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Der Kampf beginnt

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Hekate schloss endlich die Augen und schlief ein. Leto atmete auf. Gute zwei Stunden lang hatte ihre Nichte sie über alles ausgefragt, was sie über Kronos und die gefangenen Kinder wusste – die grausame Geschichte schien sie zu faszinieren. „Das muss man sich mal vorstellen“, hatte sie noch schläfrig gemurmelt. „Der manipuliert die Zeit. Die Natur muss ganz schön böse auf ihn sein.“

Leto verließ leise das Kinderzimmer und trat aus der Haustür, um die in silbriges Mondlicht getauchte Landschaft zu betrachten. Die Natur muss böse auf ihn sein, dachte sie. Ja, ihre clevere Nichte hatte vermutlich einmal mehr ihre kleinen Finger auf den wunden Punkt gelegt: Kronos hatte es geschafft, die Natur selbst gegen sich aufzubringen, also war sein Untergang besiegelt.

Leto atmete tief die würzige Nachtluft ein und versuchte, beim Zirpen der Zikaden nicht an diese andere Nacht zu denken, in der sie den Gesang der kleinen Tiere so deutlich wahrgenommen hatten, als sich plötzlich zwei Arme um sie legten und sie in die Luft hoben. Warme Lippen pressten sich auf ihre, dann flüsterte Zeus in ihre Haare: „Leto, liebe Leto!“

Sie versuchte, etwas zu sagen, doch sie brachte nur ein unartikuliertes Geräusch zu Stande. Als er sie schließlich absetzte, schlug ihr Herz wie wild. Sie bedeutete ihm, still zu sein, und zog ihn hinter sich her ins Haus und in ihr Zimmer. Einen Moment lang blickten sie sich nur an, dann fielen sie wie ausgehungert, aber so leise wie möglich übereinander her. Sie pressten ihre Lippen aufeinander, tranken den Atem des anderen und zerrten verzweifelt an ihren Kleidern. Zusammen fielen sie auf Letos Lager. Die ausgestandene Einsamkeit und die Sehnsucht führten dazu, dass sie sich fest ineinander verschränkten. Sie liebten sich ansatzlos, heftig und verzweifelt, ohne sich auch nur einen Moment loszulassen.

Als sie sich schließlich eng umschlungen in den Armen lagen, flüsterte Leto: „Du bist nicht auf immer in die Tiefen des Tartaros verbannt. Das ist schon mal ein gutes Zeichen, oder?“

Zeus lachte lautlos.

„Fürs erste ja. Aber der schwierige Teil kommt noch. Bisher war alles nur ziemlich bizarr.“

Leto strich liebkosend über seine breite Brust. „Erzähl.“

Zeus lehnte sich zurück, zog sie an sich, ordnete seine Gedanken und begann zu mit leiser Stimme zu erzählen.

„Als ich meiner Mutter gefolgt bin, fühlte ich mich erst einmal wie betäubt. Ich hatte mein Leben lang an kaum etwas anderes gedacht als an den Tag der Rache, aber seit ich dich kannte, kam mir das alles so unwirklich vor. Ich hatte das Gefühl, dass du die Realität bist und sonst nichts. Von dir fortzugehen, war wie in einen Traum zu steigen, aus dem ich schon aufgewacht war. Meine Mutter verstärkte dieses Gefühl noch. Du hast sie ja gesehen, es ist, als ginge sie in irgendeiner Rolle auf. Manchmal warte ich darauf, dass sie plötzlich ganz normal guckt und so etwas sagt wie 'so müsste man eine von Rachegedanken zerfressene Person spielen, nicht wahr'. Was sie natürlich nicht tut.

Das unwirkliche Gefühl verstärkte sich für mich, als ich mir vor Augen hielt, dass ich in kurzer Zeit dem Herrscher der Welt den Kampf ansagen sollte, mit der Hilfe von niemand anderem als fünf hoffentlich dem Zeitfluch entrissenen Geschwistern. Ich meldete leise Bedenken an, und Rheia betrachtete mich tadelnd.

