiger Wachhund.«
Enttäuscht senkte Clay den Kopf. Damit war sein Plan gescheitert. Die Reise, die er eben erst angetreten hatte, war schneller beendet, als er es sich gedacht hatte. Doch plötzlich machte ihm Jeff einen Vorschlag.
»Hör zu, mein Freund. Ich sehe, dass du unbedingt nach Utopia willst. Ich kann dir helfen. Doch zuerst wirst du mir helfen. Wir brechen einfach in das Anwesen eines Aristokraten ein und stehlen etwas, das mir sehr wichtig ist. Danach bringe ich dich nach Utopia.«
»Nein!«, sagte Clay entschieden. »Ich werde nichts stehlen! Und ich bin auch nicht dein Freund.«
»Dann sieh zu, wie du überlebst«, meinte Jeff grinsend. »Alle Schiffe auf dieser Insel werden von Mandars Leuten überprüft – alle, bis auf jene, die nach Utopia segeln. Dort wirst du allerdings von Novae erwartet. So oder so, jemand wird dich finden und einen Kopf kürzer machen.«
Clay schluckte. Er seufzte und blickte in die Ferne, wo sich einige Bäume dem starken Wind ergaben und ihre Wipfel neigten. In Gedanken sah er seine Zieheltern Shoshan und Erik, denen er versprochen hatte, heil und unbeschadet zurückzukehren.
»Ich habe wohl keine andere Wahl.«
»Stimmt, die hast du nicht.«
Nachdem Clay eingewilligt hatte, Jeff bei einem Einbruch zu helfen, waren die beiden sofort aufgebrochen. In der Nähe des Strandes, weit hinter Rukastatt, befanden sich prächtige Gebäude, die aufgrund ihrer vielen Stockwerke schon von weitem zu sehen waren und darauf schließen ließen, dass ihre Bewohner sehr wohlhabend waren.
Jeff erzählte seinem neuen Begleiter, dass es sich bei diesen Bewohnern um Aristokraten Utopias handelte, welche hin und wieder nach Pandra segelten, um sich dort von ihren mühsamen Tätigkeiten zu erholen. Denn im Gegensatz zu Rukastatt und anderen Orten auf Pandra war der Strand auf dieser Seite der Insel wunderhübsch und somit ein idealer Ort, um sich entspannen zu können.
»Aristokraten?«, wiederholte Clay unwissend.
»Wichtige Personen«, erklärte Jeff knapp.
»So etwas wie Dorfälteste?«
Plötzlich begann der charmante Dieb zu lachen.
»Dorfälteste? Wo lebst du denn, mein Freund? Nun gut, man kann es damit vergleichen. In den Städten Utopias gibt es viele Aristokraten. Sie kümmern sich um den Handel, die Finanzen, die Regierung – um alles Wichtige eben. Dabei handelt es sich um die Reichsten der Reichen. Es gibt etwa zweihundert Aristokraten.«
»Zweihundert?«, fragte Clay verblüfft. »Auf meiner Heimatinsel Maradonien leben nicht einmal so viele Menschen. Und wie gesagt, ich bin nicht dein Freund.«
»Wirklich nicht? Mein Freund, du wirst Augen machen, wenn du Utopia siehst. Jedenfalls sind diese Aristokraten üble Leute. Sie arbeiten mit den Novae zusammen und sind so etwas wie ihr Werkzeug – ihre Handlanger. Im Grunde nehmen sie den Novae die Drecksarbeit ab. Jeder, der den Aristokraten nicht passt, wird aus dem Weg geschafft. Sie sind es auch, die über die Menschen in Rukastatt bestimmen.«
»Nicht dein Freund. Also ist Mandar ein Aristokrat?«
»Nein«, meinte Jeff kopfschüttelnd. »Er wird von den Aristokraten bezahlt, damit er die Menschen Pandras unterdrückt. Somit bleiben die Bewohner Rukastatts arm und krank, was den Novae natürlich recht ist – einerseits wird so verhindert, dass Menschen außerhalb Utopias in das Paradies gelangen, und andererseits schaffen sie so die idealen Grundbedingungen für die Übernahme Pandras, denn jeder Mensch in Rukastatt sehnt den Tag herbei, an dem die Novae die Grenzen Utopias ausweiten. Du siehst ja, wie die Stadt ist, ein Pfuhl voller Gewalt, Prostitution, Erpressung, Betrug. Und so wollen es die Novae haben. Mein ganzes Leben lang, volle siebzehn Jahre, habe ich gelernt, die Aristokraten aufgrund ihrer niederträchtigen Taten zu hassen.«
Clay brummte der Kopf. Innerhalb weniger Tage hatte er mehr über die Welt jenseits seiner Heimat Maradonien gelernt als in seinem gesamten bisherigen Leben. Er war froh, dass er seine Jugend auf einer Insel hatte verbringen können, die weit von Utopia und dem Inselring entfernt lag. So hatte er nicht zu einem Dieb wie Jeff werden müssen, und er war auch nicht einem schrecklichen Schicksal wie dem von Marin ausgesetzt gewesen.
