Читать книгу das Schicksal von Azura - Kevin Johann Wundersam - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 2
Abenteuer auf Umwegen
»Au, aua!«
Der weinende Junge lief auf seine Mutter zu. Seine Hände waren mit Blut beschmiert, doch an seinem Körper befand sich kein einziger Kratzer.
»Wo kommt denn auf einmal das ganze Blut her?«, fragte Shoshan erschrocken.
»Mein Knie, es hat stark ge–«
Er brach mitten im Satz ab. Als der Siebenjährige sein Knie begutachtete, war dort nur etwas verriebene Erde zu sehen. Die üble Wunde, die er sich beim Spielen auf den Hügeln zugezogen hatte, war innerhalb kürzester Zeit verheilt.
Nachdem Clay als Sohn zweier Astra geboren und von seinem Vater mit einem Bann belegt worden war, hatte sich sein Körper aufgelöst und an einem anderen Ort wieder materialisiert. Das nackte und halb erfrorene Kind, dessen Eltern soeben von einem brutalen Nova in rotem Umhang getötet worden waren, war damals von einem dreißigjährigen Mann namens Erik in einem Wäldchen Maradoniens gefunden worden. Anstelle von Pilzen, die der Mann seiner Frau hatte bringen wollen, damit daraus ein leckeres Gericht würde, hatte er das Baby in sein Heim gebracht.
Der Mann mit dem Namen Erik und die Frau mit dem Namen Shoshan hatten sich nämlich immer schon ein Kind gewünscht, doch noch nie hatten sie sich über Nachwuchs freuen können. Bereits drei Mal war ihre immense Vorfreude durch eine Fehlgeburt zerschmettert worden, weshalb der Fund dieses Babys eine unerreichbar geglaubte Chance für sie beide darstellte. Der feine Schriftzug über dem Bauchnabel des gefundenen Kindes hatte Erik und Shoshan zwar beunruhigt, doch sie waren viel zu glücklich über die schicksalhafte Fügung gewesen, um sich weitreichende Gedanken zu machen. So hatte sich das Paar dazu entschlossen, das Kind zu behalten und großzuziehen.
Im Laufe der Jahre war Clay zu einem großen Jungen herangewachsen. Er hatte nun blonde Haare, die ihm bis über die Ohren gingen. Seine blauen Augen waren so unbekümmert und freundlich wie er selbst, sodass ihn alle Bewohner Maradoniens schnell ins Herz geschlossen hatten. Jedoch umhüllte Clay auch ein Mysterium, denn wenn er sich das eine oder andere Mal verletzt hatte, waren seine Wunden stets innerhalb kürzester Zeit geheilt.
Die Befürchtungen seiner Zieheltern Erik und Shoshan hatten sich schließlich nach seinem zehnten Geburtstag bewahrheitet. Immer wieder war Clay mit seltsamen Ereignissen in Verbindung gebracht worden. Man sagte dem Knaben etwa nach, dass er Kies schweben lassen oder die Wellen beeinflussen konnte – Clay selbst wusste jedoch nichts von solchen Begebenheiten. Einmal hatte einer der Dorfbewohner sogar behauptet, dass er gesehen hätte, wie ein Blitz auf den Jungen niedergefahren wäre. Weil dieser sich jedoch an nichts Derartiges erinnern konnte und auch kein bisschen verletzt gewesen war, hatte man den Worten des Dorfbewohners keinen Glauben geschenkt. Nur die Zieheltern hatten die erschütternde Wahrheit erkannt.
An Clays fünfzehntem Geburtstag hatten Erik und Shoshan endlich beschlossen, ihrem Ziehkind die ganze Wahrheit zu erzählen. Sie hatten dem Jungen erklärt, dass sie nicht seine wahren Eltern waren und ihn in der Wildnis gefunden hatten. Weiter hatten sie ihm gesagt, dass sie glaubten, sein wahrer Name lautete Xin, denn genau dieses Wort stand über dem Bauchnabel des Jungen geschrieben.
Danach hatte Clay von seinen Zieheltern erfahren, was es mit den Namen, die mit dem kreuzförmigen Buchstaben begannen, auf sich hatte. Denn obwohl die Geschichten der Astra und Novae überall bekannt waren, wussten heutzutage nur noch wenige Menschen, dass das X für die Astra dieselbe Bedeutung wie das Y für die Novae hatte.
