Читать книгу das Schicksal von Azura - Kevin Johann Wundersam - Страница 8
ОглавлениеKAPITEL 1
das endlose Reich
Xin schreckte hoch. Er war eingenickt, als er sich ein letztes Mal auf dem höchsten Punkt der Insel entspannt hatte. Dies war sein Lieblingsplatz, denn von dem großen Felsen auf der beeindruckenden Hügellandschaft aus konnte man die gesamte Umgebung überblicken.
Von den Feldern am Plateau, auf denen die emsigen Bauern ihre Schafe hüteten, über das kleine Dorf in der Nähe des Strandes, bis hin zur natürlichen Steinbrücke, welche die beiden Landmassen verband und zu einer einzigen Insel namens Maradonien zusammenfügte, befand sich alles Vertraute im Blickfeld des Jungen. Dies war Xins Heimat, und wie an jedem anderen Tag war er auch heute zu diesem besonderen Ort auf den Hügeln gekommen, um unbeschwerten Gedanken nachzuhängen.
»Clay!«
Wieder ertönte die Stimme, die ihn aus seinen Träumen gerissen hatte. Sie gehörte einer Frau mittleren Alters, welche am Fuße der Hügel stand und aufgebracht mit den Armen wedelte. Von ihr und ihrem Mann hatte Clay seinen neuen Namen erhalten. Der Name, den ihm seine wahren Eltern bei seiner Geburt vor sechzehn Jahren gegeben hatten, Xin, war zu einem unbedeutenden Begriff geworden, mit dem er nichts verband.
Eilig sprang Clay auf. Nach einem herzhaften Gähnen fuhr er sich mit den Händen durch seine blonden Haare. Er schlüpfte in die ledernen Schuhe, die er vor dem Einschlafen von den Füßen gestreift hatte, und begann den Hügel hinunterzulaufen. Einige Krabben, die sich hierher verirrt hatten, stoben schnell auseinander, als die Beine des Jungen zwischen ihnen herumstampften. Schon bald war Clay am Pfad zum Strand angekommen, wo die Frau, die ihn gerufen hatte, auf ihn wartete.
»Das Schiff läuft bald aus, Junge«, erklärte sie. »Beeil dich.«
»Ja doch, Shoshan, bin schon unterwegs«, antwortete ihr Ziehsohn, der ihr zulächelte und dann an ihr vorbei rannte. Auf dem Weg in das Dorf begegnete er vielen Leuten, die ihm winkten und zuriefen.
»Viel Glück an deinem großen Tag!«, sagte einer der Dorfbewohner, und Clay bedankte sich mit einer leichten Verbeugung.
Tatsächlich war dies ein ganz besonderer Tag für den sechzehnjährigen Blondschopf. Jahrelang hatte er sein Leben auf Maradonien genossen; voller Freude war er den Pflichten eines einfachen Jungen auf einer Insel von Bauern und Hirten sowie Händlern nachgekommen – doch nun war der Zeitpunkt für den Aufbruch des ungeduldigen Jugendlichen gekommen.
Durch den Brief eines befreundeten Mannes, der Mitglied einer Gruppe von stolzen Seefahrern war, hatte Clays Ziehvater Erik vor einigen Monden erfahren, dass im Sommer ein großes Handelsschiff in die Nähe von Maradonien käme. Nachdem Erik gefragt hatte, ob es auf der Insel anlegen könnte, um seinen Ziehsohn mitzunehmen, hatte er eine positive Antwort erhalten.
Clay war ein letztes Mal zu seinem Lieblingsort auf der Insel hochgestiegen, doch nun rannte er schnell zwischen den alten Hütten des Dorfes hindurch, um rechtzeitig zum Schiff, das heute angelegt hatte, zu gelangen. Davor machte er einen Zwischenhalt bei dem Häuschen seiner Zieheltern, an dem viele glückliche Erinnerungen hingen.
Im Inneren des kleinen Gebäudes traf er auf Erik. Der dickliche Mann mit den graubraunen Haaren lächelte, als Clay hereinkam, danach umarmte er den Jugendlichen und tätschelte seinen Rücken.
