Читать книгу das Schicksal von Azura - Kevin Johann Wundersam - Страница 11
ОглавлениеKAPITEL 4
Ankunft in Utopia
Fassungslos trottete Clay neben Jeff her, der ihn durch die breiten Gänge des Passagierschiffes führte. Dieses schwimmende Transportmittel war etwas kleiner als die Lucky Banshee, die den Astrum von Maradonien nach Pandra gebracht hatte, doch es sah ungleich majestätischer aus und war zudem mit einigen Kanonen bestückt. Auch waren weder Seefahrer noch Passagiere mit denen der Banshee vergleichbar; jeder Mann und jede Frau war in glänzende Gewänder gehüllt, während es von abgenutzter Kleidung keine Spur gab, selbst bei den Fässern schleppenden Arbeitern.
Die Kabine, in die Clay gelotst wurde, war doppelt so groß als jene, in der er vor drei Tagen geschlafen hatte. Es gab zwei Betten, ein Fenster und sogar Kästen, in denen man sein Gepäck unterbringen konnte. Als Jeff die Tür schloss und auf eine der gemütlichen Matratzen sprang, brach sein neuer Kamerad das Schweigen.
»Du bist Aristokrat?«, fragte Clay aufgebracht. »Wie soll ich das verstehen? Du bist ein Dieb und hasst Aristokraten – das war es, was du mir erzählt hast. Den ganzen Tag schon muss ich von dir hören, wie niederträchtig und hinterhältig diese Aristokraten sind.«
»Stimmt«, meinte Jeff unbeeindruckt. »Aber das bedeutet nicht, dass mein Vater nicht der drittreichste Mensch in Utopia ist und ich nicht Mitglied der einflussreichsten Familien Azuras bin.«
Er zog einen Apfel aus einer seiner vielen Manteltaschen und biss hinein. Dann beugte er sich nach vorne und bedeutete seinem Gegenüber, sich hinzusetzen.
Als Clay Platz genommen hatte, bewunderte er die weiche Matratze des Bettes und nahm an, dass dieses längliche Polster keinesfalls mit Stroh gefüllt sein konnte. Solchen Luxus auf einem Schiff zu finden, kam ihm falsch und ungerecht vor. Was war mit den armen und kranken Menschen auf Pandra mit ihren verrottenden Unterkünften? Wer kümmerte sich bloß um deren harte Nachtlager?
Schließlich fuhr Jeff mit seiner Rechtfertigung fort, und seine grauen Augen glänzten, so als ob er sich an ein tragisches Erlebnis erinnerte.
»Es ist wahr. Ich bin als Sohn zweier Aristokraten geboren worden. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein Kind war. Von diesem Tag an hat mein Vater versucht, mich einzusperren und nach seinem Willen zu formen. Man tritt in die Fußstapfen seiner Eltern, besitzt also überhaupt keine Entscheidungsfreiheit. Ich war gezwungen, mein ganzes Leben als Aristokrat in Raw Rock, einer Stadt in Utopia, zu verbringen. Dort wimmelt es von wohlhabenden Menschen, die ständig nur über Macht oder Geld sprechen. Selbst die Kinder sind hochnäsig und wissen nicht, was es bedeutet, Träume zu haben.«
»Welche Träume hattest du denn?«, fragte Clay.
»Frei zu sein!«, rief Jeff händefuchtelnd, und nun hatte er wieder sein typisches Grinsen aufgesetzt. »Das war mein Traum und ist es noch! Ich bin mit vierzehn Jahren das erste Mal aus Raw Rock geflohen, habe Utopia verlassen – und bin hier auf Pandra gelandet. Seitdem habe ich mir als Dieb, den jeder nur als Schatten kennt, einen Namen gemacht. Dieses Leben gefällt mir; es ist viel aufregender als jenes, das ich früher geführt habe. Natürlich bin ich dann und wann nach Utopia zurückgekehrt, aber mein Vater ist bereits sehr alt, und seine Diener schaffen es nicht, mich im Zaum zu halten. Was die Novae angeht, so interessieren sie die Menschen sowieso nicht besonders.«
Clay nickte. Er konnte es sich nur schwer vorstellen, wie es war, ein Aristokrat zu sein und sein eigenes Schicksal nicht selbst bestimmen zu können. Im Gegensatz zu Jeff war er als freier Mensch aufgewachsen und hatte tun und lassen können, was ihm in den Sinn gekommen war, auch wenn er seine Pflichten als guter Sohn stets ernst genommen hatte.