»Das heißt, dass ich ein Astrum bin?«, hatte Clay damals gefragt. »Deshalb diese ganzen seltsamen Ereignisse? Darum war ich nie ernsthaft verletzt? Aber die Astra sind doch schon vor langer Zeit ausgestorben.«
»Nicht alle«, hatte Erik geantwortet. »Die Novae lassen die Menschheit in diesem Glauben, damit sie ihre Hoffnung verlieren. Doch es gibt Gerüchte über eine Gruppe von Astra, die sich zur Zeit der Auslöschung durch die Novae gerettet haben soll. Irgendwann wirst du bestimmt von hier aufbrechen und die Angehörigen deines Volkes suchen.«
Nur ein Jahr später war es so weit gewesen. Clay war an Bord der Lucky Banshee gegangen und hatte der Zukunft unbeschwert entgegengesehen. Niemals hatte er sich träumen lassen, dass dieser erste Schritt seines neuen Abenteuers in einem Fiasko endete.
Dunkelheit.
Außer Dunkelheit gab es nichts mehr. Da waren verschiedene Grautöne, die sich zu einem Strudel der Finsternis vermengten, und da war das Geräusch von tosendem Wind und polterndem Donner – zu all diesen Empfindungen gesellte sich die kalte Umarmung des Wassers. Das Meer hatte ihn in die Tiefe gezogen und beinahe nicht mehr freigegeben.
Irgendwann wurde es wieder heller, erst kaum merklich und dann mit einer überraschenden Schnelligkeit, und schließlich gelang es Clay, seine Augen zu öffnen. Das Tageslicht blendete, und sofort setzten unerträgliche Kopfschmerzen ein. Unter lautem Gestöhne griff sich der sechzehnjährige Astrum an die Stirn, um die Schmerzen zu vermindern, doch es wurde nur noch schlimmer.
Schlagartig erinnerte sich Clay an die Ereignisse, die ihn hatten ohnmächtig werden lassen. Vor seinem geistigen Auge tauchten schreckliche Bilder auf – ein sich auflösendes Schiff, eine Frau, die von einer Kiste zerquetscht wurde, ein Mann, der von einem Blitz erschlagen wurde, ein schwebender Nova, alles vernichtend.
Clay setzte sich auf, beugte sich vornüber und übergab sich. Der Gestank seines Erbrochenen stieg ihm in die Nase und verschlimmerte die Kopfschmerzen weiter. Um nicht an den quälenden Erinnerungen oder Umwelteinflüssen zugrunde zu gehen, kauerte sich der Jugendliche zusammen und versuchte sich nicht zu bewegen, was sich aufgrund seines heftig zitternden Körpers als schwierige Aufgabe herausstellte. Erst nach etlichen Atemzügen konnte Clay seine Augen geöffnet halten, ohne gleich wieder unerträgliche Übelkeit zu verspüren.
Er befand sich an einem Strand. Weit und breit gab es nichts zu sehen – bis auf die von den Wellen angespülten Teile des Schiffes sowie Möwen, die zwischen ihnen nach Futter suchten. Die friedlich wirkende Szenerie war trügerisch. Es war in der Tat sehr ruhig, doch das bedeutete nur, dass sich keine anderen Menschen in der Nähe aufhielten.
»Hallo?«, rief Clay. »Hallooo!«
Die Möwen flogen davon.
»Irgendjemand?«
Niemand antwortete.
Erschöpft ließ sich Clay wieder nach hinten in den Sand fallen. Er starrte zum wolkenlosen Himmel empor, an dem die Sonne prangte und gelassen Licht und Wärme spendete.
»Ich bin schuld … oder etwa nicht?«
Es waren die Worte des Nova, die den Gestrandeten beinahe zur Verzweiflung brachten. Jener Nova, der vor Clays Ohnmacht auf der Lucky Banshee erschienen war, hatte gesagt, dass jemand über die Vernichtung der Novae nachgedacht hatte – und aus diesem Grund war das Schiff zerstört worden.