»Ich habe alles vorbereitet, Junge«, sagte er wehmütig. »Die Tasche liegt in deinem Zimmer. Hol sie, und dann begleite ich dich zum Schiff.«
Bevor Clay einen weiteren Schritt machen konnte, hielt ihn sein Ziehvater zurück.
»Du weißt, dass du mit niemandem … wirklich niemandem … über dein Geheimnis sprechen darfst?«
Der Jugendliche nickte.
»Gut.«
Ein letztes Mal ließ Clay seine Augen über die vertrauten Gegenstände in den schmalen Räumen schweifen; den wuchtigen Holztisch, an dem er und seine Zieheltern stets gegessen hatten, und das einfache aber angenehme Strohbett unter dem Fenster, durch das er jeden Abend die Sterne beobachtet hatte, bevor er eingeschlafen war.
Nachdem der Junge die Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten geschultert hatte, verließ er mit Erik das Häuschen, um zum Strand zu laufen. Das Handelsschiff, das Clay dort vorfand, war gigantisch. Er hatte es bereits von dem Fels auf den Hügeln aus gesehen, doch nun konnte er es von nahem begutachten.
Die Größe des Schiffes beeindruckte ihn. Im Gegensatz zu den Booten und anderen schwimmenden Transportmitteln, die sonst auf Maradonien anlegten, um etwa Fische oder Getreide zu den benachbarten Inseln zu bringen, war dieses hier ein wahrer Riese. Es handelte sich um eine wendige und einfach zu steuernde Fleute, die den Namen Lucky Banshee erhalten hatte. Sie war, wie Clay später erfuhr, beinahe ein Drittel Feld lang und konnte von weniger als zehn Besatzungsmitgliedern gesteuert werden.
Alle drei Masten der Lucky Banshee erstreckten sich weit in die Höhe und trugen mehrere breite Segel. Auf dem größten dieser leicht gelblichen Segel befand sich das kreisförmige Zeichen des Inselringes. So bezeichnete man das Gebiet um das Zentrum des Planeten Azura.
Während das Zentrum namens Utopia, in dem die wohlhabendsten Menschen überhaupt lebten, von den Novae stark bewacht und kontrolliert wurde, konnten die Menschen auf dem Inselring und den umliegenden Gegenden relativ unbeschwert leben, waren allerdings sehr arm. Der rege Schiffshandel unter den Inseln war für jene Besitzlosen lebenswichtig.
Nur schwer konnte Clay seinen Blick von dem beeindruckenden Transportschiff losreißen. Shoshan wartete bereits am Strand, wo die ankommenden Wellen die Grenze zwischen Land und Meer berührten. Auch sie schloss ihren Ziehsohn in die Arme und wiegte ihn leicht hin und her. Als sie ihn losließ, bemerkte Clay eine Träne auf ihrem gutmütigen Gesicht.
Shoshan war etwa einen Kopf kleiner als ihr sechzehnjähriger Ziehsohn mit dem blonden Schopf. Die Zeit, die sie mit ihm hatte verbringen dürfen, war schnell verflogen – das kleine Baby von damals war groß und kräftig geworden, und nun hieß es Abschied nehmen. Als sie in Clays blaue Augen sah, freute sie sich, dass darin Zuversicht und Stärke zu finden waren.
»Weine nicht, Shoshan«, sagte der Jugendliche und versuchte zu lächeln. »Irgendwann komme ich zurück. Ich werde mein Glück in der weiten Welt suchen und finden.«
»Versprich es mir«, bat Shoshan und strich ihr langes graubraunes Haar, das vom Wind zerzaust wurde, aus dem Gesicht.
»Ich verspreche es.«
Ein Geräusch ertönte. Jemand auf dem Schiff hatte in ein Horn geblasen und somit das Signal für den Aufbruch gegeben. Clay betrat die Lucky Banshee, und auch einige andere Menschen begannen sich zu beeilen, um sich und ihre wertvollen Waren an Bord oder unter Deck zu bringen.
