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Banges Warten

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In dem Haus, das Leto mit Asteria und Hekate teilte, war es still und traurig geworden. Asteria gab Leto zumindest zum Teil Schuld am Verlust ihrer Eltern, was ihr Verhältnis empfindlich trübte. Waren die beiden früher zwar unterschiedlich gewesen, sich aber in einer etwas sorglosen Weise dennoch herzlich zugetan, glichen sie heute eher oberflächlich Bekannten, die zufällig das Haus miteinander teilten. Leto litt sehr darunter, war sie doch von jeher harmoniebedürftiger als ihre Schwester.

In Ermangelung anderer Gesellschaft schloss sie sich ausgerechnet ihrer wenig geliebten Nichte an. Hekate war zwar eine durch und durch kühle kleine Person, aber sie verurteilte ihre Tante nicht, weil sie wusste, dass diese keine Schuld traf.

Leto selbst versuchte, ihr Unbehagen zu unterdrücken und fand erstaunt heraus, dass ihre Nichte nicht weltabgewandt war, wie sie gedacht hatte, sondern vielmehr äußerst pragmatisch. Das Kind wirkte nur manchmal so fern, weil es sich auch mit der unsichtbaren Realität beschäftigte, den Mond konsultierte, den Toten Fragen stellte und Visionen nachhing, die ihm von fernen Geschehnissen berichteten. Was es dabei herausfand, münzte es direkt um in praktische Ratschläge, die genauso gut die Olivenernte wie die Pflege kranker Menschen betreffen konnten.

Als Hekate gerade sieben Jahre alt geworden war, wurde Leto, als sie Gemüse für das Abendessen putzte, auf das Spiel des Mädchens mit ihren Puppen aufmerksam. Zwei von ihnen wurden von den kleinen Händen aneinander gedrückt, was Hekate mit Kussgeräuschen begleitete.

Leto lächelte.

„Na, was spielst du denn da?“

Hekate blickte ernst auf.

„Das sind du und Zeus.“

Leto wurde mulmig. Was hatte das Mädchen noch mitbekommen, als Zeus kurz vor Kriegsbeginn da gewesen war?

„Nachher“, erklärte ihr die gleichmütige Stimme vom Boden.

„Er kommt heute, weißt du.“

Der Mond war gerade aufgegangen, als Leto vor das Haus trat, um zu warten. Diesmal hatte sie sich vorbereiten können: Sie hatte gebadet, Stunden mit ihren Haaren vertändelt und sich drei Mal umgezogen. In ihrem Zimmer wartete ein Imbiss, und sie fühlte sich keinen Tag älter als vierzehn.

Nur wenige Minuten waren vergangen, als sie das Geräusch von Schritten auf dem Weg hörte. Sie konnte nicht mehr still stehen, lief los und warf sich dem überraschten Zeus direkt in die Arme.

Geraume Zeit verstrich, in der sie sich nur festhielten, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Als die Streicheleinheiten sich jedoch subtil zu verändern begannen und Leto merkte, wie sehnsüchtig ihr Körper reagierte, zog sie wie vor eineinhalb Jahren Zeus schnell mit ins Haus.

Diesmal war es anders als früher, ihre gemeinsame Zeit war so kurz gewesen und die Trennung so lang, dass sie sich neu entdecken mussten. Im Kerzenschein, der ihr Zimmer erhellte, erschrak Leto außerdem über die Furchen und Falten, die die Sorgen der ersten Kriegszeit in Zeus‘ Gesicht gegraben hatten.

Ihre Küsse wurden um einiges sanfter, ihre Hände bewegten sich vorsichtiger und liebevoller, als versuchten sie, alle seine Sorgen fort zu streicheln. Zeus legte den Kopf in den Nacken und blickte sie einen Moment lang nachdenklich an, doch ehe sie fragen konnte, was er habe, küsste er sie wieder, diesmal mit allem Ungestüm, den er auch am ersten Tag aufgebracht hatte, um riss sie mit sich fort. Jetzt erkannte sie ihn wieder: Sein Blick brannte ebenso hell in ihren Augen wie früher, und ihre Haut begrüßte die vertrauten Finger. Unwillkürlich drängte sich ihr Becken ihm entgegen, und er nahm die Einladung gern an. Er schloss sie in die Arme, als wollte er sie nie wieder loslassen, verhakte seine Beine mit den ihren und wurde eins mit ihr, wie sie es so oft geträumt hatte, seit er gegangen war.