Gedankenverloren wälzte sich der charmante Aristokrat in dem gemütlichen Bett. Dann fuhr er hoch und sah aus dem schmalen Fenster. Als Clay seinem Blick folgte, konnte er sehen, dass das Schiff abgelegt hatte. Endlich war er seinem Ziel nähergekommen, und bald würde er erfahren, wie Utopia und der Rest der Welt wirklich waren.
»Was passiert nun, wenn wir in Utopia ankommen?«, fragte Clay neugierig.
»Dieses Schiff legt in Painted Oak an. Das ist eine kleine Hafenstadt in der Nähe meiner Heimat. Bei unserer Ankunft werde ich in ein Empfangshaus für Aristokraten gehen, um nach Raw Rock zu gelangen und dort etwas von meinem Geld zu holen. Ich werde aber garantiert noch vor nächstem Sonnenuntergang wieder bei dir sein. Du solltest inzwischen … nichts tun.«
»Nichts?«
»Gar nichts«, verdeutlichte Jeff mit drohendem Blick. »Am besten, du mietest dir ein Zimmer in einem Hotel und tust dort überhaupt nichts. Verstehst du mich? Utopia ist ein Übel. Du musst deine Gedanken die ganze Zeit über frei halten. Denke auf gar keinen Fall an die Novae! Sie hören alles, was du denkst!«
Ein Schauer lief Clay über den Rücken.
»Sie können also wirklich Gedanken lesen?«, wollte er wissen.
»Nicht nur das«, antwortete der verwegene Aristokrat seufzend und strich sich mit der Hand über den Stoppelbart. »Kein Wunder, dass sie einst als Götter verehrt wurden. Stell bloß keinen Unsinn in Painted Oak an, ich warne dich.«
»Werden wir in Painted Oak einen Nova zu Gesicht bekommen?«
»Ich denke nicht. Die meisten von ihnen halten sich auf der zentralen Insel auf, deren Name Pure Core lautet. Aber wenn du einen von ihnen siehst, dann mach dich unauffällig aus dem Staub. Du erkennst sie an den silbernen Haaren. Ja, genau … dieses Unheil verkündende silberne Haar.«
Damit war das Gespräch vorerst beendet. Sowohl Clay als auch Jeff waren müde und verbrachten den ganzen Tag in der Kabine, mehr vor sich hin dösend als in wachem Zustand. Am Nachmittag wurden ihnen köstliche Gerichte gebracht, man fragte nach ihrer Zufriedenheit, und Clay starrte nach dem Essen eine Zeit lang sehnsüchtig auf das Meer hinter dem Fenster.
Wehmütig dachte er an seine Heimat und an die Abenteuer, die noch vor ihm lagen. Natürlich würde er sich in Utopia so unauffällig wie möglich verhalten, damit er mehr über die habgierigen Aristokraten herausfinden konnte – und natürlich auch über die Novae, welche für den Tod seiner wahren Eltern verantwortlich waren.
Weder Clay noch sein neuer Gefährte Jeff wussten, was sie in Utopia tatsächlich erwarten würde.
Clay war damit beschäftigt, seinen Geist zu leeren. Er versuchte, nicht über die Gründe seiner Reise zu grübeln – denn sie hatten mit Utopia und den Novae zu tun. Und natürlich wollte er keineswegs noch ein Schiff samt Passagieren in Stücke zerfallen sehen, von den Blitzen eines silberhaarigen Tyrannen zerfetzt. Doch es war beinahe unmöglich, nicht an das Hier und Jetzt zu denken, da so viel Aufregendes geschah.
Hinzu kam, dass er in Wirklichkeit ein Astrum war. Er gehörte jenem Volk an, das von den Novae beinahe ausgelöscht worden war und dessen Mitglieder sie als Erzfeinde ansahen. Davon hatte Jeff keine Ahnung, aber Clay wusste, dass dies ein weit größeres Problem darstellte als seine Abneigung gegen die Novae, über die er schon so viele grausame Geschichten gehört hatte. Natürlich, die Reise war sehr riskant.