Clay stellte sich an die Reling des Hecks und winkte Erik und Shoshan zu, die Seite an Seite am Strand standen. Trotz des Lärmes auf dem Schiff, etwa dem Brüllen von Befehlen oder dem Ausstoßen von weiteren Lautsignalen, verstand das Paar, was ihm ihr Ziehsohn zurief.
»Danke für alles!«
Dann legte das Schiff ab, und die Insel Maradonien wurde immer kleiner, bis sie nur noch ein schwarzer Punkt am Horizont war. Wohin Clay nun auch blickte, sah er nichts weiter als das große weite Meer.
Schiffe waren die wohl wichtigsten Transportmittel auf Azura. So nannte die menschliche Bevölkerung den blauen Planeten, der zu achtundneunzig Prozent von Wasser bedeckt war.
Früher hatten Menschen mit den beiden anderen Völkern Azuras – den Astra und den Novae – in Einklang und Harmonie gelebt. Abkömmlinge dieser zwei besonderen Rassen waren überaus mächtig und wurden von den Menschen als Götter bezeichnet. Eines Tages jedoch war ein erbitterter Streit zwischen Astra und Novae entbrannt. Ein gewaltiger Krieg war die Folge dieses Zwists gewesen und hatte die gesamte Bevölkerung des Planeten an den Rand des Abgrundes getrieben.
Bevor die hilflose Menschheit von den sich bekriegenden Rassen beinahe ausgelöscht worden war, hatte ein mysteriöses Ereignis stattgefunden, bei dem sich kein Mensch gänzlich sicher sein dürfte, was eigentlich geschehen war. Viele meinen, in schwarze und weiße Gewänder gehüllte Wesen wären vom Himmel gestiegen und hätten mit unbarmherziger Magie all jene gestraft, die Krieg führten – die Tamashii. Andere behaupten, dieses Wort sei nur der Name einer außergewöhnlichen Ansammlung von Stürmen gewesen, einer Art Naturkatastrophe. Manche wiederum sagen, eine grauenvolle Krankheit hätte ihr Unwesen getrieben, sodass versucht worden war, die Völker voneinander zu trennen, durch monströse Praktiken. Was auch immer der Grund gewesen sein mochte, jedenfalls waren die Kontinente des Planeten versiegelt worden, und eine einzige riesige Welle hatte den Großteil der Landmassen unter sich begraben. Dies war vor etwa fünfhundert Jahren geschehen. So war Azura zu einem Planeten des Wassers geworden.
Viele der Dörfer und Städte waren in den Tiefen des Meeres verschwunden; fruchtbares Land war rar geworden. Ob der Not hatten die Menschen Zusammenhalt gelernt, und die Zeiten der Kriege waren vorüber gewesen, denn die zerstreuten Astra und Novae waren schwach geworden. Frieden kehrte ein.
Doch was auch immer nach Ordnung gerufen hatte, hatte versagt. Von den beiden mächtigen Rassen war nur eine beinahe ausgelöscht worden, die andere jedoch hatte sich schnell von dem schweren Schlag erholt und bald wieder über sagenhafte Kräfte verfügt.
Bei den aufstrebenden Wesen hatte es sich um die Novae gehandelt. Diese hatten begonnen, die gewöhnlichen Menschen zu unterjochen, denn ihre natürlichen Feinde, die Astra, welche ihnen Einhalt hätten gebieten können, waren zahlenmäßig weit unterlegen gewesen. Schon bald hatte eine Schreckensherrschaft begonnen. Astra waren getötet worden, und Menschen hatten sich den Novae ergeben müssen. Anstelle des ersehnten Gleichgewichts hatte das Mysterium der Tamashii gewaltiges Chaos und somit schreckliches Leid in die Welt gesetzt.
Azura war wieder der aufgewühlte Planet, der er zuvor gewesen war.