Für Clay gab es keinen Zweifel, dass er selbst die Schuld an dem Tod der Seefahrer und Passagiere trug, denn immerhin war er es gewesen, der über die Novae und deren Taten in Utopia gegrübelt hatte. Dass der blonde Astrum eines der wenigen Wesen war, dessen Gedanken nicht von den mächtigen Novae gelesen werden konnten, erfuhr er erst viel später.
»Gedankenlesen … und Blitze schleudern.«
Die Fähigkeiten der Novae beeindruckten Clay. Dennoch wurde seine Abneigung gegen diese silberhaarigen Übeltäter nur noch größer, und von diesem Tag an begann er sie zu verabscheuen. Er fragte sich, wie viele unschuldige Menschen ihr Leben hatten lassen müssen, nur weil er, ein unerfahrener Sechzehnjähriger, über die Mächte der Novae sinniert hatte.
»Das werden sie büßen.«
Clay beendete seine wirren Selbstgespräche und stand auf. Zunächst gab sein linkes Knie nach, doch bereits beim zweiten Versuch fand er einen sicheren Halt.
Bevor er sich von dem Strand zurückzog, untersuchte er die Umgebung. Er entdeckte keine Menschen, weder lebende noch tote, trotz der gründlichen Suche zwischen den Überresten des Schiffes. Obwohl er damit rechnete, jederzeit einen Seefahrer mit von einem Holzstück in der Größe eines ausgewachsenen Hirtenhundes durchbohrter Brust zu Gesicht zu bekommen, sah er nur eine menschenleere und trostlose Landschaft. Schließlich stapfte er landeinwärts, ziellos und niedergeschlagen.
Der junge Abenteurer befand sich in einem ziemlich erbärmlichen Zustand. Sein helles Haar war zerzaust, sein fahles Gesicht war von Kraftlosigkeit gezeichnet, und sein gesamter Körper schmerzte. Die nackten Füße verbrannten beinahe aufgrund des heißen Sandes, und sowohl Hunger als auch Durst plagten ihn. Das helle Hemd und die dunklen Hosen, die Clay getragen hatte, waren nun nichts weiter als zerschlissene und schmutzige Lumpen. Dennoch; Clay war mehr als froh, dass er lebte.
Allmählich verschwand der Sand, und an seine Stelle trat trockener Erdboden. Mit jedem Schritt kam Clay einer saftig grünen Wiese näher, und schließlich befand er sich am Rand einer weiten Ebene.
Das Grasland erstreckte sich bis an den Horizont. Überall gab es merkwürdige Pflanzen zu bestaunen, die Clay nie zuvor gesehen hatte. Die Bäume trugen ihm unbekannte Früchte in verschiedenen Farben, und der Wind war kühl und angenehm.
Trotz der Tatsache, dass man weit und breit kein Anzeichen von Leben erkennen konnte, schöpfte der junge Astrum neuen Mut. Er setzte seinen Marsch mit etwas aufgeheiterter Laune fort und ging in die Richtung, in die seine Füße ihn trugen, wie ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat.
Eine ganze Weile wanderte Clay über die ruhige Ebene. Inzwischen waren Hunger und Durst verflogen, denn er hatte von den fremden Früchten genascht. Obwohl er sich zunächst ängstlich gefragt hatte, ob jene Früchte giftig seien, hatte er schließlich seinem knurrenden Magen nachgegeben und sie verzehrt. Das wilde Verlangen nach Flüssigkeit hatte Clay mit Wasser aus einem kleinen Bach gestillt – und ebenjenem Bach folgte er nun.
Das Gewässer bahnte sich seinen Weg durch die idyllische Landschaft. Auf der rechten Seite des Baches erstreckte sich ein weitläufiger Wald aus Laubbäumen, deren Blätter sich trotz der warmen Jahreszeit schon leicht rötlich gefärbt hatten. Gegenüber befand sich ein tiefes Tal, das reich an natürlichen Rohstoffen zu sein schien; dennoch gab es keinerlei Anzeichen von Zivilisation. Nur vereinzelt herumirrende Insekten und einige plötzlich auftauchende Vogelgruppen waren Beweis, dass sich zumindest die Tierwelt hier angesiedelt hatte.