Eine lange Zeit lagen die beiden jungen Männer in ihren Betten. Trotz ihrer großen Müdigkeit fielen sie nie in tiefen Schlaf, und in den wachen Momenten wollte keiner von ihnen ein mühsames Gespräch führen, weshalb es die meiste Zeit über angenehm ruhig war.
Es war Abend, als auf dem Schiff ein kleiner Tumult ausbrach. Sowohl Clay als auch Jeff blieben von dem kurz andauernden Lärm unbeeindruckt, bis die Tür zu ihrer Kabine geöffnet wurde und jener Hüne eintrat, der vor der Abreise auf dem Pier im Hafen gestanden hatte.
Die großen Hände des Hünen hielten die Oberarme eines ängstlich aussehenden Mädchens umklammert. Es hatte schwarzes Haar, trug fleckige Kleidung, und seine Beine waren mit Schrammen übersät. Sein von Sorgenfalten gekennzeichnetes aber hübsches Gesicht war den beiden Kameraden bekannt. Es war Marin.
Jeff sog erschrocken Luft ein. Er biss sich auf die Lippen, um nicht vor Verwunderung aufzuschreien. Ähnlich erging es Clay, dem bereits zwei Mal sehr deutlich gemacht worden war, welche Strafe unbekannte und unerlaubte Passagiere zu erwarten hatten – und Marin zählte zweifelsohne nicht zu den üblichen wohlhabenden Reisenden dieses Schiffes.
»Gehört die zu Euch, Herr?«, brummte der Hüne und beutelte Marin wild.
Für einen Augenblick schien es, als ob Jeff versteinert wäre. Clay sah an seinen zusammengezogenen Brauen und den Stirnfalten, dass er angestrengt nachdachte. Schließlich antwortete der junge Aristokrat, hoffend, dass Marin bereits einen logischen Grund für ihr Erscheinen an Bord genannt hatte; in diesem Fall eine gute Ausrede.
»Ja«, sagte Jeff langsam, »sie gehört zu uns. Sie ist eine von meinen beiden neuen … Dienern. Macht ständig nur Ärger und muss überall ihre Nase hineinstecken. Verzeiht, dass sie Euch Unannehmlichkeiten bereitet hat. Vielen Dank, dass Ihr sie hergebracht habt.«
Der Hüne sah den Aristokraten mehrere Atemzüge lang durchdringend an, dann zuckte er mit den Schultern und ließ Marin unsanft auf den Boden der Kabine fallen. Danach schloss er die Tür, und die drei Jugendlichen waren alleine im Zimmer.
Als sich der Hüne entfernte, herrschte Schweigen. Erst als seine Schritte immer leiser wurden, fuhr Jeff hoch.
»Was hast du dir dabei gedacht, du dummes Ding?«, schrie er. Seine Stimme war so laut, dass sowohl Clay als auch Marin erschraken.
»Hör mal«, begann Clay, doch er wurde von Jeff sogleich unterbrochen.
»Nein, ich werde nicht leise sein! Weißt du, in welche Schwierigkeiten du uns gebracht hast? Wir hätten alle drei getötet werden können, ist dir das bewusst?«
Marin saß auf dem Boden, zwischen den Betten der beiden jungen Männer. Sie hatte sich beim ersten lauten Wort zusammengekauert und hielt nun ihre dünnen Arme schützend über den Kopf. Bald kullerten Tränen über ihr Gesicht, doch auch nun schimpfte Jeff weiter. Erst als Clay seine Stimme erneut erhob und den Aristokraten um Ruhe bat, wurde es wieder still.
»Verzeih mir«, schluchzte das fünfzehnjährige Mädchen. »Ich weiß, dass es sehr gefährlich war, aber ich habe gewusst, dass dir nichts passieren würde, Schatten. Ich bin euch gefolgt und habe gehört, du bist in Wahrheit ein Aristokrat.«
Sie hob ihren Kopf und sah Jeff flehend an. Als er nicht reagierte, sprach sie weiter.
»Was sollte ich auch anderes tun? Mein Leben ist eine Qual. Ich kann nicht länger auf Pandra bleiben. Meine Mutter ist ohne mich viel besser dran. Verstehst du das denn nicht, Schatten?«
»Hör auf, mich Schatten zu nennen«, zischte Jeff. Seine Augen glänzten mittlerweile wieder voller Freundlichkeit und Mitgefühl, doch sein Gesicht war immer noch eine wütende Grimasse.