»Wir sind da«, unterbrach Jeff Clays Gedankengang.
Die Nacht war bereits angebrochen. Hinter den beiden jungen Gefährten ging die Sonne unter, und ihre letzten Strahlen färbten den Sternenhimmel violett. Der Strand glitzerte und war ungleich schöner als jener, auf dem Clay nach dem Schiffsunglück aufgewacht war. Jeff klopfte ihm auf die Schulter und deutete nach links, wo ihr Ziel erschienen war.
Vor ihnen befanden sich die prächtigen Anwesen der Aristokraten, an deren Wänden Efeuranken hochkletterten. An den Fassaden prangten zahlreiche hohe Fenster sowie reich verzierte Kunstwerke wie Tierköpfe aus Stein, und in der Nähe der Eingangsportale standen Statuen, die stolz aussehende Menschen in schicken Kleidern zeigten. Solch majestätische Gebäude hatte Clay noch nie gesehen.
Jeff lief geduckt hinter einer Reihe hoher Hecken, welche das Grundstück mit den prunkvollen Gebäuden umrandeten, und sein unfreiwilliger Helfer folgte ihm. Schon bald waren die beiden an der Rückseite der Anwesen angelangt. Auch hier gab es große Fenster, doch die Räume waren nicht beleuchtet. Über Clays und Jeffs Köpfen ragte ein Balkon aus der Steinmauer.
»Steig auf meine Schultern«, flüsterte Jeff. Er positionierte sich breitbeinig unter dem Balkon und ließ Clay auf ihn klettern. Nachdem dieser aufgrund von Jeffs unsicherem Stand zwei Mal danebengegriffen hatte, schlossen sich seine Finger schließlich doch um ein kegelförmiges Element des stabilen Geländers.
Mühsam zog sich Clay daran hoch, danach reichte er Jeff seinen Arm und hievte ihn nach oben. Als sich beide junge Männer auf dem Balkon befanden, schnauften sie wild.
»Du bist schwer«, keuchte der Dieb mit der Abneigung gegen Aristokraten.
»Nicht nur ich«, entgegnete sein blonder Begleiter.
Jeff lachte und machte eine etwas abwertende Geste. Dann ging er auf eine der Balkontüren zu.
»Sie ist offen«, flüsterte er erregt. »Ich glaube es nicht. Ansonsten passiert mir das nie. Du musst ein Glücksbringer sein, mein Freund.«
»Bin nicht dein Freund.«
Tatsächlich stand die Tür einen Spalt breit offen. Mit ernstem Gesicht und gesenkter Stimme erklärte Jeff, dass sie sich aus gerade diesem Grund beeilen mussten, denn jemand könnte kommen und sie bemerken. Clay nickte, und schon stiegen die beiden jungen Männer in das Innere des Gebäudes.
Der Raum, in den sie gelangt waren, war bis auf einen Tisch in der Mitte und einige klobige Stühle, die in den Ecken standen, leer. Es schien sich um eine Art Besprechungssaal zu handeln, denn auf der breiten Tischplatte lagen zahlreiche Dokumente verstreut. Nur zu gerne hätte Clay einen Blick darauf geworfen, doch er war sich nicht sicher, ob er viel von Finanzen und ähnlichen Themen verstehen würde.
Sofort eilte Jeff in den angrenzenden Korridor. Anscheinend schien sich der Dieb im Anwesen auszukennen. Man konnte sogar meinen, er würde beinahe jeden Tag durch die großen und mit allen möglichen teuren Gegenständen eingerichteten Räume wandern, so zielsicher bewegte er sich durch die finsteren und verwinkelten Gänge.