Nach etlichen weiteren Schritten gelangte Clay an eine große Schlucht, die seinen Weg kreuzte. Es schien, als ob sich vor vielen Jahren ein Spalt im Erdboden aufgetan hatte. Das Wasser des Baches verschwand zwischen einigen Felsbrocken, und Clay vermutete, dass es unterirdisch weiterfloss. Man hatte eine schmale einfache Brücke aus Stein errichtet, um die Schlucht sicher überqueren zu können.
Ein hölzernes Schild in der Nähe der Brücke weckte Clays Aufmerksamkeit. Er trat näher heran und las, was auf dem Schild eingeritzt worden war.
»›Pandra – Rukastatt in dieser Richtung.‹«
Clay nickte zufrieden. Er war heilfroh, dass er auf der richtigen Insel gestrandet war. Zumindest konnte er von hier aus weiter nach Utopia segeln, und das Schild verriet außerdem, dass er bald in eine Stadt kommen würde, wo er neue Kleidung und etwas Proviant kaufen konnte. Dass er bei dem Schiffsunglück mitsamt seinen restlichen Habseligkeiten auch seine angesparten Münzen verloren hatte, kam ihm zu diesem Zeitpunkt nicht in den Sinn.
Noch bevor er einen Fuß auf die Steinbrücke setzen konnte, ließ ihn ein schrilles Geräusch innehalten. Clay horchte auf, und das Geräusch ertönte erneut. Es waren die Schreie eines Mädchens, das plötzlich auf der anderen Seite der Brücke in sein Blickfeld geraten war und um sein Leben rannte.
Das Mädchen war etwa im gleichen Alter wie Clay und hatte im Gegensatz zu ihm pechschwarzes langes Haar. Der kleine und schlanke Körper der jugendlichen Frau steckte in weiten Kleidern, die sie beim Laufen zu behindern schienen. Hinter ihr sah Clay ein Dutzend großer Männer herlaufen, die allesamt mit gefährlichen Messern und sonstigen scharfen Utensilien bewaffnet waren.
Der Anblick der aggressiven und äußerst brutal wirkenden Verfolger hatte Clay in Schrecken versetzt, und er beobachtete das Schauspiel gebannt. Als er jedoch realisierte, dass das Mädchen auf die Brücke lief und direkt auf ihn zustürmte, war es zu spät, um zu reagieren. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte dieses barfüßige Mädchen ihn bereits am Arm gepackt und mitgezerrt.
»Halt!«, rief Clay, der unwillkürlich zu laufen begann, um nicht auf die Nase zu fallen. Er versuchte sich aus dem Griff des kleinen schlanken Mädchens zu befreien, doch dessen zarte Finger waren so stark wie die einer ausgewachsenen Arbeiterin.
»Sei einfach still«, keuchte es, vor ihm herlaufend.
»Aber ich will nach Rukastatt!«
Die junge Frau drehte ihren Kopf und sah Clay neugierig an. Sie hatte wunderhübsche haselnussbraune Augen, eine niedliche Stupsnase und einen sinnlichen Schmollmund. Auf ihrer linken Wange befand sich ein kleines Muttermal. Sofort fühlte sich Clay zu ihr hingezogen.
»Ich bring dich nach Rukastatt! Aber jetzt … sei … bitte … still … und lauf!«
Clay befolgte ihren Rat. Während das Mädchen wieder nach vorne blickte, wandte er sich um. Die bewaffneten Männer waren ihnen dicht auf den Fersen. Sie alle schienen unsagbar verärgert zu sein; nun nicht nur auf die junge Frau, sondern auch auf denjenigen, der ihr half – und das war niemand anderes als der gestrandete Astrum selbst.
Einer der Verfolger, der eine Glatze und einen buschigen Vollbart besaß, war ganz besonders in Rage. Viele auf seinem kantigen Gesicht verstreute Narben ließen darauf schließen, dass er bereits einige Kämpfe miterlebt hatte und lieber seine Fäuste für sich sprechen ließ. Diesen Kerlen in die Hände zu fallen, wollte Clay tunlichst vermeiden.
Die Verfolgung dauerte nun schon eine Weile an. Clay und seine junge Begleiterin flüchteten entlang der Schlucht. Ein falscher Tritt, und sie wären gestürzt. Doch das Gebrüll der Männer hinter ihnen verriet, dass ein Sturz in die Erdspalte das weitaus gnädigere Schicksal wäre.