Während das Schiff über das Meer glitt, angetrieben von der mächtigen Kraft des unsichtbaren Windes, war es das Treiben an Bord, das Clay faszinierte und vor Langeweile bewahrte. Muskulöse Arbeiter mit ernsten Mienen eilten über das Deck des Schiffes. Sie trugen Seile, Fässer, Säcke, Werkzeuge und viele andere Dinge umher. Manche Männer waren damit beschäftigt, das Schiff auf Kurs zu halten, etwa der konzentriert wirkende Kapitän, der das Steuerrad vor sich hin und wieder kräftig drehte, oder die Matrosen, die mit Tauen in den aufgeschürften Händen darauf achteten, dass die Segel intakt blieben. Andere Leute, die vermutlich Passagiere waren, darunter auch einige Frauen, standen einfach nur herum und starrten auf das weite Meer.
Bald kam ein schlanker Mann auf den jungen Blondschopf zugetreten. Es handelte sich um den Seefahrer, dem Clay diese Reise zu verdanken hatte. Er war der Bekannte, den Erik gebeten hatte, dieses große Handelsschiff auf der unbedeutenden Insel Maradonien Halt machen zu lassen. Sein Name war Marten, und er wechselte einige Worte mit Clay. Nachdem er dem Jungen erzählte, dass das Ziel des Schiffes eine Insel namens Pandra war, die sich am Rande Utopias befand, gab er ihm noch einige gut gemeinte Ratschläge.
»Deine Kajüte befindet sich übrigens unten, am Ende des Flurs, auf der rechten Seite. Du musst sie dir mit drei Männern teilen – sie sind zwar recht höflich, aber verärgere sie nicht. Ich hoffe, du hast genug Proviant bei dir; Essen für die Mannschaft gibt es hier nur ein Mal am Tag, und das fällt ziemlich spärlich aus. Oh, und halte dich von dem alten Moko fern, der nachts am Heck herumlungert – er ist ziemlich merkwürdig und macht den Leuten nur Angst.«
»Vielen Dank, Marten«, sagte Clay und verbeugte sich leicht. »Ich werde Euch keinen Ärger bereiten. Ich will meine Eltern nicht beschämen.«
»Sehr schön«, antwortete Marten mit hochgezogenen Augenbrauen und einem aufrichtigen Lächeln. »Die Fahrt dauert knapp zwei Tage. Viel Spaß.«
Spaß hatte Clay keinen, doch er versuchte die Überfahrt nach Pandra zu überstehen – so gut es eben ging. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er seine vertraute Umgebung verlassen. Zwar war er mit seinem Ziehvater oftmals zu benachbarten Inseln gesegelt, um dort etwa neue Waren zu begutachten oder Tauschgeschäfte abzuwickeln, doch diese lange Fahrt in die Richtung Utopias war eine neue Herausforderung für ihn.
Es gab niemanden, mit dem sich Clay bis zum Anbruch des Abends unterhalten konnte. Die Passagiere des Handelsschiffes waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt und vermieden es, mit fremden Personen zu sprechen. Von den Seefahrern gab es keinen einzigen, der etwas Zeit erübrigen konnte, denn schon bald kamen hohe Wellen auf, und das Manövrieren verlangte der gesamten Mannschaft alles ab.
Der erste Tag verstrich für Clay trotz des Mangels an Unterhaltung relativ schnell. Er hatte das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug verging. Am Abend fand er sich unter Deck ein, wo er von einem Smutje zwei Scheiben Brot und etwas gegartes Gemüse bekam. Nachdem er das einfache Gericht verspeist hatte, suchte er die Kabine auf, in der er übernachten sollte.
In der Kajüte fanden sich schon sehr bald die anderen Personen ein, die sich hier zurückziehen und ausruhen konnten. Die drei Seefahrer, die zur Mannschaft des Schiffes gehörten, machten Clay klar, welche Regeln er zu befolgen hatte.
»Sei artig, halt die Klappe und stiehl nichts; dann verstehen wir uns prächtig.«
Clay nickte und tat wie geheißen. Er schleuderte seine Tasche auf das harte und unnachgiebige Holzbrett, das ihm für die nächsten zwei Nächte als Bett dienen sollte. Dann legte er sich darauf und starrte an die Decke der Kajüte, ganz in Gedanken versunken.
