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Verrat

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Als Zeus in der Abenddämmerung auf sie zu lief, fiel Leto sofort die Veränderung auf: Er sah jünger aus, entschlossener, voller Elan. Er riss sie in die Arme, drehte sich mit ihr im Kreis, dass ihre Haare flogen und rief: „Bald ist es vorbei, bald herrscht wieder Frieden. Ein neues Zeitalter wird anbrechen!“

Er küsste sie stürmisch und ließ sie keine Fragen stellen, ja, sie schafften nicht einmal den kurzen Weg bis zu Zeus' Grotte. Die halbe Nacht über ließ er Leto nicht aus seinen Armen, kaum, dass sie Zeit zum Luftholen hatte.

Schließlich drückte sie den euphorischen Zeus mit beiden Händen ein wenig von sich, schaute ihm ins Gesicht und fragte: „Was um alles in der Welt ist denn passiert?“

„Entschuldige.“

Zeus sammelte sich und ordnete seine Gedanken.

„Die Zyklopen sind gekommen. Sie sind kunstfertige Schmiede und haben ein uraltes Wissen, das mit dem unseren nicht vergleichbar ist. Sie haben mir Waffen konstruiert, dafür haben sie so lange gebraucht. Sie wollten meinem Ruf am ersten Tag folgen, aber nicht mit leeren Händen kommen. Jedenfalls haben sie mir Kriegswerkzeug ausgehändigt, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Sie nennen die Waffen Blitz und Donner, wobei der Blitz eine Art leuchtender Strahl ist, mit dem man Feuer entfachen kann, wenn er auf die richtigen Stellen fällt, und der Donner ist ein tiefes, dumpfes Grollen, das so klingt, als zürne die Erde.

Die Wälder am Fuße des Othrys stehen in Flammen, die Seen sieden, und Kronos' Titanen können uns nicht mehr angreifen. Außerdem schreckt der Donner sie und schränkt ihre Kampflust ein.

Die Zyklopen haben mir auch verraten, was ich tun muss, um die hundertarmigen Riesen herbei zu locken: Sie sind älter als die Zyklopen und stolzer, und sie brauchten ein besonderes Zeichen, dass ihre Anwesenheit nicht nur erwünscht war, sondern auch geschätzt werden würde. Also habe ich eine Zeremonie abhalten lassen, in der sie gesondert angerufen werden, und habe Tische für sie decken lassen, auf denen Nektar und Ambrosia standen – das ist die Nahrung, die Demeter und Hestia zusammen kreierten und die wir seitdem immer zu uns nehmen. Eine göttliche Mahlzeit für Gaias älteste Kinder. Und was soll ich sagen? Es hat funktioniert. Sie sind gekommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie aussehen, Leto, sie sind so groß wie ein Haus und haben tatsächlich hundert Arme, jeder einzelne. Mir hat geschaudert, aber sie haben sich tatsächlich bereit erklärt, uns zu helfen.“

Leto wollte sich für ihn freuen, aber ein tiefer Schmerz schnürte ihr die Luft ab. Dann würden ihre Eltern jetzt also in die Nacht des Tartaros verbannt werden. Sie versuchte ein Lächeln, zeigte aber lediglich eine klägliche Grimasse, und dann begann sie zu weinen.

Zeus verstand sofort. Er legte den Arm um ihre Schulter, hob mit der anderen Hand ihr Gesicht zu sich empor und wischte sanft die Tränen weg.

„Das Beste weißt du noch nicht. Ich habe geschworen, dass ich Kronos und seine Helfer in den Tartaros verbanne, aber ich habe mich viel mit Hades unterhalten in den letzten zehn Jahren. Ihn zieht es immer wieder in das Dunkel unter der Erde hinab, er fühlt sich dort wohler als draußen in der Sonne. Er wird vermutlich derjenige sein, der über das Totenreich herrschen wird, wenn die Zeit gekommen ist, und ich bin froh darüber, denn ehrlich gesagt graust es mir davor. Unter Sonne und Mond, neben dir und begleitet vom Zikadenchor fühle ich mich wohler. Jedenfalls erklärte Hades mir, dass es im Tartaros verschiedene Bereiche gibt. Das normale Totenreich, in dem die Seelen verstorbener Menschen als Schatten durch die dauernde Nacht wandeln, ist nur eines von mehreren. Es gibt auch weit entfernt in der Gegend des Okeanos ein Lichtreich in der ewigen Nacht, die Inseln der Seligen. Sie waren als eine Art Belohnung gedacht für gestorbene Geschöpfe des Prometheus, die sich irgendwie hervor getan und etwas Besseres verdient haben als unendliches Schattendasein.