Vor ihnen befand sich bereits die Grenze jenes Laubwaldes, der den Anfang der weiten Ebene kennzeichnete. Das Mädchen rannte zwischen den großen Bäumen hindurch, direkt in das Zentrum des Dickichts, und Clay folgte ihr.
Nun wurde die Flucht noch gefährlicher. Der Boden des Waldes war mit spitzen Ästen und scharfkantigen Felsen übersät. Clay sprang wiederholt über die vielen Hindernisse hinweg und hoffte auf eine glückliche Fügung.
Tatsächlich war ihm nun das Glück hold. Ein dicker Baum war so gefallen, dass er eine natürliche Brücke über die Schlucht zur Linken bildete. Aufgeregt stieß Clay einen Freudenschrei aus und deutete auf den Stamm, um das Mädchen, das ihn gegen seinen Willen mit sich zerrte, darauf aufmerksam zu machen.
Die flüchtende Jugendliche verstand. Sie schlug eine andere Richtung ein und hielt auf die Schlucht zu. Als sie nah genug war, sprang sie und landete sicher auf dem Baumstamm. Mit einer Eleganz, die ihr der Astrum nicht zugetraut hätte, balancierte sie auf die andere Seite des weiten Spalts. Kurz darauf folgte ihr Clay, auch wenn seine Bewegungen etwas wacklig und nicht ganz so anmutig waren.
Nachdem sie beide die andere Seite der Schlucht erreicht hatten, stemmten sie ihre Füße in den Boden und schoben mit aller Kraft am schweren Baumstamm. Er bewegte sich nur langsam, und die Männer, die sie verfolgten, kamen rasch näher.
»Beeilung!«, zischte das Mädchen.
Clay kniff seine Augen zusammen und verdoppelte seine Anstrengungen. Plötzlich fühlte er sich kraftvoll und kein bisschen erschöpft. Der Stamm rutschte schneller und schneller über den Waldboden – bis kein Untergrund mehr da war. Mit einem gewaltigen Poltern krachte der Stamm gegen die Wände der Schlucht und sauste dann in den dunklen Abgrund. Schon bald war er in der Finsternis der Tiefe verschwunden.
Auf der anderen Seite der Erdspalte begannen die Verfolger wie wild zu toben. Sie brüllten und schrien vor Wut, und ihre Messer zeigten in Clays Richtung.
»Sagt Mandar, er soll sich gefälligst abreagieren!«, rief das Mädchen mit dem schwarzen Haar keuchend, dann packte es erneut Clays Arm und zerrte ihn davon. Die Flüche der Männer wurden immer leiser und verstummten schließlich.
Einige hundert Schritte liefen die beiden Jugendlichen durch den Wald, bis sich das Mädchen schließlich auf einen mit Moos überzogenen Felsen niederließ.
»Hier dürften wir sicher sein«, meinte es schnaufend.
»Das ist alles, was du zu sagen hast?«, fragte Clay verärgert, der sich vornüberbeugte und nach Luft rang. »Wegen dir musste ich wie ein Verrückter durch diesen Wald rennen. Wegen dir muss ich jetzt auf der Hut vor diesen unheimlichen Typen sein.«
»Entschuldige«, knurrte sein Gegenüber gereizt, stand auf und verbeugte sich mit einer übertriebenen Bewegung. »Ich danke dir. So besser?«
Clay nickte. Er setzte sich auf den Waldboden und versuchte, ruhig zu atmen. Die Verfolgung hatte ihn erschöpft, und nun meldeten sich auch wieder Hunger und Durst zurück.
»Darf ich deinen Namen erfahren?«, fragte er dann, nachdem er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
»Ich heiße Marin«, sagte das Mädchen. »Und du?«
»Clay. Du wirkst etwas jünger als ich.«
»Ich bin fünfzehn Jahre alt«, bestätigte Marin seine Vermutung. Sie strich ihr pechschwarzes Haar aus dem Gesicht und lächelte. Der Astrum erwiderte das Lächeln nicht, da er immer noch verärgert war.