Es wurde immer dunkler, und der Lärm auf dem Schiff wich einer nervösen Ruhe. Nur ab und an hallte ein Ruf durch die Gänge des schwimmenden Riesen, und bis auf die monotonen Geräusche der Wellen und des Windes war alles still. Dennoch konnte Clay nicht einschlafen. Er fragte sich, ob er plötzlich seekrank war, oder ob die Schlaflosigkeit einfach etwas mit der leichten Aufregung zu tun hatte.
Gegen Mitternacht, als es für ihn unerträglich wurde, hopste Clay von dem unbequemen Brett und schlich aus der Kabine. Er folgte dem Gang und stieg die Leiter in der zentralen Kammer hoch. Als er an Deck war, atmete er tief durch – die kalte Nachtluft war belebend.
Außer ihm waren nur wenige andere Menschen an Deck. Die meisten Seefahrer hatten sich in ihre Kammern zurückgezogen, um Schlaf zu finden. Nur einige tüchtige Matrosen halfen dem Kapitän, der am Steuerrad stand und gebieterisch das Meer überblickte.
Es war eine helle Nacht. Der Mond stand tief und wurde kaum von Wolken verdeckt. Sein Schein bewirkte, dass das Meer nicht vollkommen schwarz aussah, doch gleichzeitig verlieh er der Nacht etwas außerordentlich Unheimliches.
Clays Blick wanderte zum Heck des Schiffes. Dort stand eine einsame Gestalt, deren dünne Silhouette sich nur undeutlich vor dem dunkelgrauen Himmel abzeichnete. Sie weckte die Neugierde ihres Betrachters.
Mit kleinen Schritten ging Clay auf die Gestalt zu. Als er nähergekommen war, sah er, dass es sich um einen dürren alten Mann handelte, der von kleiner Statur war. Sein Gesicht, in dem schmale Augen und eine krumme Nase saßen, war faltig und von kleinen braunen Flecken überzogen. Die Kleidung des Mannes war dreckig und zerlumpt.
»Ah, Besuch«, brummte der alte Mann mit einer leisen rauchigen Stimme. Er drehte seinen Kopf und musterte Clay gründlich. »Na, Jungchen? Was kann der alte Moko für dich tun?«
Clays Verdacht, dass es sich bei diesem Alten um Moko handelte, vor dem ihn Marten gewarnt hatte, bestätigte sich.
»Nichts«, antwortete der Jugendliche höflich. »Ich genieße nur die Nachtluft, weil ich nicht schlafen kann.«
Der alte Moko brach in Gelächter aus.
»Schlaflosigkeit bei Jungspunden! Naja. Hat man dir denn nicht gesagt, man solle sich von mir fernhalten?«
»Doch, aber das haben die Leute auch immer über mich gesagt«, erklärte Clay und fuhr fort, als der alte Moko fragend seine buschigen Augenbrauen anhob. »Um mich herum geschehen immer seltsame Dinge, und deshalb fürchten sich einige Leute vor mir. Die Bewohner meiner Heimat Maradonien haben sich damit abgefunden, aber auf anderen Inseln sieht man mich nicht gerne, denke ich.«
Ein Schweigen setzte ein, das der alte Moko erst brach, nachdem er sich sein Kinn mit der Handfläche gerieben hatte.
»Du fährst also nach Pandra, Jungchen? Dann solltest du dich hüten, wenn um dich herum seltsame Dinge geschehen – denn Pandra ist eine Insel des Inselringes, der Grenze zu Utopia, und somit ein gefährlicher Ort. Siehst du, da haben wir den Grund, warum mich die Leute meiden. Ich erzähle schon wieder Geschichten, die einem Angst einflößen.«
»Ist es denn wirklich so gefährlich in Utopia?«, fragte Clay interessiert. Er hatte in der Vergangenheit bereits von vielen Reisenden die übelsten Gerüchte über das Zentrum Azuras gehört. Dort lebten zwar reiche und angesehene Menschen, doch diese wurden streng von den Novae kontrolliert, die Utopia vor langer Zeit zu ihrer Hochburg gemacht hatten.