Einige Momente lang wurde kein einziges Wort gewechselt. Nun meldeten sich die Geräusche von außerhalb des Zimmers wieder. Das Raunen des Meeres und das Poltern auf dem Schiff drangen an die Ohren der Gruppe, da sie kein Geschrei mehr davon abhielt.
Bald war Jeffs jähe Wut verflogen. Dennoch herrschte in der Kabine immer noch eine beklemmende Atmosphäre, zu der Marins unentwegtes Schluchzen wesentlich beitrug. Schließlich wagte Clay einen neuen Versuch, die Situation aufzulockern.
»Bekommst du deshalb Ärger?«, fragte er ruhig.
»Nein«, murmelte der schmollende Aristokrat, der sich nun zurücklehnte und gedankenverloren aus dem Fenster sah. »Nein, vermutlich nicht. Trotzdem – das war unverantwortlich und dumm.«
»Und nachts in ein Anwesen einzubrechen«, meinte Clay, der das Mädchen in Schutz nehmen wollte. »Ist das nicht ebenso unverantwortlich und dumm?«
Jeff wandte sein Gesicht ab.
»Es tut mir leid«, flüsterte Marin, nun zu Clay, wie um sich für die Hilfe zu bedanken.
Eine ganze Weile herrschte betretenes Schweigen, das niemand brechen wollte; Jeff, da er zu verärgert war, und die anderen beiden Jugendlichen, weil sie eine neue Schimpftirade von dem Aristokraten befürchteten.
Schließlich setzte sich Jeff versöhnend auf. Er sah seinen neuen Freund auf der Matratze jenseits des winzigen Fensters an und senkte danach den Blick. Vor ihm saß dieses junge hübsche Mädchen, das seinem Schicksal entkommen wollte, so wie er es selbst vor einigen Jahren getan hatte, um vom Aristokraten zum Dieb zu werden. Wie konnte er ihm diese eine Verzweiflungstat also übelnehmen?
»Gut. Du kommst mit uns. Es würde mehr Probleme machen, dich nun abzuweisen. Aber was in Utopia auch geschieht – du gehorchst mir und Clay ohne Widerworte, damit das klar ist.«
Ein merkwürdiger Ort. Eine dunkle Fratze. Grauer flackender Kerzenschein.
Seltsame bekannte Geräusche drangen an seine Ohren; das Schreien eines Neugeborenen, geflüsterte Laute, das Grollen des Donners. Irgendwer lachte durch das Prasseln des Regens, und irgendwer weinte. Dann die Stimme seines Ziehvaters.
»Du weißt, dass du mit niemandem … wirklich niemandem … über dein Geheimnis sprechen darfst?«
Jemand schlug ihm sanft auf den Oberarm.
Die Erinnerungen an einen merkwürdigen Traum verblassten, und Clay öffnete die Augen. Er blinzelte einige Male, dann brachte er sich in eine aufrechte Position und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare.
»Was ist los?«, murmelte er verschlafen.
»Wir sind bald da«, sagte Jeff leise. »Keinen Gedanken mehr verlieren – über … du weißt schon. Normalerweise ist es kein Problem; viele Bewohner Utopias denken sich, wie toll ihr Leben wäre, ohne diese … du weißt schon. Aber trotzdem, kein Risiko!«
Clay nickte und erhob sich. Nachdem Jeff ihm einige Augenblicke Zeit gegeben hatte, um wirklich wach zu werden, verließen die beiden jungen Männer mitsamt Marin die Kabine. Während sie den Gang auf dem Schiff entlanggingen, spürte Clay zum ersten Mal in seinem Leben eine große Nervosität.
Es fiel ihm plötzlich sonderbar leicht, nicht an die Novae zu denken, denn bereits der Gedanke an Utopia, das viele, auch wenn sie es noch nie gesehen hatten, als Paradies bezeichneten, füllte seinen Kopf vollkommen aus. Wie würde so ein Paradies aussehen?
Dann traten die drei jungen Reisenden an Deck, und Clay stockte sogleich der Atem. Wie ein kleines fasziniertes Kind rannte er zum Bug und staunte über das, was er in der Ferne sah.