Es dauerte nicht lange, bis Clay und Jeff an eine verschlossene Tür gelangten. Der charmante Mantelträger kniete sich nieder und beschäftigte sich mit dem Schloss – nur wenige Atemzüge später ertönte ein klickendes Geräusch, und die Tür schwang auf.
Im Raum dahinter verbarg sich eine Sammlung von Schätzen. Clay stand mit offenem Mund im Halbdunkel des Zimmers und begutachtete die an der Wand hängenden Gemälde mit den dicken goldenen Rahmen sowie die mit Edelsteinen besetzten Krüge und Vasen, die auf den verschiedenen Tischen und Truhen ruhten. Er hatte wahrlich noch nie so viele wertvolle Gegenstände an einem Ort versammelt gesehen.
Während Jeff sich auf die Suche nach seinem Diebesgut machte, begutachtete sein faszinierter Begleiter eine Vase, in der sich wunderhübsche Blumen befanden. Als er sie mit seinem Finger berührte, erschrak er.
Die gläserne Vase fiel von dem Regal und zersplitterte am Boden. Obwohl das Geräusch durch den dünnen Teppich etwas abgedämpft wurde, erntete Clay einen grimmigen Blick von seinem Gefährten. Dass sich das Wasser in der Vase in Eis verwandelt hatte, als er die Blüten berührt hatte, verschwieg er dem Dieb.
Jeff ließ seinen Blick erneut durch den Raum schweifen und fand schließlich, wonach er suchte. Mit einer einzigen Bewegung ließ er eine kleine silberne Dose in die Tasche seines Mantels fallen, dann drehte er sich um und zeigte auf die Tür.
»Das war es?«, flüsterte Clay aufgebracht, als Jeff und er den Gang zurückliefen. »Diese mickrige Dose hast du unter all diesen Kostbarkeiten gewählt?«
»Ja, und jetzt pass auf, wo du hintrittst«, mahnte Jeff. »Es ist ganz schön dunkel hier, und du so–«
Der linke Fuß des Diebes trat in die Leere, und sein Körper kippte vornüber. Er schrie auf und überschlug sich mehrmals, bis er am Fuß der Treppe, die er soeben hinuntergestürzt war, liegen blieb. Sein Gesicht, das eher erschrocken als schmerzerfüllt wirkte, starrte zu Clay hoch, der noch immer im oberen Stockwerk stand und die Augen panisch aufgerissen hatte.
»Ach, Mist«, flüsterte Jeff lachend. »Lauf!«
Der Astrum sprang die Stufen hinab, und als er unten angekommen war, hatte sich Jeff bereits aufgerappelt. Zusammen rannten sie einen weiteren dunklen Gang entlang, als plötzlich Stimmen von überall im gesamten Gebäude ertönten.
»Jetzt aber schnell!«, meinte Jeff grinsend. Er rammte eine Tür auf der linken Seite, die sofort aufflog, sehr zum Entsetzen der halbnackten Kammerzofe, die sich dahinter gerade das Schlafgewand überstreifte. Mit einigen wenigen Schritten hatte Jeff, eine halbernste Entschuldigung ausstoßend, das kleine Zimmer durchquert. Gleichzeitig mit Clay sprang er ab, die Arme schützend vor das Gesicht erhoben.
Ein lautes Klirren ertönte, die Scheibe des Fensters zersprang, und hunderte Glassplitter flogen in alle Richtungen. Die beiden jungen Männer segelten durch die Luft und landeten dann unsanft auf dem Erdboden.
Es blieb keine Zeit, um sich auszuruhen. Jeff presste seine rechte Hand auf den Hut, sodass er nicht davonflatterte, und stürmte anschließend davon. Clay war ihm dicht auf den Fersen. Als er sich nach einigen Schritten umdrehte, sah er, dass im gesamten Anwesen Licht angegangen war.
»War das nicht genial?«, sagte Jeff immer wieder. Er hatte ein breites Grinsen aufgesetzt und schlenderte vergnügt durch die dunklen Straßen Rukastatts. Obwohl sich Clay eingestehen musste, dass auch er sich aufgeregt und belebt fühlte, machte er dem Dieb klar, dass er nie wieder etwas stehlen und sich solcher Gefahr aussetzen würde.
Nach einer Weile waren die beiden im Stadtteil der Armen angelangt. Jeff blieb vor einer alten Hütte stehen und klopfte sacht an deren hölzerne Tür.