»Jaah«, machte der alte Moko. »Ja, in der Tat, Utopia ist sehr gefährlich, und Pandra ist ein Vorgeschmack auf das, was dich dort erwartet. Du musst wissen, dass die Novae überaus mächtig sind. Während wir hier unbeschwert über sie sprechen können, belauschen sie jedes Gespräch innerhalb der Grenzen Utopias. Ein falsches Wort, und man wird getötet.«
»Das ist … schrecklich«, fand Clay, der zwar bereits von der furchtbaren Grausamkeit der Novae gehört hatte, sich aber nicht wirklich vorstellen konnte, dass sie dermaßen mächtig und skrupellos waren.
»Also, hör mal, Jungchen«, fuhr der alte Mann fort. »Nicht ohne Grund haben die Novae unter der Leitung von Herrscher Yasa vor sechzehn Jahren die letzten Astra ausgelöscht. Sie regieren mit eisernem Willen. Niemand kann sich ihnen widersetzen. Das ist ihr Privileg, weil sie sich vor fünfhundert Jahren gegen die Strafe der Tamashii behauptet haben.«
Clay versank in Gedanken. Die Worte seines Gesprächspartners ließen ihn nachdenklich werden. Wenn es stimmte, dass vor sechzehn Jahren die letzten Astra ausgelöscht wurden, dann hieß das, dass dieser Herrscher mit dem Namen Yasa seine wahren Eltern ermordet – oder es zumindest angeordnet – haben musste.
»Aber man munkelt doch, dass einige Astra noch leben«, sagte Clay bestimmt. »Wenn man sie fände, könnte das Gleichgewicht zwischen Astra und Novae wiederhergestellt werden.«
Doch der alte Mann wollte nichts davon wissen.
»Hör mal, Jungchen, das ist unwahrscheinlich. Die Novae gewinnen jeden Tag an Macht. Schon bald werden sie die Grenzen Utopias ausweiten. Nächstes Jahr steht Pandra unter ihrer Kontrolle, und kurz darauf folgt Maradonien. So wird die gesamte Welt Schritt für Schritt von den Novae eingenommen, und niemand kann etwas dagegen unternehmen. Die Menschen …«
Clay hörte dem alten Moko nicht länger zu. Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte zu den funkelnden Sternen am dunklen Firmament. Seine Gedanken waren bei seinen Eltern, sowohl bei seinen wahren, die ihm vor sechzehn Jahren das Leben geschenkt hatten, als auch bei jenen, die er Shoshan und Erik nannte und ihn liebevoll großgezogen hatten. Niemals würde er zulassen, dass die Novae die Kontrolle über die gesamte Menschheit an sich rissen. Für Clay fühlte es sich an, als wäre er es jemandem schuldig, etwas gegen die Problematik in Utopia oder gar ganz Azura zu unternehmen.
Den gesamten nächsten Tag verbrachte Clay in seiner Kajüte, wo er nichts weiter tat, als die Decke anzustarren und sich Gedanken über die Novae zu machen.
Sein Geist war unermüdlich, und sein Körper war angespannt. Er wollte unbedingt die Inseln Utopias sehen und sich mit eigenen Augen ein Bild von der Situation dort machen. Sollten die Menschen in Utopia trotz ihres Reichtums noch mehr leiden und schlimmere Qualen durchleben als die armen Menschen auf Maradonien und den benachbarten Inseln, so würde Clay ohne Zweifel etwas dagegen unternehmen müssen.
Der sechzehnjährige Junge wusste bloß noch nicht, dass er die Novae unterschätzte. Und er wusste ebenso wenig, dass er schon sehr bald eine Demonstration ihrer Kräfte erleben würde.
Es donnerte. Der Knall war so gewaltig, dass Clay aus dem Schlaf gerissen wurde und hochschreckte. Er stieß sich den Kopf an der Wand und fluchte.