Marin senkte nachdenklich ihren Kopf, und Clay nutzte die Gelegenheit, um sie genauer zu mustern. Wieder kam er nicht darum herum, ihre natürliche Schönheit zu bewundern, obwohl ihre Wangen verschwitzt und ihre Handflächen schmutzig waren.
Ihr magerer Körper steckte einzig in zwei schäbigen Kleidungsstücken. Sie trug lange Hosen aus dünnem Material und hatte sich ein großes zerfranstes Tuch um den Oberkörper gewickelt, das beinahe bis zu ihren Knien herunterhing. Es kam Clay wie ein Wunder vor, dass sie damit so gut hatte laufen können und kein einziges Mal gestürzt war.
»Warum haben dich diese Männer verfolgt?«, fragte Clay. Er war nun nicht mehr so stark aufgewühlt, und seine Stimme war wieder sanft geworden.
»Weil ich arm bin«, lautete die kurze Antwort Marins. Nachdem ihr blondes Gegenüber nichts darauf sagte, fuhr das Mädchen mit der Erklärung fort. »In Rukastatt hat ein Mann namens Mandar das Sagen. Er besitzt unglaublich viel Geld, während alle anderen Menschen sehr arm sind. Die Leute bezahlen ihn, damit er ihnen nichts antut. Meine Mutter übergibt ihm alle Acht zwei Münzen, eine für ihren Schutz und eine für den meinen. Diese Acht hat ihm meine Mutter nur eine Münze anbieten können. Damit Mandar sie nicht tötet, bin ich geflüchtet. Und die Männer, die mich verfolgt haben, waren seine Schergen.«
»Hört sich schrecklich an«, sagte Clay überrascht. Es erstaunte ihn, welche Sitten hier auf dieser Insel, die im Grunde nicht weit von seiner friedlichen Heimat Maradonien entfernt lag, herrschten.
»Du kommst nicht von dieser Insel, oder?«, erriet Marin. »Jeder, der hier auf Pandra lebt, weiß, wie grausam es ist, direkt vor den Toren Utopias, also auf dem Inselring, zu enden. Ich wünschte, die Novae würden sich nicht so viel Zeit lassen, um Pandra einzunehmen.«
Ein Schrei eines Vogels hallte durch den Wald und ließ die beiden zusammenzucken. Für einen Moment hatten sie vergessen, dass sie immer noch in Gefahr sein konnten.
»Findest du denn gut, was die Novae tun?«, fragte Clay verwirrt, in Gedanken bei den Erklärungen des alten Moko, der nun nicht mehr unter den Lebenden weilte.
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Marin. »Sie töten Menschen und kontrollieren jeden ihrer Schritte. Aber im Gegensatz zu Pandra und dem gesamten Inselring ist Utopia das reinste Paradies – dort überlebt man, wenn man brav das tut, was man zu tun hat, und dort gibt es auch keine Monster wie Mandar.«
Clay dachte über diese Worte nach. Innerhalb weniger Tage hatte sich seine Meinung über das Zentrum Azuras komplett verändert. Zunächst hatte ihm der alte Moko von der Grausamkeit der Novae erzählt. Danach hatte er am eigenen Leib erfahren müssen, wozu die silberhaarigen Tyrannen tatsächlich fähig waren. Und nun berichtete ihm dieses Mädchen namens Marin von den Begebenheiten auf Pandra, das außerhalb der Grenzen Utopias lag und dessen arme Bewohner die Novae als eine Art Erlösung sahen.
Schließlich sprach Clay aus, was ihm in den Sinn kam.
»Ich will nach Utopia. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie Utopia wirklich ist.«
»Viel Glück«, sagte Marin und lachte hämisch. »Nur mit einem Haufen Geld ist es dir erlaubt, zu den Inseln Utopias zu segeln.«
»Dann schleiche ich mich auf eines der Schiffe, die dorthin fahren«, schlug Clay vor.
»Die werden strengstens kontrolliert, und wenn du erwischt wirst, wartet eine fürchterliche Strafe auf dich. Das klappt niemals.«
»Ich werde es trotzdem versuchen.«
Marin schüttelte verständnislos den Kopf. Nach einer Weile, während der beide Jugendliche vollkommen still waren, stand sie auf und schlenderte langsam davon. Clay folgte ihr schweigend.