Am Horizont war eine gewaltige Insel aufgetaucht, die immer näher rückte. Die Umrisse der Stadt, bei der es sich um Painted Oak handeln musste, waren nur zu erahnen, und dennoch war der Anblick wahrlich atemberaubend. Türme, die weitaus höher als der höchste Punkt Maradoniens schienen, erstreckten sich in den Morgenhimmel. Als die fernen Objekte klare Formen annahmen, konnte man lange Hallen und eindrucksvolle Brücken erkennen.
Die steinerne Stadt war auf einem natürlichen Gerüst von unterschiedlich großen Felsen und schief gewachsenen Bäumen errichtet worden. Einige Gebäude standen auf dem Grund der Insel, während andere Häuser in der Luft zu schweben schienen. Viele Baumkronen hatten die gepflasterten Straßen ungefragt durchbrochen und spendeten den Menschen, die im Freien ihren Tätigkeiten nachgingen, Schatten.
Obwohl Clay kein besonderes Auge für Architektur hatte, fand er schnell Gefallen an den außergewöhnlichen Häusern. Die Fassaden bestanden vollkommen aus Stein, und die Dächer waren eben, was er für besonders interessant erachtete. Obwohl die meisten Bauten, ob am Grund der Insel oder in den Ästen der Bäume, nicht an die Schönheit der von den Aristokraten bewohnten Anwesen auf Pandra heranreichten, war der Gesamteindruck der Stadt schlicht fantastisch.
Auf beiden Seiten Painted Oaks gab es Anlegestellen. Das Schiff driftete nach rechts ab und fuhr in den geteilten Hafen ein. Kurz nachdem es zum Stillstand gekommen war, betraten zwei schlanke Männer das Schiff. Sie trugen dieselbe Art von Hüten wie Jeff und sogar ähn-liche Mäntel.
Jeff klopfte Clay freundschaftlich auf den Rücken, lächelte Marin zu und gesellte sich dann mit einigen anderen Passagieren, die vermutlich ebenfalls das Amt von Aristokraten bekleideten, zu den schlanken Männern. Die restlichen Anwesenden, darunter Clay und Marin, wurden angewiesen, das Schiff rasch zu verlassen.
Als der Astrum einen Fuß auf den Kai setzte, fühlte er sich verloren. Vor ihm erhoben sich die zahlreichen Gebäude Painted Oaks, und er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Hier war ihm alles fremd, und laut Jeff konnte man in Utopia nur wenige hilfsbereite Menschen antreffen. Hinzu kam die Pflicht, auf Marin aufzupassen; dies hatte er seinem diebischen neuen Freund versprochen.
Doch Clay war in Utopia angekommen – das war sein Ziel gewesen. Nun wollte er alles über diese Welt, die so anders war als seine Heimat, herausfinden. Er wollte wissen, ob die Menschen hier glücklich waren, oder ob sie nur gute Miene zum bösen Spiel machten und genauso litten wie die Menschen auf Pandra.
Vielleicht war dieses Paradies ja trotz der beeindruckenden Bauwerke, den wundervollen Plätzen und den fein gekleideten Leuten eine einzige Lüge, erschaffen von den silberhaarigen Unterdrückern namens Novae.
Ohne lange nachzudenken, machte Clay einen Schritt nach dem anderen. Seine Füße trugen ihn durch eine schmale Gasse in das Zentrum der Stadt, wo es viele schattige Plätzchen gab, in denen sich Erwachsene und Kinder aufhielten. Ihre Gesichter wirkten fröhlich, und man hörte viel Gelächter.
Über allem schwebten die gewaltigen Äste eines riesigen Baumes, dessen Stamm hinter einigen Häuserreihen verschwand. Jeff hatte vorhin erklärt, dass jener Stamm dieses prächtigsten aller Bäume hier am Ende jedes Sommers von den Bewohnern mit Beuteln voller bunt gefärbter Flüssigkeit beworfen wurde. Dabei handelte es sich um einen wichtigen Brauch Painted Oaks, der Unglück sowie Krankheiten im Winter fernhalten sollte und zudem der Stadt ihren ausgefallenen Namen gegeben hatte.