Alarmiert sah er sich um. Die Matrosen, die sich in der Kajüte befunden hatten, als er eingeschlafen war, waren verschwunden. Vorsichtig rutschte Clay von seinem harten Bett und landete unsicher auf den Füßen. Er öffnete die Tür zum Gang und lugte aus der Kabine.
Plötzlich kam ihm ein Schwall Wasser entgegen. Die ungeheure Kraft der Wassermassen drückte Clay gegen die Wand des Ganges. Er rang nach Luft, doch er spürte, dass Flüssigkeit in seine Lungen zu strömen drohte. Panisch vor Angst strampelte Clay, um an die Oberfläche zu gelangen.
Schließlich war sein Kopf wieder über Wasser. Er hustete wild und atmete dann wohltuende Luft. Clay ermahnte sich selbst und versuchte sich zu beruhigen.
Ein Blick in die Zentralkammer des Schiffes genügte, um zu erkennen, dass das gesamte Schiff unter Wasser stand. Zunächst zögerte Clay, doch nach fünf Atemzügen, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, stieß er sich an der hölzernen Wand ab.
Wie ein Fisch schwamm er durch den Gang. Dabei wurde sein Kopf immer wieder unter Wasser gedrückt, sodass er darauf achten musste, wann er atmen durfte und wann nicht. Gefährlich wurde es, als eine schwere Kiste vom Deck durch die Öffnung in den Gang fiel und Clay fast erschlug. Im letzten Moment wich er aus und entging so dem Tod.
Endlich hatte er die Leiter erreicht. Seine Finger klammerten sich um die Sprossen, doch die Macht des Wassers verhinderte, dass er sich daran hochziehen konnte. Schließlich gelang es ihm doch, und nur unter dem Einsatz all seiner Kräfte erreichte er das Deck des Handelsschiffes.
Hier herrschte reinstes Chaos. Es regnete dicke schwere Tropfen, und Blitze zuckten durch die finstere Nacht. Clay hörte Männer brüllen und Frauen schreien; überall wurden Gegenstände und Körper herumgewirbelt, und das stete Wechseln von Hell und Dunkel schmerzte in den Augen. Erst jetzt spürte sein Körper die unbeschreibliche Kälte. Sofort begann er am ganzen Leib zu zittern.
Eine flüchtige Kopfbewegung zur Seite offenbarte dem Jugendlichen die tobende See. Durch den Anblick der gigantischen Wellen wurde ihm sofort klar, welch unglaubliche Gefahr das Meer darstellte. In diesem Moment hätte man die Lucky Banshee mit einem von Kindern gebastelten Boot aus Stoff vergleichen können, welches auf einer unsteten Oberfläche aus Wasser sein Ende erwartete.
Dann sah Clay ihn. Ein großgewachsener Mann mit silbernen Haaren schwebte in der Luft, im Auge des Sturms. In seinem ernsten Gesicht regte sich kein Muskel. Seine Arme waren ausgestreckt, und aus seinen Handflächen schossen Blitze, die das Schiff auseinanderrissen. Der Anblick war so entsetzlich, dass sich Clay augenblicklich wie versteinert fühlte und vergaß, dass er sich retten musste.
Es war ein Nova.
Inmitten des Chaos stapfte ein Mensch auf den schwebenden Nova zu. Es handelte sich um den Kapitän des Schiffes. Mit aufgerissenem Mund schrie er dem silberhaarigen Nova etwas zu. Die Antwort ertönte so laut, dass sie jeder noch lebende Seefahrer und Passagier hören konnte, im eigenen Schädel dröhnend und gleichzeitig überall ringsum donnernd.
»Jemand auf diesem Schiff hat über die Vernichtung der Novae nachgedacht. Dies ist inakzeptabel. Erwartet eure Bestrafung.«
Dann durchschlug den Kapitän ein leuchtender Blitz, und Clay wurde schwarz vor Augen.
Die Lucky Banshee fügte sich ihrem Schicksal, und die Wellen umschlossen das Schiff in einer tödlichen Umarmung, um es in ihr nasses Grab zu ziehen.