'Glaubst du wirklich, dass ich die ganze Zeit untätig gewesen bin, während du auf Kreta spazieren gegangen bist?'

Sie schüttelte den Kopf und führte mich in einen Hain, den sie sehr gut zu kennen schien. Es war seltsam dort, am Rand sah man noch Vogelnester und hörte das Rascheln von kleinen Tieren im Unterholz, aber je tiefer wir vordrangen, desto stiller wurde es, bis sich schließlich nichts mehr regte. Dabei ist der Wald so hübsch, wie man ihn sich nur denken kann – nur schienen die Tiere dort etwas zu spüren, in dessen Nähe sie sich nicht wagten. In der Mitte des Hains stießen wir auf eine Art Tempel; er war von schlichter Erhabenheit und durchaus schön anzuschauen, aber fast die gesamte Front war von der Türöffnung eingenommen, und das ganze Gebäude war verwittert und mit Moosen und Flechten bewachsen, als habe sich schon sehr lange niemand mehr darum gekümmert. Rheia bedeutete mir einzutreten. An der Stelle, an der der Altar zu stehen pflegt, öffnete sich zu meinem Erstaunen der Boden für eine Treppe, die abwärts führte, ins Innere der Erde hinein. Ich fühlte deutlichen Unwillen, aber genau das war der Weg, den wir einschlugen, nachdem Rheia eine Fackel entzündet hatte, die sie ihrem Beutel entnommen hatte. Sie schien genau zu wissen, was wir taten, aber sie wehrte meine Fragen ab, als wären sie störende Insekten.

Die Treppe war sehr steil, aber der Gang an sich überraschend hoch und breit – ich konnte die Decke im flackernden Fackelschein nicht sehen, aber als ich eine der Wände genauer betrachtete, wurde mir ziemlich unheimlich: Hier war nichts ausgebaut oder abgestützt, wir waren in einem Tunnel, der schlicht ins Erdreich gegraben, der auch mühelos durch Felsschichten getrieben worden war. Nicht ein Steinchen, nicht eine Erdkrume lag auf den Stufen, irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Eine solche Konstruktion hätte eigentlich sofort einstürzen müssen.

Nach einer Ewigkeit, wie es mir schien, blieb Rheia endlich stehen, weil die Treppe von einem Felsblock versperrt wurde. Hier ließ sie sich auf die Knie nieder und begann zu beten – oder jedenfalls einen leisen Singsang anzustimmen. Die einzigen Worte, die ich zu verstehen vermochte, waren Namen: Der meine, der meines Vaters und der der Urmutter Gaia. Rheia hielt während ihres Gesanges beide Hände an eine Seite des Ganges gedrückt, und manchmal glaubte ich zu sehen, dass sie wie liebkosend die Finger bewegte. Einige Stunden lang geschah nichts, doch ob es der Gesang war, der sie rührte, oder die winzigen Streicheleinheiten – Gaia reagierte schließlich. Die Erde begann zu beben, die Treppe, auf der wir standen, geriet in Bewegung, und schließlich kam der Felsblock ins Rutschen. Rheias Augen leuchteten auf, und sie befahl mir, mich mit aller Kraft gegen den rutschenden Fels zu stemmen. Ich kam dem nach, und es war eine ungeheuer schwere Aufgabe. Mir tat jede einzelne Faser weh, denn die Eigenbewegung des Felsens war schnell vorüber, doch nach einer letzten Anstrengung stürzte er endlich in eine Grube, vor der er gelegen hatte, und ließ eine beinahe glatte Fläche zurück, hinter der sich die Treppe weiter nach unten fortsetzte.