Clay und Marin waren von den vielen lächelnden Menschen fasziniert, die auf den Straßen des Zentrums herumliefen und ihren Tätigkeiten nachgingen. Sie schienen voller Harmonie und Freude zu sein, obwohl in der Eile nur wenig miteinander gesprochen wurde. Tatsächlich hielten beinahe alle Bürger ihren Kopf gesenkt und vermieden Blickkontakt; nur wenige nickten sich im Vorbeigehen zu oder blieben stehen, um sich munter auszutauschen.
Die beiden Jugendlichen sahen sich etwas ratlos um, und Marin entdeckte eines der Hotels, von denen Jeff gesprochen hatte. Sie betraten es und wurden im hellen Empfangssaal von gepflegten älteren Damen willkommen geheißen, während ihre Füße über einen rötlichen Teppich glitten. Ein Mann in schwarzem Hemd und ebenso dunklen Hosen fragte nach Clays und Marins Wünschen. Daraufhin zog der Astrum einen Beutel voller Münzen hervor und überreichte zwei davon.
»Zimmer Vier gehört einen Tag lang Euch«, sagte der schick angezogene Mann und verbeugte sich. Clay steckte den Geldbeutel, den er von Jeff erhalten hatte, wieder weg und suchte zusammen mit Marin die entsprechende Räumlichkeit auf.
Als er das reich verzierte und teuer eingerichtete Zimmer betrat, verfiel er in ehrfürchtiges Staunen. Ihn umgaben Vitrinen aus seltenem dunklem Holz, schwere gusseiserne Kerzenhalter und bunte Trinkgläser, die auf kleinen aber verschnörkelten Tischchen mit geschwungenen Beinen standen. Es verblüffte ihn, dass hier sogar Gäste mit einem solchen Luxus verwöhnt wurden, während Menschen in Pandra ungleich weniger besaßen und jeden Tag Hunger leiden mussten.
Marin hüpfte in eines der beiden breiten Betten, an denen weiße Vorhänge angebracht und mit großen Maschen aus schwarzem Stoff befestigt worden waren. Sie seufzte genüsslich und streckte dann Arme und Beine von sich, um ihre Wirbelsäule zu strecken.
»Ich bin wahnsinnig müde«, sagte sie. »Wäre es nicht herrlich, jetzt ein wenig zu schlafen? In diesem wundervollen Bett?«
Eine Zeit lang starrte Clay den Körper des im Bett liegenden Mädchens an, welches die dünnen Schenkel aneinandergepresst und die schmutzigen Fußsohlen in die Höhe gereckt hatte.
»Das geht leider nicht«, meinte er dann. »Jeff meinte ja, wir müssten uns passende Kleidung besorgen, sonst fallen wir noch auf.«
»Ach, du meinst Schatten«, murmelte Marin leise und verträumt, während sie mit geschlossenen Augen den Kopf im Kissen vergrub. »Meinst du, er mag mich?«
Clay hob die Augenbrauen.
»Magst du ihn etwa?«
Die Antwort kam nicht sofort.
»Hmm«, machte Marin. »Ja, irgendwie schon. Er ist schon seit vielen Jahren mein Held.«
Darauf antwortete Clay nicht. Bedrückt kramte er in seiner neuen Tasche herum. Obwohl er es schön fand, dass Marin Jeff mochte, war er etwas enttäuscht. Auf den Inseln rund um Maradonien hatte es wenige Mädchen gegeben, und keines davon hatte ihm je ein intensiveres Gefühl als Freundschaft entgegengebracht. Clay fand, dass wenigstens Marin ihn als den wohlgeratenen und akzeptablen jungen Mann hätte sehen können, für den er sich hielt.
Und dann war da noch dieses nagende Gefühl, das seine Kehle austrocknete und ihm das Atmen erschwerte. Das Gefühl, für Azuras Situation verantwortlich zu sein, da er der letzte Abkömmling eines so gut wie ausgelöschten Volkes war. Doch was konnte er schon gegen die Novae ausrichten, gegen diese mächtigen Tyrannen mit ihren tödlichen Blitzen? Was konnte er anderes tun, als Jeffs Rat zur Vorsicht zu ignorieren, hinaus auf die Straße zu treten und die Menschen Utopias sowie deren Begehren verstehen zu lernen?