Du siehst, ich kann meinen Schwur nicht brechen, ich kann nur aussuchen, wohin in den Tartaros die Titanen vom Othrys aus gehen müssen. Aber es wird deinen Eltern gut gehen, die Inseln der Seligen sind wunderschön.“

Leto hatte seiner Erzählung still und mit großen Augen gelauscht, und jetzt warf sie die Arme um seinen Hals.

„Bist du sicher, dass du das kannst? Was werden die anderen sagen?“

Zeus lächelte auf sie herab.

„Das ist mir gleich, Leto. Ich halte meinen Schwur, damit ist alles in Ordnung. Auf welche Art ich das tue, geht niemanden etwas an.“

Leto hatte seit drei Wochen von Zeus nichts gehört. Das war nicht weiter verwunderlich, einmal waren fast zwei Jahre zwischen seinen Besuchen vergangen, aber diesmal war sie beunruhigt. Manchmal spürte man die Erde beben, und am Horizont zogen sich dichte Wolken zusammen. Wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung wehte, brachte er den Geruch nach Asche mit sich.

Der Morgen war heiß, und Leto fühlte sich sehr unbehaglich. Sie hatte gerade das Frühstück zubereitet, aber jetzt, wo es vor ihr stand, wurde ihr übel. Mit einer gemurmelten Entschuldigung stand sie auf und trat vor das Haus, um Atem zu holen. Leider half es gar nichts, die Luft war warm und schien zu wenig Sauerstoff zu enthalten. Nach wenigen Momenten eilte Leto an den Wegrand und erbrach sich in die Büsche.

Das war ihr noch nie passiert, und sie empfand es als sehr widerlich. Als sie sich mit zitternden Knien umdrehte, stand Hekate vor ihr und reichte ihr schweigend einen Krug mit Wasser. Dankbar spülte Leto sich den Mund aus und wusch ihr Gesicht. Als sie sich jedoch anschickte, an dem Mädchen vorbei wieder ins Haus zu gehen, hielt es sie auf.

Leto blickte überrascht auf die Hand an ihrem Ellenbogen; Hekate vermied normalerweise jeglichen Körperkontakt. Diesmal allerdings hielt sie nicht nur den Arm ihrer Tante fest, sondern legte die Fläche der freien Hand auf ihren Bauch. Leto wollte fragen, was da vor sich ging, als sie aber den Gesichtsausdruck ihrer Nichte sah, wagte sie es nicht. Hekate hatte die Augen zwar geöffnet, doch ihre Pupillen waren immens geweitet, sodass sie in der gleißenden Morgensonne bestimmt fast blind war. Sie starrte jedoch sowieso ins Leere und schien einer Stimme zu lauschen, die nur für sie hörbar war. Schließlich öffnete sich ihr Mund, und mit monotoner Stimme prophezeite sie: „Deine Kinder werden alle anderen Götterkinder der neuen Herrschaft in den Schatten stellen, wenn sie leben. Hüte dich vor Neid. Nicht die ganze Erde kann dich hassen.“

Dann begannen ihre Lider zu flattern, ihre Hände erschlafften, und langsam sank sie zu Boden. Leto rief erschrocken Asteria zu Hilfe, antwortete aber nicht auf ihre aufgebrachten Fragen, als sie gemeinsam das Mädchen ins Haus trugen.

Ihre Kinder?

Statt Zeus kam einige Zeit später wiederum Hekate zu Leto.

„Du fragst dich, warum er nicht kommt, nicht wahr?“

Ihre Tante schaute aus brennenden Augen zu ihr auf.

„Ja. Er war sich so sicher, dass der Krieg bald vorbei sein müsste.“

Hekate setzte sich neben sie.

„Der Krieg ist vorbei. Es tobt bereits ein neuer.“

Leto wich alles Blut aus dem Gesicht.

„Wie bitte?“

Hekate nickte.