Erst viel später, als sie wieder zu Atem und Worten kamen, zeichnete er ihre Lippen mit den Fingerspitzen nach und sagte: „Also, erzähl. Wie schlimm ist es?“

Obwohl sie es sich denken konnte, fragte sie: „Was meinst du?“

„Mich.“ Zeus seufzte. „Du hast mich behandelt wie ein rohes Ei. Du hast dich ja kaum getraut, mich anzufassen. Bin ich schon ein alter Mann geworden?“

„Nein.“ Leto drängte sich an ihn. „Du hast recht, ich habe mich ein bisschen erschreckt. Aber nicht, weil du alt geworden bist, sondern weil man dir deine Sorgen so deutlich ansieht. Willst du nicht erzählen?“

Zeus nickte, setzte sich auf und bat um ein Glas Wein. Leto beeilte sich, ihm einzuschenken, und zog den kleinen Tisch mit dem Essen neben ihn. Solcherart versorgt und mit Leto in seinem Arm begann Zeus seinen Bericht.

Es gehe allen gut – sowohl auf dem Olymp als auch auf dem Othrys.

Als Leto sich neben ihm spürbar entspannte, blickte er betreten zu Boden.

„Leto“, begann er, „deine Eltern... ich wusste nicht...“

Sie schnitt ihm das Wort ab.

„Sag nichts. Ich wusste es auch nicht, wie solltest du? Es ist nur... gut zu hören, weißt du?“

Zeus nickte unglücklich.

„Wenn ich das Ganze noch abbrechen könnte, ich würde es sofort tun, das weißt du doch?“

„Ja. Aber du kannst nicht. Du hast bei der Styx geschworen, nicht wahr?“

Er blickte sie erstaunt an.

„Das weißt du? Woher?“

„Mein Vater erzählte es mir, bevor er losging.“

Zeus Miene zeigte Fassungslosigkeit.

„Er hat davon gewusst und ging trotzdem, um Kronos beizustehen?“

Leto seufzte und erzählte, was ihr Vater von seinen Motiven gesagt hatte.

Zeus stützte während ihrer Geschichte die Stirn in die Hände und schaute letztlich mit einem Fluch auf.

„Was für ein Mann! Das alles ist vollkommen verquer. Ich bin mir sicher, dass Koios und ich uns gut verstanden hätten, wenn wir nicht gezwungen wären, auf zwei verschiedenen Seiten zu kämpfen.

Ich bin Anführer in einem Krieg, den sich alle anderen Beteiligten auf meiner Seite mehr gewünscht haben als ich.“

Leto betrachtete ihn aufmerksam.

„Wie sind sie denn, deine Geschwister?“

„Sehr unterschiedlich. Hestia ist eine häusliche Person, sehr mütterlich. Sie kümmert sich vor allem um unsere Verpflegung, wenn wir nicht kämpfen, und hat irgendwie das Wunder vollbracht, dass selbst das Lager halbwegs wohnlich ist. Sie sagt nicht viel, ist aber irgendwie lieb, wie ich finde.

Demeter betrachtet dauernd den Himmel, sagt anhand des Vogelflugs das Wetter vorher und kennt alle Pflanzen dieser Welt, glaube ich. Ein echtes Naturkind, Gaia hat bestimmt ihre Freude an ihr. Große Politik scheint ihr, ähnlich wie Hestia, fremd zu sein, den Kampf mit Kronos sieht sie als rein persönliche Angelegenheit.

Hera ist da schon ein anderer Fall, sie scheint keine besonderen Vorlieben zu haben, die andere in den Hintergrund drängen könnten. Sie hat ein allumfassendes Interesse an der Welt und leider auch an der Politik, und ich muss sagen, dass ich sie ziemlich herrschsüchtig finde. Wir sind tatsächlich schon das eine oder andere Mal aneinandergeraten, wenn sie versucht hat, an meiner Stelle Befehle zu erteilen. Andererseits muss ich zugeben, dass sie durchaus klug ist und zu planen versteht. Wenn sie Anweisungen gibt, dann meist mit einer solchen Stimme und einem solchen Gebaren, dass man gehorchen möchte. Sie ist sehr autoritär.

Poseidon dagegen ist ein Bruder, wie er im Buche steht. Ich habe ihn sehr gern, er ist freundlich, ein bisschen aufbrausend, aber er mischt sich nicht in meine Angelegenheiten, wenn ich mich nicht in seine mische. Fast bin ich mir sicher, dass es ihn, sobald der Krieg vorbei ist, ans Meer zieht: Wann immer er kann, ist er am oder im Fluss, er kennt alle Fischarten und Krebstiere und verfolgt die Seevögel mit den Augen, bis sie am Horizont verschwunden sind.