Rheia sang der Urmutter einen inbrünstigen, aber kurzen Dank, dann drängte sie mich zurück. Erst, als wir den Tempel wieder verlassen hatten, wagte ich sie zu fragen, was da gerade geschehen sei. Rheia lächelte düster und sagte: 'Gaia hat dir soeben die Hilfe ihrer ältesten Kinder versprochen: Wenn der Kampf beginnt, werden die hundertarmigen Riesen und die Zyklopen an deiner Seite kämpfen. Gaia kennt und versteht meine Qualen: Ihre Kinder sind seit den Tagen des Uranos in die Tartarostiefen verbannt, und eben haben wir ihnen den Weg in die Freiheit geebnet.'

Mich überliefen Schauder, denn von diesen Wesen hatte ich nur als Kind gehört, und ich dachte, dass die Nymphen mich ängstigen wollten. Du kennst die Geschichten sicher auch“, unterbrach Zeus sich selbst, denn Leto war heftig zusammen gezuckt. „Allerdings“, flüsterte sie. „Aber ich dachte auch, dass es sie nicht wirklich gibt. Ihr habt sie befreit?“

„Ja. Ich weiß nicht, ob ich es getan hätte, wenn ich vorher gewusst hätte, was meine Mutter da vor hatte, aber nun bin ich immerhin froh, dass die Wesen für und nicht gegen mich kämpfen werde – jedenfalls, wenn die Abmachung eingehalten wird.

Wieder auf dem festen Erdboden gab Rheia mir diesen Trank von Metis, den ich schon erwähnte, und ging mir wieder voran auf dem Weg zum Palast des Kronos. Ehe sie mich jedoch in die Nähe meines Vaters brachte, führte sie mich in die Kellergewölbe und wies mich an, mir den Weg gut einzuprägen. Schließlich deutete sie stumm auf ein Verlies, und ich blickte durch das kleine Gitter. Als meine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte ich, dass fünf Säuglinge darin lagen, die entweder schliefen oder aus kugelrunden Augen in die Welt blickten. Einer lutschte an seinem eigenen Zeh. Das Bild war einfach nur unwirklich für mich, und ich fragte mich schon, ob ich bald aufwachen werde, als Rheia hinter mir fauchte: 'Und sie sind alle älter als du!'

Ich fuhr zusammen, und dann fiel mir das Baby aus Lehm nahe der Tür auf, das ich hätte sein sollen. In diesem Moment hätte ich Kronos würgen können. Natürlich hätte das gar nichts gebracht, aber es wäre eine Erleichterung gewesen.

Rheia kleidete mich wie die überraschend zahlreichen Diener und gab mir die Anweisung, meinen Blick gesenkt zu halten – Kronos wäre sicherlich das einzige andere blaue Augenpaar außer seinem in diesem Haus aufgefallen. Sie zeigte mir einen weiteren Stapel mit Kleidern, die sie im Flur vor dem Esszimmer deponiert hatte, in dem ich bei dem Festmahl an diesem Abend Wein ausschenken würde.

Glücklicherweise war Kronos während der Feier sehr mit Freunden beschäftigt, man lachte und aß und trank eine Menge, und der neue Mundschenk fand keinerlei Beachtung. Es war von jeher Rheia, die sich um die Diener kümmerte. Meist stellte sie Menschen ein, und die werden ja sowieso nicht so alt, sodass Kronos an Fluktuation in seiner Dienerschaft gewöhnt war. Zumal er hübsche, junge Menschen bevorzugt – ältere machen ihn nervös, denn sie zeigen ihm den Verfall.

Ich mischte also das Mittel von Metis in den Wein meines Vaters, und als er getrunken hatte, begann er kurz zu schwanken und legte sich die Hand über die Augen, als sei ihm schwindelig. Ich machte, dass ich aus dem Raum kam, griff mir die von Rheia bereitgelegten Kleider und lief so schnell wie möglich zum Kerker. Die Tür sah aus wie zuvor, doch als ich sie aufbrach, standen dahinter fünf sehr verwirrte, erwachsene, nackte Personen. Ich warf ihnen die Kleider über und befahl ihnen, mir so schnell wie möglich zu folgen, wusste ich doch nicht, wie lange die Wirkung des Tranks anhalten würde.