„Als die Riesen eingriffen, ging alles ziemlich schnell. Zeus hatte mit seinen Blitzen die Titanen auf ihrem Berg festgehalten, und die Riesen griffen mit allen ihren hundert Armen nach Felsstücken vom Fuße des Othrys. Sie warfen sie zwar nach ihr Gegnern, aber das wirklich Entscheidende war wohl, dass sie damit langsam, aber sicher unter ihnen den Weg zum Tartaros freilegten. Als jedenfalls die Verbindung zwischen Ober- und Unterwelt geschaffen war, war es für Zeus ein Leichtes, Kronos und die anderen mit seinen Blitzen hinein zu treiben. Dann winkte er Hades zu sich heran, und gemeinsam folgten sie den Besiegten, um erst Stunden später zurück zu kehren. Seine übrigen Geschwister waren schon völlig verstört, weil sie nicht wussten, warum er verschwunden war und ob er zurückkommen würde, zumal auch Hades beim Fortgehen durch eine ratlose Geste angezeigt hatte, dass auch er nicht wisse, wohin er seinen Bruder begleiten solle. Ohne seinen Mitstreitern jedoch zu erzählen, was er getan hatte, griff Zeus wieder zu seinen Blitzen und wandte sich gegen die Zyklopen und die Riesen, die er ebenfalls wieder in den Tartaros trieb.“

Letogab einen erschrockenen Laut von sich.

„Er hat was getan? Warum? Das ist Verrat!“

Ihre Nichte bedachte sie mit einem knappen Seitenblick. „Exakt. Allerdings abgesprochener Verrat, wie es aussieht. Als die Erde sie alle aufgenommen hatte, ließ er sich zu einer Erklärung herab, die diesen Verdacht nahe legt.

Die Riesen und Zyklopen habe er, wie sie sich ja einig gewesen seien, wieder in den Tartaros gebannt, weil es viel zu gefährlich sei, sie, die jetzt ihre Macht hatten erproben können, frei herum laufen zu lassen. Kronos und die anderen habe er zu den Inseln der Seligen geleitet, schließlich handele es sich bei ihnen nicht nur um den Feind, sondern auch um das vorangegangene Göttergeschlecht, und man könne ihnen eine geruhsame Ewigkeit durchaus gönnen.

Seine Geschwister waren empört, schließlich waren sie bei dieser letzten Entscheidung nicht zu Rate gezogen worden. Hera äußerte sich in dieser Richtung und wurde von Zeus scharf darauf hingewiesen, dass sie nicht die Anführerin sei. Das war für ihn vielleicht der gefährlichste Moment im ganzen Krieg, aber bevor die Situation zwischen den Gewinnern auf dem Olymp eskalieren konnte, eskalierte sie anderswo.

Gaia selbst griff ein, zutiefst erzürnt über das Unrecht, das der neue junge Gott ihren Kindern angetan hatte: Sie auszunutzen und dann wieder einzukerkern. Im Tal zwischen Othrys und Olympos brach die Erde auf, und riesige Wesen mit feuerlodernden Augen und Drachenfüßen strömten daraus hervor, um sofort anzugreifen. Bis heute haben die jungen Götter nicht herausgefunden, was sie aufhalten kann. Man munkelt, Gaia habe einige letzte Blutstropfen von Uranos aufbewahrt, von denselben – du erinnerst dich – aus denen Aphrodite entstanden ist. Die soll sie verwendet haben, um diese Monster, die Giganten, zu erschaffen. Selbst Zeus' Blitze richten nichts gegen sie aus, denn jedes Mal, wenn sie getroffen zu Boden stürzen, gibt ihnen die Berührung mit ihrer Mutter neue Kraft. Zeus hat einen tödlichen Fehler begangen, Leto. Tut mir leid.“

In Hekates Augen stand mehr ehrliches Mitgefühl, als es Leto je zuvor bei dem distanzierten Mädchen gesehen hatte. Allerdings half ihr das gerade auch nicht weiter. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch und flüsterte: „Was wird geschehen, Hekate? Wird er auch diesen Kampf gewinnen?“

Ihre Nichte runzelte konzentriert die Brauen, zuckte dann aber die Achseln.

„Ich weiß es nicht. Es kommt selten vor, aber die Zukunft scheint offen. Wenn er gewinnt, kommt er vermutlich her. Aber ich weiß nicht, ob du dir das wünschen solltest.“

Leto hatte das Gefühl, als habe ihr jemand in den Magen geschlagen.

„Warum? Was weißt du?“

Hekate seufzte.

„Nichts. Ich habe einfach ein ungutes Gefühl. Irgendetwas läuft schrecklich falsch.“

Leto sah sie aus angstvollen Augen zu ihr herüber. „Wenn du etwas herausfindest, sagst du mir Bescheid, oder?“

Hekate legte für einen Moment ihre kleine Hand auf die ihrer Tante.

„Natürlich.“

Aber es war nicht Hekate, die ihr die Neuigkeiten überbrachte.

Leto und Niobe

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