Hades schließlich ist ein düsterer Mann. Er lacht so gut wie nie und wirkt immer, als hätte er etwas Tragisches gesehen, das sich vor den Augen Anderer verbirgt. Manchmal, wenn ich mit ihm rede, erinnere ich mich an das, was du von Hekate erzähltest; dass du sie ein wenig unheimlich findest. Mit Hades geht es mir ähnlich, er ist eindeutig gruselig. Aber er besitzt Organisationstalent und ist fleißig.“

Einen Moment herrschte Stille, als Zeus seinen Gedanken nachhing und Leto registrierte, wie wenig sie doch auch nach diesen Beschreibungen von Zeus’ Mitstreitern wusste. Und das waren ja längst noch nicht alle… Schließlich fragte sie zögernd, weil ihr heimlich vor der Antwort graute: „Was ist mit den hundertarmigen Riesen und den Zyklopen?“

Zeus runzelte die Brauen und ließ ein Seufzen hören.

„Ich weiß es nicht. Sie sind nicht gekommen. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, um sie zu rufen. Vermutlich gibt es da noch eine Art Geheimnis, das ich herausbekommen muss.“

Er blickte sie an.

„Kann ich dir etwas anvertrauen?“

„Natürlich.“

„Das würde ich zu niemandem auf dem Olymp sagen, aber... ich habe das Gefühl, dass das alles umsonst ist. Dass wir uns im Kreis drehen. Meine Geschwister und ich sind unsterblich. Meine Vater und seine Geschwister sind es auch. Was genau versuchen wir da? Ich meine, der Schwur damals, dass wir unsere Feinde in den Tartaros verbannen würden, war zwar schon eine feierliche Angelegenheit, aber letztlich bleibt uns ja auch nichts anderes übrig. Töten können wir uns jedenfalls nicht gegenseitig. Wir können uns in erderschütternden Schlachten gegenübertreten, aber das war es dann auch schon. Ich bin, ehrlich gesagt, ratlos.“

Leto machte ein derartig erstauntes Gesicht, dass Zeus fast lachen musste.

„Moment mal“, bat sie ungläubig. „Willst du damit sagen, dass in all der Vorbereitungszeit, seit du vor der Zeitfalle gerettet wurdest und seit deine Geschwister erlöst wurden und so weiter, niemand einen wirklichen Plan entworfen hat?“

Zeus nickte.

„Irgendwie lächerlich, wenn man es richtig bedenkt, nicht wahr?“

Leto begann zu kichern. Dass das nicht wirklich angebracht war, wusste sie nur zu gut, aber die ganze Anspannung und Traurigkeit der letzten achtzehn Monate, seit ihr Geliebter und ihre Eltern sie verlassen hatten, brachen sich jetzt Bahn und äußerten sich in hysterischem Gelächter über den Krieg, der plötzlich nur mehr ein zögerlicher Schlagabtausch war, während beide Seiten fieberhaft überlegten, wie man die Situation würdevoll lösen konnte.

Zeus fiel mit ein, er lachte über sich selbst und die ganze seltsame Situation, und weil er Leto lachen sah, wie er sie seit jenem ersten Tag am Strand von Kreta nicht mehr hatte lachen sehen. Einen Moment lang standen ihm diese wunderschönen Stunden vor Augen, und er nahm sie in die Arme und drückte sie zurück in die Kissen. Einmal noch wollte er die stürmische Zärtlichkeit dieser Stunden wieder aufleben lassen.

Als Zeus sich schließlich kurz vor Tagesbeginn zum Aufbruch rüstete, sagte Leto schuldbewusst: „So lustig war das alles gar nicht, nicht wahr?“

Zeus streichelte zärtlich ihre Wange. „Nein. Aber es hat gut getan.“ Er küsste sie. „Ich komme wieder, so bald ich kann. Vergiss nicht, dass ich dich liebe.“

In den nächsten Jahren besuchte Zeus Leto in unregelmäßigen Abständen. Er kam immer, wenn die Sonne untergegangen war und ging mit Tagesanbruch. Leto war nie unvorbereitet, denn durch Hekate wusste sie jedes Mal vorher Bescheid. Asteria ließ es sich nicht nehmen, jeweils am nächsten Morgen schneidende Kommentare abzugeben, wenn sie Zeus gehört hatte.

Leto war einsam in dieser Zeit, sie zehrte von seinen Besuchen und träumte vom Frieden, wenn sie endlich Zeit haben würden, zusammen zu sein. Zeus veränderte sich mit der Zeit, er wurde mutloser und mürrischer, weil er nicht vorankam, blieb Leto jedoch herzlich zugetan. Viel Neues allerdings konnte er jahrelang nicht berichten. Das änderte sich jäh, als das zehnte Kriegsjahr zu drei Vierteln vorbei war. Hekate, die inzwischen fünfzehn Jahre zählte, kam mit einem leicht erstaunten Gesichtsausdruck abends zu ihrer Tante.

„Leto, wenn ich dir sage, dass du morgen abend bei dem Olivenbaum auf Kreta sein sollst, weißt du dann, was gemeint ist?“

Leto und Niobe

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