Sie kamen meiner Aufforderung nach, und als wir in sicherer Entfernung des Palastes waren, hielt ich an und fragte nach ihren Namen. Erst schauten sie sich verunsichert an, aber dann war es, als fiele ihnen etwas ein, das sie lange vergessen hatten. Zögernd und unsicher stellten sie sich vor, als Hestia, Demeter, Hera, Poseidon und Hades. Ich sagte ihnen, wer ich bin und erzählte, was mit ihnen geschehen war. Allerdings musste ich nicht zu Ende reden, sie hatten es gewusst; dieses Wissen hatte nur einen leichten Anstoß erhalten müssen, um in ihren Köpfen geweckt zu werden.

Vielleicht kannst du dir vorstellen, wie jetzt Zögern und Unsicherheit von Zorn verdrängt wurden.

Ich war mir nicht sicher gewesen, wann wir unserem Vater den Krieg erklären sollten, aber ab dem Moment der Erkenntnis hatte ich keine Wahl mehr. Die anderen drängten mich zum Palast zurück, in dem Kronos natürlich gemerkt hatte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Er hatte auch bereits den aufgebrochenen Kerker gefunden und wusste, was das zu bedeuten hatte. Er sah ziemlich Furcht erregend aus, als er uns entgegen schaute.

Er ließ seine Blicke über uns alle schweifen, dann blickte er mich finster an. 'Zeus', sagte er, und es klang, als verfluche er mich. 'Du willst mich stürzen.'

Was konnte ich dazu sagen? Ich habe nur genickt.

'Wir werden kämpfen', sagte er und streckte die Hand aus, um auf einen Punkt hinter uns zu zeigen.

'Dort werde ich meine Getreuen versammeln, auf dem Berge Othrys.'

Ich blickte in die Richtung, in die er wies, und betrachtete das Gelände, ehe ich ihm erklärte: 'Dann werden wir auf dem Olympos Aufstellung beziehen.'

Er nickte finster, machte auf dem Absatz kehrt und ließ uns in der Nacht stehen.

Wir sind zum Olympos gewandert und haben begonnen, uns einzurichten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Kronos eintrifft, und dann – dann beginnt der Krieg. Der Krieg, der erst endet, wenn einer von uns im Tartaros eingekerkert wird.

Und ich habe es nicht ertragen ohne dich, darum habe ich heute den anderen alles überlassen und bin gekommen, um dich wieder in den Armen zu halten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich dazu noch oft Gelegenheit bekomme, wenn die Schlachten erst begonnen haben, darum muss ich mich an jede kleine Einzelheit genau erinnern.“

Er suchte im Dunkeln ihre Lippen.

„Ich liebe dich, Leto.“

Sie unterdrückte ein kleines Schluchzen.

„Nimm mich mit!“

Er strich ihr sanft die Haare.

„Ich schwöre dir, dass ich das nicht tun werde. Du bist das wertvollste Geschöpf, das mir je begegnet ist, und ich werde dich nicht dieser Gefahr aussetzen. Außerdem könnte ich mich auf keine Kampfhandlung konzentrieren, wenn ich dich dort oben wüsste. Nein, du wirst hier bleiben, und ich werde zu dir kommen.“ Er machte eine Pause.

„Leto?“

„Ja?“

„Sagst du es mir?“

Sie holte zitternd Luft. „Ich liebe dich.“

Noch vor dem Morgengrauen war er wieder verschwunden.