Der Spaziergang durch den Wald war im Gegensatz zu der Lauferei sehr angenehm. Irgendwie genoss Clay es, neben dem hübschen Mädchen zu gehen und dabei kein einziges Wort zu verlieren. Er bemerkte, dass Marin ihn manchmal aus den Augenwinkeln heraus ansah und dann immer wieder schüchtern wegblickte.
Die Zeit verging, und irgendwann begann die Sonne unterzugehen. Clay und Marin befanden sich immer noch im Wald.
»Wenn wir jetzt nach Rukastatt gehen, laufen wir vielleicht Mandars Schergen über den Weg«, meinte Marin. »Wir sollten lieber hier übernachten und erst morgen in die Stadt zurückkehren. Ich hoffe, dass meine Mutter bis dahin eine weitere Münze auftreiben kann.«
Als der Astrum seine Bedenken kundtat, erklärte ihm Marin, dass es diesseits der Schlucht keine wilden Tiere gab, weshalb ein nächtlicher Aufenthalt im Wald völlig ungefährlich wäre.
So suchten sich Clay und seine weibliche Begleitung eine geeignete Stelle, wo sie übernachten konnten und vor neugierigen Blicken bewaffneter Männer behütet waren. Bald kamen sie an ein natürliches Gebilde großer Felsen, das ihnen Schutz bot.
Aufgrund der Hitze während des Tages wurde es selbst am Abend nicht sehr kalt, und auf dem Waldboden konnte man sogar besser schlafen als auf dem Holzbrett in der Kajüte der Lucky Banshee, fand Clay zumindest. Marin hatte sich in einiger Entfernung niedergelassen und öffnete immer wieder die Augen, um zu überprüfen, ob ihr neuer Bekannter auch brav an seinem Platz blieb und nicht auf dumme Ideen kam.
Nun, da die Sonne untergegangen war und Clays Gedanken auf den nächsten Tag gelenkt wurden, fragte er sich, was ihn erwarten würde. Ob er in Rukastatt auch helfende Personen treffen würde, oder war er bereits jetzt ein Gesuchter jenes gefürchteten Mannes namens Mandar? Sollte er Marin aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit mit ihren schrecklichen Verfolgern meiden? Würde er unbehelligt und sicher nach Utopia gelangen können?
Bevor er einschlief, dachte Clay an die turbulenten Ereignisse der beiden vergangenen Tage und kam zu dem Schluss, dass, obwohl er ein hübsches Mädchen kennengelernt hatte und seinem Ziel näher gekommen war, sein Abenteuer gar nicht schlimmer hätte beginnen können.
Am nächsten Morgen wurde Clay durch den fröhlichen Gesang der Vögel geweckt. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Die hoch am Himmel stehende Sonne, deren Strahlen durch das Blätterwerk drangen, zeigte ihm, dass er lange geschlafen hatte.
Mehrere Atemzüge lang starrte er geradeaus, ohne zu wissen, wo er sich befand. Als er sich plötzlich an die Begegnung mit dem schwarzhaarigen Mädchen erinnerte, blickte er sich um. Marin war nirgendwo anzufinden, doch Spuren eines Kampfes waren auch nicht zu sehen. Somit war klar, dass das Mädchen freiwillig gegangen war, ohne sich von Clay zu verabschieden.
Er nahm an, dass es ihr vermutlich aufgrund ihrer Vergangenheit schwer fiel, anderen Menschen zu vertrauen. Dennoch war Clay etwas niedergeschlagen, denn die Unterhaltung mit ihr hatte ihm trotz der Umstände Spaß gemacht, nicht zuletzt, da ihn die Mädchen auf Maradonien und den umliegenden Inseln wegen der mysteriösen Geschichten über ihn meistens gemieden hatten.
Doch als Clay aufstand, fielen ihm die Dinge auf, die an einem Baumstamm in der Nähe lehnten; festes Schuhwerk, lange dunkle Hosen und ein weinrotes Hemd sowie eine Tasche, in der sich ein Laib Brot und ein Beutel voll Trinkwasser befanden. In die Rinde des Baumes waren zwei Worte eingeritzt worden, die dem Astrum zeigten, dass er Marin doch nicht völlig gleichgültig war.
»›Danke, Clay.‹«