Einige Momente lang geschah nichts, dann wurde die Tür geöffnet, und Clay sah in das Gesicht jenes Mädchens, das er am Vortag getroffen hatte. Dessen Haare standen in alle Richtungen ab, und es trug ein ausgeblichenes Nachthemd sowie kurze schmutzige Hosen. Die nackten Beine wiesen zahlreiche Flecken und Narben auf.
»Marin?«
»Ah, ich dachte mir schon, dass ihr euch kennt«, lachte Jeff. »Immerhin habe ich die Nachricht von Mandar gelesen, und es gibt nun einmal nur eine einzige Ettie in Rukastatt. Sag deiner Mutter, sie soll nächstes Mal gut aufpassen und zwei Münzen bereithalten.«
Mit diesen Worten überreichte Jeff dem fünfzehnjährigen Mädchen die silberne Dose, welche er aus dem Anwesen der Aristokraten entwendet hatte. Marin bekam große Augen und strahlte über das ganze Gesicht, was heißen musste, dass der Gegenstand eine große emotionale Bedeutung für sie hatte. Sie sprang auf Jeff zu und umarmte ihn.
»Danke, Schatten, vielen Dank!«
Clay sah Jeff fragend an.
»Die Menschen hier nennen mich Schatten«, antwortete der Dieb grinsend und befreite sich aus Marins Umarmung. Er strich dem Mädchen über die Wange und schubste sie dann sanft in die Hütte hinein.
»Pass gut auf dich auf.«
»Das mache ich«, versprach Marin lächelnd. »Danke, Clay und Schatten!«
Die Tür fiel in das Schloss, und plötzlich breitete sich ein Schweigen aus. Mit kleinen Schritten gingen die beiden vom Schicksal zusammengeführten jugendlichen Männer die Straße entlang. Ihr Ziel war der Hafen, in dem am nächsten Morgen ein Schiff nach Utopia ablegen würde. Weder Clay noch Jeff wollten das unangenehme Schweigen brechen, bis der Astrum schließlich nachgab.
»Ich habe dich für einen üblen Kerl gehalten«, gab er zu. »Doch auch wenn du dich einen Dieb nennst, bist du doch ein gütiger – und etwas ungeschickter – Mensch.«
»Danke, mein Freund«, sagte Jeff lächelnd. »Hast du die Wunden an den Füßen des Mädchens gesehen?«
Clay nickte.
»Das waren Mandars Leute«, erklärte sein Begleiter, dessen Lächeln plötzlich aus seinem Gesicht verschwand. »Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich so bald wie möglich einen Weg finden werde, um sowohl Mandar als auch diesem nichtsnutzigen Aristokraten-Abschaum ihrer Macht zu berauben. Nie wieder wird ein hübsches Mädchen wie Marin leiden müssen.«
Ihre Füße baumelten über dem Wasser, als die beiden jungen Männer im Hafen warteten, bis die Sonne wieder aufging. Sie hatten über Utopia und Clays Heimat Maradonien gesprochen, über die Bewohner Rukastatts und über die Novae. Immer wieder ließ Jeff hören, wie sehr er die Aristokraten hasste. Als schließlich der nächste Tag anbrach, war der Zeitpunkt gekommen, an dem das Schiff nach Utopia auslief.
Laut Jeffs Erklärungen war das Schiff voll mit Getreide und Gemüse, das die Bauern Pandras angebaut hatten und dazu bestimmt war, in den gierigen Rachen der reichen Menschen Utopias zu landen.
Ein muskulöser Hüne stand auf dem Pier und überprüfte jene Leute, die auf das Schiff wollten. Als Clay und sein neuer Freund auf den Hünen zutraten, zog Jeff einen Bogen Papier aus seiner Manteltasche.
»Zwei Passagiere, nach Utopia«, sagte der Dieb laut, als er dem Hünen das Papier zeigte. Der Hüne streckte seinen Kopf nach vorne, las, was auf dem Dokument geschrieben stand, und nickte schließlich. Jeff ging an dem muskelbepackten Mann vorbei und zog seinen neuen Freund mit sich.
»Das war alles?«, fragte Clay unglaubwürdig. »So einfach kommt man nach Utopia? Wie hast du das gemacht? Was steht auf dem Papier?«
Jeff sah Clay auf eine äußerst melancholische Art und Weise an.
»Dieses Dokument bezeugt, dass ich Aristokrat bin.«