Leto gesellte sich später als üblich zu ihrer Familie. Nachdem Zeus gegangen war, hatte sie in ihre Kissen geweint, überwältigt von seinem Besuch und dem neuerlichen Abschied und von kalter Angst, dass das wankelmütige Glück sich doch Kronos zuneigen könnte. Als sie schließlich eingeschlafen war, hatten sie Alpträume von den Urwesen gequält, denen jetzt der Weg in die Freiheit offen stand. Sie fuhr schließlich in dem Moment mit einem Schrei aus dem Schlaf, in dem einer der hunderthändigen Riesen nach Zeus griff und ihn vom Olympos zu stürzen drohte.

Nachdem sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle gebracht hatte, zog es sie mit Macht zu Koios und Phoibe. Die beiden zusammen strahlten immer so viel Wärme und Harmonie aus, dass Leto sich in ihrer Gegenwart stets geborgen gefühlt hatte, und gerade jetzt brauchte sie Trost.

Als sie jedoch die Küche betrat, saß Phoibe mit leichenblassem Gesicht am Tisch, während Koios mit ernstem Gesicht einen Lederbeutel packte. Asteria bereitete schweigend etwas vor, das verdächtig nach Proviant aussah, und Hekate spielte am Boden mit den Puppen ihrer Mutter, die sie auf zwei gegenüber liegenden Bergen aus Stoffresten postiert hatte.

Leto blickte zwischen ihnen hin und her.

„Was ist geschehen?“

Koios sagte leise: „Kronos hat nach mir geschickt. Ich gehe, um ihm im Kampf beizustehen.“

Phoibe ließ einen leisen Klagelaut hören, der an einen verwundeten Vogel erinnerte.

Leto hatte das Gefühl, dass die Welt erst anhielt, um sich dann in wahnwitzigem Tempo weiter zu drehen.

„Du tust was?“

Koios machte eine Handbewegung, die anzudeuten schien, dass es darüber nichts mehr zu sagen gäbe. Leto ging zwei schleppende Schritte auf ihn zu, die Hand halb erhoben, ehe sie wieder stehen blieb.

„Nein, neinneinnein, das ist falsch. Was ist denn passiert? Du hast doch immer gesagt, dass Kronos so – anders ist. Warum willst du ihn jetzt unterstützen?“

Ihr Vater hielt im Packen inne und ließ einen müden, ungeduldigen Blick auf Leto ruhen, als habe er dies Gespräch schon mehrfach geführt.

„Ganz einfach, ich stehe in seiner Schuld, und wenn er jetzt den Gefallen einfordert, den ich ihm schulde, dann muss ich ihn ihm erweisen.“

Leto wurde kalt.

„Vater!“ Sie merkte, dass sie fast geschrieen hatte, und zwang ihre Stimme herab.

„Kronos wird unterliegen, die Erde selbst ist gegen ihn, und wenn du ihm hilfst, bedeutet das den Tartaros für dich!“

Phoibe presste die Hand vor den Mund, während Asteria drehte sich tadelnd nach ihrer Schwester umdrehte.

„Fühlst du dich dem zukünftigen Weltherrscher schon so verbunden, dass du an seiner Stelle Drohungen aussprichst?“

Leto zuckte zurück, als habe Asteria sie geohrfeigt, aber Koios trat zwischen seine Töchter.

„Still, Asteria, sei nicht unfair. Leto kann nichts dafür, und wenn ich den Gerüchten Glauben schenken darf, der junge Zeus auch nicht. Die Kinder des Kronos haben alle gemeinsam bei der Styx geschworen, dass ihre Widersacher in den Tartaros verbannt würden, da konnte er als ihr Anführer sich schlecht entziehen.“

Bei der Styx! Leto schnürte es den Hals zu. Wenn ein Unsterblicher bei dem grausen Unterweltfluss schwor und den Schwur brach, musste er ihn überqueren – und sein ewiges Leben aufgeben, um auf immer als Schatten durch das Totenreich zu streifen und der Vergessenheit anheim zu fallen. Der Schwur bei der Styx war der einzige, der nie gebrochen wurde.

Wenn Leto in den letzten schrecklichen Minuten angenommen hatte, dass Zeus ihren Vater vielleicht begnadigen könnte, war diese Hoffnung jetzt dahin.

Sie musste Koios von seinem tödlichen Plan abbringen.

„Vater, kannst du nicht doch noch einmal überlegen, ob du Kronos so viel schuldest, dass du dein Leben für ihn aufgeben willst?“

Koios hielt inne und bedachte seine Älteste mit einem Blick, der sie vor Schreck zurücktaumeln ließ. Wut schwang darin mit und – was war das, das Bewusstsein von Schuld? Als er sah, wie Leto reagierte, hob er entschuldigend die Hand, kam um den Tisch herum und fasste sie an beiden Oberarmen.

„Ich habe es nicht so genau erklären wollen, aber ja, ich schulde Kronos so viel. Mehr als das. Ich habe sein Leben auf dem Gewissen. Oder seinen Geist, wie auch immer du es nennen möchtest.

Als wir gefangen waren und Gaia uns die Sichel mit dem Eschenholzgriff anbot, mit der Uranos gestürzt werden sollte, hat sie sich als Letztes an Kronos gewandt. Jeden einzelnen von uns anderen hat sie zuvor gefragt, denn Kronos war der Jüngste von uns. Er war noch nicht einmal erwachsen! Keiner von uns hat es über das Herz gebracht, teils, weil wir Skrupel hatten, teils aber auch, weil wir einfach Angst hatten, Angst vor Uranos, vor einem möglichen Versagen und seiner Rache. Dadurch, dass wir uns gedrückt haben, haben wir eine fürchterliche Sünde auf Kronos geladen. Auch er war nicht von Geburt an böse oder seltsam, aber was glaubst du, was eine solche Tat in einem jungen Gemüt für Spuren hinterlassen muss? Wir haben ihn durch Unterlassen zu dem gemacht, was er ist – und jetzt, nach so langer Zeit des Schuldgefühls, bittet er um meine Anwesenheit. Nicht nur, dass ich ihm unsere Befreiung zumindest im Ansatz vergelten kann, ich bekomme endlich auch eine Gelegenheit, mein Gewissen zu erleichtern. Nein, Leto, was du auch sagst, ich werde gehen. Ich muss.“

Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn.

„Gib deinem jungen Mann nicht die Schuld. Als all das angefangen hat, was jetzt ein Ende finden wird, existierte noch nicht einmal die Idee von ihm.“

Er wandte sich um und griff nach dem Beutel, den er gepackt hatte. Im selben Moment erhob Phoibe sich schwankend, aber ihre Stimme klang fest.

„Ich komme mit dir.“

Sie schnitt Koios mit einer bestimmten Handbewegung das Wort ab, als er nach einer Schrecksekunde scharf protestieren wollte.

„Sag nichts. Ich war mit dir im Kerker, ich habe die Sichel auch nicht genommen. Die Schuld, von der du gesprochen hast, ist ebenso gut auch die meine. Außerdem würde ich lieber die Ewigkeit mit dir im Tartaros verbringen als ohne dich hier, wo wir zusammen glücklich gewesen sind.“

Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er nahm sie, um sie an seine Lippen zu ziehen. Wortlos schauten sie sich an, dann küssten sie ihre Töchter und ihre Enkelin und verließen das Haus. Leto blickte ihnen wie versteinert nach, als sie langsam in der Ferne verschwanden, die Arme umeinander gelegt, als wollten sie sich gegenseitig stützen.

Als Leto sich schließlich umdrehen konnte, schaute sie direkt in Asterias Gesicht, die ihren Blick einige Sekunden lang erwiderte und sich dann abwandte, um mit langen Schritten das Zimmer zu verlassen.

Hekate rief vom Boden aus: „In den Tartaros auf alle Ewigkeit!“

Eine der Puppen war von ihrem Berg gestürzt, die andere triumphierte.

Leto und Niobe

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